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Ein Augenblick gebannt auf Zelloloid
Die Sonne schob sich hinter einer dicken Wolkendecke hervor und warf blendende Strahlen auf die Fassade eines First Class Hotels. Touristen stauten sich vor dem gläsernen Aufzug, der an bunten Fischen vorbei in das Obergeschoß fuhr. Friederike, eine blonde, hochgewachsene Frau drängte sich an einer Gruppe fotografierender Japaner vorbei zur Bar. Erleichtert stellte sie ihre schwere Kameratasche ab und setzte sich an einen Tisch nahe dem Fenster. Während sie genüsslich ihren Irish Coffee durch den Strohhalm zog, und die vorbeiflanierenden Touristen beobachtete, deren Fotoapparate 'schussbereit' um den Hals hingen, überlegte sie, wie endgültig und vernichtend so eine Bannung auf Zelluloid doch war. Eine Handlung des Augenblicks, wie sie manchmal nicht unpassender sein konnte, wird ewig für die Nachwelt festgehalten.
Ein ganz bestimmtes Foto tauchte vor ihr auf: Lukas war darauf zu sehen, amüsiert lauschte er der Laudatio einer Ausstellungseröffnung. Er war nicht alleine auf dem Bild: An ihn geschmiegt stand eine sehr große, magere Frau in einem weißen Overall, deren Wespentaille ein enger, roter Gürtel zierte. Ihr Haar war tiefschwarz. Zwei vorwitzige Locken hatten sich aus dem Zopf gelöst und flatterten im Wind. Zu gerne hätte sie diese Person einmal von vorne gesehen.
Lukas hatte vor ihrer gemeinsamen Zeit in Berlin ein paar mehr oder weniger enge Beziehungen gehabt, aber es war nichts dabei gewesen, das Friederikes Eifersucht hätte erregen können.
Das mit der schwarzhaarigen Frau auf dem Foto war etwas ganz Anderes. Ulla hieß sie. Lukas hatte sie damals in einer Münchner Diskothek kennen gelernt und sich buchstäblich vom ersten Augenblick an in sie verliebt. Es hätte alles so schön sein können, aber Ulla war krankhaft eifersüchtig. Sie genehmigte Lukas zwar Freiräume, duldete diese letztendlich doch nicht so ganz. Ihr Misstrauen machte sie bösartig. Sie traf mit ihm Verabredungen, die sie dann in letzter Minute absagte. Manchmal versetzte sie ihn auch ohne Vorwarnung und er stand vor ihrer verschlossenen Wohnungstür. Zermürbt von Ullas 'Katz- und Mausspiel' kündigte Lukas den Job, packte seine Koffer und zog nach Berlin. Er traf Friederike auf einer Party und versuchte mit dieser attraktiven und quirligen Journalistin seinen Liebeskummer zu vergessen.
Friederike bezahlte ihr Getränk, rückte energisch ihren Kaffeehausstuhl an den Tisch, und schaute auf die Armbanduhr. Es war kurz vor drei Uhr. Um vier Uhr sollte Ullas Sohn in Berlin-Spandau ankommen, um zusammen mit Lukas ein paar schöne Herbstferientage verbringen. Friederike glaubte nicht seinen Beteuerungen: "Du Rike, ich tu das alles nur wegen dem Kleinen. Der vermisst mich, ich war immerhin so eine Art Vater für ihn gewesen. Mit Ulla hab ich ansonsten kaum noch Kontakt."
Selbstverständlich wird Ulla ihren kleinen Sohn nicht alleine in den Zug nach Berlin setzen und Lukas würde sich bestimmt über den Besuch seiner Ex-Partnerin freuen.
Friederike setzte eine dunkle Sonnenbrille auf und ließ ihr langes Blondhaar unter einem großen Seidentuch verschwinden, das sie im 50-Jahre-Hollywood-Stil knotete. Kritisch beäugte sie sich vor einer spiegelnden Schaufensterscheibe, und hoffte sehnlichst, dass Lukas sie in dieser Verkleidung nicht erkennen würde.
