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Ein Geheimnis
„Marvin, wollen wir wetten, dass ich mehr Pilze finde als du?“, fragte Felix seinem kleinen Bruder und sah ihn dabei herausfordernd an. „Ich wette nicht mit dir!“, sagte Marvin etwas kleinlaut und sah neugierig Felix an. Es dauerte einen Augenblick bis Felix die List erkannte. Er lachte und knuffte Marvin sanft in die Seite, der kicherte und lief weg, nicht ohne zu rufen: „Felix, du fängst mich nicht, wetten?“
Katrin, die Mutter der Jungen, rief den Beiden nach: „Wartet mal!“ Die Jungen huschten an der Küchentür vorbei, aber kurz danach tauchten zwei Blondschöpfe wieder an der Tür auf. Sie sahen neugierig zu ihrer Mutter und die sagte: „Wir wollen Pilze sammeln, dass ist kein Wettkampf, keine olympische Disziplin, nur ein Nachmittag in der Natur.“ Die Jungen nickten verständig und der Mutter tat es fast leid, dass sie den kleinen Wettkampf abwürgte, bevor er begann. Sie sagte fast entschuldigend: „Es gibt Maulwurfskuchen, den esst ihr doch gern?“ Felix nickte und Marvin sagte: „Ich esse zwei Stücke!“ Felix sagte: „Ich esse drei Stücke“ Marvin sagte: „Ich zehn Stücke“ Katrin unterbrach sie lachend und sagte: „Los, holt eure Jacken, wir wollen bald los. Wer trägt mir den Picknickkorb ins Auto?“ Die Jungen verließen fluchtartig die Küche.
Katrin hatte für die Jungen zwei kleine fast gleichgroße Weidenkörbchen ausgesucht. Sie trug sie zum Auto und legte sie in den Kofferraum. Für Marvin hatte sie ein kleines Küchenmesser in das eine Körbchen gelegt. Felix bekam kein Küchenmesser, denn er hatte natürlich sein Taschenmesser dabei. Dieses Taschenmesser war in den letzten Monaten sein liebster Zeitvertreib geworden. Die große Klinge schärfte er mit einem kleinen Schleifstein täglich nach.
Felix saß dann an seinem Schreibtisch und nahm den alten Abziehstein aus einer Plastikdose und beträufelte ihn mit einer geheimnisvollen Tinktur. Die Tinktur bewahrte er in einem kleinen Pipettenfläschchen auf. Er verschraubte das Fläschchen wieder sorgfältig, dann zog er die Klinge mit sanften, nahezu zärtlichen Bewegungen ab. Nach einiger Zeit legte er den Abziehstein in die Schachtel zurück und stellte die Schachtel und das Arzneifläschchen, mit der geheimnisvollen Tinktur, zurück ins Bücherregal. Er nahm ein Papiertaschentuch und wischte die Klinge sorgfältig ab. Lange betrachtete er die Qualität seiner Arbeit. Dazu hielt er das Messer unter seine Schreibtischlampe und kontrollierte lange die Schneide, dann klappte er das Messer zusammen. Zurück blieb ein strenger Geruch nach Maschinenöl und Petroleum. Felix liebte diesen Geruch, er verband mit ihm die Schärfe und Qualität der Messerklinge.
Robert öffnete die Fahrertür und sah zu Katrin. Marvin kletterte auf seinen Sitz und guckte böse zu Felix, weil der ihn schon einige Male an diesem Morgen geknufft hatte. Robert stieg als letzter ins Auto und sah kurz zu den Jungen auf der Rückbank. Er fuhr das Auto langsam aus der Siedlung und Felix blickte zu Marvin, der verträumt aus dem Fenster sah.
„Aua, bist du doof?“, kreischte Marvin seinen großen Bruder an und rieb sich seinen Arm. Felix sah Marvin überrascht an und fragte scheinheilig: „Was hast du denn?“
Marvin jaulte: „Mama, der boxt mich.“
Der beginnende Streit wurde von einem bösen Blick des Vaters in den Rückspiegel beendet. Die Jungen saßen nun schweigend auf der Rückbank und jeder sah aus seinem Seitenfenster. Robert sah kurz zu Katrin und verdrehte die Augen. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie einen kleinen Parkplatz am Waldrand. Marvin stieg aus und lief zum Kofferraum, um sein Pilzkörbchen zu bekommen, aber er wurde von Felix geschubst und fiel fast hin. Marvin knurrte Felix an, doch der sah ihn lächelnd an, als sei nichts geschehen. Marvin mag Felix gern und bewundert seinen großen Bruder sogar, aber heute ist so ein Tag, an dem sich Felix zur Plage entwickeln wird.
