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Eden
Die Straße liegt einsam und verlassen in der kleinen Stadt. Das Wetter ist trübe, die Wolken hängen tief. Häuser säumen den Straßenrand. Es sind Einfamilienhäuser, sauber und gepflegt. Am Ende steht ein besonderes Haus. Es ist nicht größer als die anderen, im Gegenteil: Es wirkt klein und gedrungen. Der Garten ist ungepflegt und das Unkraut wuchert. Im Haus scheint alles auf den ersten Blick sauber und ordentlich. Doch wenn man genau hinschaut, sieht man auf den Möbeln Staub. Es ist still und alles macht den Eindruck, als wäre das Haus in Eile verlassen worden, ohne dass der Bewohner wiedergekommen wäre. Wenn man die Treppe in den ersten Stock hinaufgeht, gelangt man in das Schlafzimmer. Das Fenster steht offen und der kalte, nasse Wind lässt die Gardinen wehen. Das Zimmer ist klein und spartanisch eingerichtet. Ein Schrank, ein Nachttisch mit Lampe, ein Bett. Das ist alles. Auf dem Bett liegt ein Mensch: ich. Ich liege in meinem Bett und bin doch schon so lange tot...
Ich stehe in einem leeren, dunklen Raum. Er muss groß sein, denn Wände sind nirgends zu entdecken. Ich spüre eine andere Person neben mir. Ein Blick zur Seite zeigt mir ein Engelsgesicht. Die stahlblauen Augen liegen in einem schmal geschnittenen Gesicht von zeitloser Schönheit und die goldenen, langen Lockenhaare lassen mein Herz vor Ehrfurcht still stehen. Es ist ein wahrhaft überirdisches Wesen, ohne Geschlecht und Schuld. Nie habe ich ein solches Wesen gesehen und mein Atem stockt. Sowie ich in das Engelsgesicht schaue, sehe ich eine wunderschöne, junge Frau von höchstens zwanzig Jahren und gleichzeitig das Gesicht eines jungen, schmächtigen Knaben. Der Engel lächelt mich an und ein Licht erscheint irgendwo in der Dunkelheit. Der Engel wendet sich zum Licht und ich folge ihm.
Nun stehe ich auf einer Wiese. Das Wetter ist herrlich, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Blauer Himmel, keine Wolken. Auf der Wiese blühen lauter Blumen in unterschiedlichsten Farben und Größen. Ein bunter Schmetterling flattert um mein Gesicht herum und ein glockenhelles Lachen ertönt; auch dieser Klang ist zeit- und geschlechtslos. Ich sehe das Gesicht des Engels und mein Herz hat sich mit dem Gefühl von Frieden und Ruhe vollgesogen. Um mich herum sind viele andere Menschen, große und kleine, junge und alte, Frauen und Männer. Die Luft ist erfüllt mit Fröhlichkeit. Die Geschöpfe Gottes spielen mit den Menschen, tanzen und lachen. Ich schaue zu dem Engel, der mich hierhergeführt hat und wieder ertönt diese glockenhelle Stimme, voller Glück. Dieses zeitlose Wesen kommt mit offenen Armen auf mich zu. Ein tiefes Gefühl der Glückseligkeit ergreift mich, ich tanze ausgelassen, beschwingt und voller Frieden über diese herrlich grüne Wiese mit ihren bunten Blumen. Ich vergesse alles um mich herum, ich sehe nur noch die stahlblauen Augen und die goldenen Haare. Mein Engel breitet seine großen, schneeweißen Flügel aus und er trägt mich in den Himmel empor. Wir fliegen kreisend in der warmen Sommerluft und höher und tiefer, es ist so wunderschön. Wir landen und ich wälze mich lachend in dem frischen Gras. Die Erde ist kühl und feucht, ich bin so glücklich wie noch nie in meinem Leben. Irgendwann blicke ich in den blauen Himmel und sehe wieder das Engelsgesicht, wie es mit einem warmen Lächeln zu mir herabschaut...
Die Zeit vergeht in der Ewigkeit und irgendwann ist alles anders. Eine Stimme in mir meldet sich, leise und ehrlich.
“Das ist alles eine Illusion ... nie mehr wirst Du in die Realität zurückfinden, wenn Du nicht fort läufst! Lauf, Verlorener, lauf.”
Ich ignoriere die Stimme, doch sie wird immer lauter und durchdringender, bis mir endlich die Wahrheit bewusst wird. Ich laufe zu all den anderen Menschen und versuche ihnen klar zu machen, dass sie gefangen sind. Doch sie schauen mich nur an und lachen und tanzen und spielen mit den Engeln.
Verzweifelt bleibe ich stehen. Die Stimme wird unerträglich laut und schreit: “Lauf weg!”
Ich halte mir die Ohren zu und doch höre ich die Stimme. Sie ist tief in meinem Kopf und sie macht mich wahnsinnig, so wahnsinnig! Am Horizont ziehen dunkle Wolken herauf und ich möchte nur noch fort...
... Es ist so lange her, seit ich leben durfte!