Die S-Bahn war schmuddelig und ungemütlich. Friederike hasste es, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Leider parkte ihr Auto auf seinem Garagenplatz daheim in Ruhleben. Es zu holen wäre für sie zu umständlich gewesen. Letztendlich hätte sie dann Ullas Ankunft in Spandau versäumt.
Die Bahn überquerte die Havel und das "Lindenufer". Friederike schaute auf ihre Uhr. Die Zeit wurde knapp. So schnell sie mit ihren hohen Absätzen konnte, rannte sie durch die Unterführung und stieg dann, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Ihr Herz raste und vom schnellen Laufen hatte sie Seitenstechen. Die Eile hatte sich gelohnt, sie kam gerade rechtzeitig an, als der IC aus München quietschend in den Bahnhof einfuhr. Vorsichtig spähte sie nach Lukas. Ihre Erleichterung war groß, als sie ihn nirgends erblickte. "Vielleicht wartet er im Auto vor dem Bahnhof", überlegte sie.
Nun hieß es, auf eine schwarzhaarige Frau zu achten, die zusammen mit einem kleinen Buben von acht oder neun Jahren aus dem Zug stieg. Oh ja, die da vorne könnte es sein! Sie war groß und sehr dünn. Ihre hautengen Jeans zeichneten die Kontur ihrer langen, etwas o-förmigen Beine ab. Die schwarzen Locken trug sie am Hinterkopf zusammengefasst, locker fielen sie ihr weit über ihre schmalen Schultern.
"Annika, Elisa, kommt ihr bitte her, wir müssen Omi suchen!" rief sie mit lauter Stimme. Nein, Irrtum! Schließlich war sie Mutter eines Sohnes und nicht von zwei Töchtern. Nervös ließ Friederike ihre Augen über die Leute schweifen, die mit Taschen und Rollkoffern bepackt, an ihr vorbeihasteten.
"Irgendwo muss sie doch sein!", dachte sie, als die letzten Reisenden die Plattform verließen.
Warum hatte sie diese Frau übersehen? Am Bahnsteigende ging eine hochgewachsene, schwarzhaarige Frau, einen kleinen Jungen hinter sich herzerrend Richtung U-Bahn-Station. Als sie näher kam stellte sie fest, diese Frau sieht genau so aus, wie die Frau auf dem Foto. Die schwarzen Haare trug sie zu einem langen Zopf geflochten, der ihr fast bis auf die Hüfte hing. Anstatt eines Overalls war sie diesmal mit einem Trench bekleidet, dessen enggezogener Gürtel ihre schmale Taille betonte.
"Warum müssen Männer immer auf so ein klischeehaftes Frauenbild abfahren", dachte Friederike. Unsanft rempelte sie die Frau beim Vorbeigehen an. Ein wütender Blick aus dunklen Augen und ein paar boshafte türkische Worte wurden ihr entgegengeschleudert.
"Entschuldigung", stammelte Friederike. Wie peinlich, diese Frau war mit Sicherheit nicht Ulla.
Enttäuscht beschloss Friederike nach Hause zu fahren.
Ein Schreck durchzuckte sie. In der Eile hatte sie ihre Kameratasche auf dem Bahnsteig stehen lassen! Hastig eilte sie zurück zur Plattform.
Ein kleiner Junge stand allein und verlassen da. Etwas großes, Graues lag vor ihm – die Kameratasche! Erleichtert rannte Friederike auf ihn zu.
"Hallo Kleiner!", rief sie außer Atem. "Danke, dass du auf meine Tasche aufgepasst hast, die hab ich nämlich vergessen. Wartest du auf deine Eltern?"
"Onkel Lukas wollte mich abholen", antwortete er. "Aber der hat mir vorher eine SMS geschickt, er sei noch in einer Besprechung. Wissen Sie, wie man am schnellsten zum Kolkrabenweg in der Spandauer Altstadt kommt? Ich bin übrigens der Kevin. "