Marvin nahm sich vor, etwas Abstand zu Felix zu halten. Katrin nahm einen Korb mit Snacks und Getränken, Robert einen Pilzkorb. Er lächelte Katrin an und sie tauschten die Körbe. Felix sagte zu Marvin: „Du verlierst sowieso.“ Katrin streichelte Marvin übers Haar und tätschelte sanft seine Wange und sagte: „Sei vorsichtig mit dem Messer und viel Spaß.“ Der Kleine nickte und sie ließ ihn gehen, dann rief sie Felix zu sich und sagte mit drohendem Zeigefinger: „Es reicht für heute, mein lieber Freund.“ Felix nickte und ging beleidigt hinter Marvin her.
Dieses mein-lieber-Freund-Gerede war das Zeichen höchsten Zorns seiner Mutter und Felix wollte nicht, dass sie böse auf ihn war und so trottete er den Waldweg entlang. Ab und an sah er ein paar Fliegenpilze am Waldrand stehen. Die Fliegenpilze waren interessant und schön, genau wie die beiden Wildkaninchen, die an der dicken Kiefer saßen und scheu zu Felix sahen. Der Junge liebt die Natur und fuhr gerne mit dem Fahrrad in den nahen Wald. Dieser Ausflug versprach schön zu werden und Felix würde den Wettstreit gewinnen und die meisten Pilze finden. Aber so sehr sich Felix auch bemühte, er fand einfachen keinen Speisepilz, es war wie verhext.
Marvin fand eine schöne Marone und kniete sich hin. Er schnitt den Pilz sorgsam ab und betrachtet ihn genau, er war nicht madig und auch noch jung und fest. Er hatte ihn kaum in das Körbchen gelegt, als er schon den nächsten Pilz sah, auch dieser war von einer hervorragenden Qualität. Als Marvin wieder aufstand, war der Boden des Körbchens mit Pilzen bedeckt, und er sah, dass Felix nicht weit von ihm stand und einen großen alten Steinpilz absäbelte. Felix war nie so gewissenhaft wie Marvin, immer war alles für ihn eine Art Kampf. Marvin machte dieser dauerhafte Konkurrenzkampf einfach keinen Spaß mehr.
Marvin fasste allen Mut zusammen und ging zu Felix und sagte: „Felix, lass uns aufhören zu streiten.“ Felix sah Marvin an und seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Marvin gefiel das gar nicht, denn Felix wurde nun unausstehlich. „Los, mach, dass du wegkommst, du Rotznase!“, rief Felix so laut, dass Katrin aufsah. Felix ging rasch tiefer in den Wald und ließ Marvin einfach stehen. Der war traurig und sammelte weiter Pilze. Es dauerte keine Stunde und sein Körbchen war bis zum Rand voll kleiner Maronen und Steinpilze. Marvin freute sich über sein Pilz-finde-Glück und sah sich nach seinen Eltern um. Die liefen unterhalb des Hügels zu den großen Steinen, dies war der übliche Platz für ein kleines Picknick. Seine Mutter breitete die Decke aus und verteilte darauf die Sachen für das kleine Picknick.
Felix sah, wie Marvin zu den Steinen lief und es entging ihm nicht, dass Marvin einen vollen Korb hatte. Er schnitt seinem Bruder den Weg ab. Marvin schluckte, als Felix genau vor ihm stand und wollte rasch an dem einen Kopf größeren Jungen vorbei.
„Na, willst du dich wieder bei Mami einschleimen?“, fragte Felix.
Marvin zuckte zusammen, denn Felix klang ungewohnt aggressiv. Er schnitzte an einem dicken Ast und Marvin wollte an Felix vorbei, doch der hielt die Spitze des Astes an Marvin Bauch und sagte: „Ich könnte dich wie ein Spanferkel aufspießen!“ Marvin nahm den Ast und drückte ihn ruckartig weg, dabei stieß er ihn Felix unabsichtlich in den Bauch. Der keuchte nach Luft und ging in die Knie. Marvin sah wie das Taschenmesser auf den Waldboden fiel und Felix mit den Tränen kämpfte. Beide Jungen wussten genau, dass dies ein Unfall war und Felix genauso viel Schuld trug wie Marvin. Doch Felix begann zittern. Seine Wut wurde stärker und stärker und seine Fäuste ballten sich. Der Vierzehnjährige war sonst nicht aggressiv und schlug sich nie in der Schule, aber jetzt schäumte die Wut auf seinen zwölfjährigen Bruder über.
Wilde Gedanken blitzten in Felix’ Verstand auf: „Marvin hatte angefangen! Es ist Notwehr! Marvin bekommt eins aufs Maul! Der Zwerg ist dran! Er wird nach Mama schreien, dieses Mamasöhnchen.“
Marvin stellte sein Pilzkörbchen erschrocken ab und lief zu seinem Bruder und jammerte: „Es tut mir leid, ich wollte das nicht, bitte sei mir nicht böse.“
Marvin taumelte zurück. Der Schmerz explodierte regelrecht in seinem Gesicht. In der Schule vermied er jegliche Rauferei und drohte zur Not mit Felix. Wenn Marvins Nase nicht so furchtbar schmerzen würde, könnte es ein böser Traum sein, aber es war Realität, blutige Realität, im wahrsten Sinne des Wortes. Alles hatte nur Bruchteile einer Sekunde gedauert und hörte sich eher wie ein sanftes Klatschen an.
Felix stand schnaufend vor Marvin. Blut quoll aus dem Mund und der Nase des zwölfjährigen Marvin und sammelte sich mit Speichel am Kinn und lief auf das helle Sweatshirt und die neue Jacke.
Dann krachte der nächste Schlag in Marvin Gesicht, der Junge taumelte zurück.
Felix weinte und schrie hysterisch: „Immer nur du, nur dich haben sie lieb!“ Felix wischte sich die Tränen ab. Seine Wut brannte unersättlich, er erlebte einen Blutrausch. Aber er brachte es nicht übers Herz nochmals auf Marvin einzuschlagen und so trat er gegen dessen Pilzkörbchen. Es regnete augenblicklich Maronen und Steinpilze. Marvin sank auf die Knie und hielt verängstigt beide Arme über den Kopf. Er wimmerte: „Felix, bitte nicht, hör auf!“
Katrin schrie auf und Felix boxte mit ganzer Kraft gegen einen Kiefernstamm und er taumelte zurück, Schmerz explodierte in seiner Hand und die Wut wich der Verzweiflung. Er sank auf den Waldboden ins Moos und weinte bitterlich. Was hatte er nur getan? Er sah auf Marvin, der noch immer blutend und wimmernd, ein paar Meter vor ihm hockte, und dann blickte er auf seine Hand, die schrecklich schmerzte.
„Marvin, oh mein Gott!“, schrie Katrin und kniete sich zu dem Kleinen, als sie die Kampfstätte erreichte. Sie tupfte vorsichtig das Blut von Marvins Nase und half dem weinenden Jungen auf die Beine. Felix blickte weinend auf und sah, wie Mama und Marvin zum Picknickplatz gingen.
Robert war über das Geschehen entsetzt und ging sehr wütend zu Felix. Zum ersten Mal hatte er Angst, dass er Felix den Hintern versohlen würde. Robert erreichte Felix, der weinend im Moos lag. Er sah sich um und sagte dann mürrisch: „Sammle die Pilze von Marvin auf und komm zu uns, wenn du ausgeflennt hast. Über das Ganze reden wir noch, mein Freund!“
Robert lief wieder zurück und war ganz froh, dass er Felix nicht geschlagen hatte und seine Wut auf den Jungen wich nun wieder der Sorge um Marvin.
Als Robert zu Katrin und Marvin zurückkehrte sah er sich kurz zu Felix um, dann sagte er: „Den Hintern sollte man ihm versohlen, aber ganz gewaltig!“ Marvin gefiel der Gedanke gut und es wäre ihm eine Genugtuung, zu beobachten, wie Papa Felix den Hintern versohlen würde, doch augenblicklich befiel ihn Furcht, es könnte sein, dass ihn eines Tages Papa auch schlagen würde. Der ungute Gedanke bohrte sich förmlich in seinen Verstand.
Marvin kuschelte sich enger an seine Mutti. Katrin sagte: „Sag mal Robert, geht’s noch?“ Robert und Katrins Blicke trafen sich kurz. Marvin saß auf dem Schoß seiner Mutter und hielt immer noch ein Papiertaschentuch an seine Nase, obwohl sie längst aufgehört hatte zu bluten. Er genoss einfach den Moment der Zuneigung und Aufmerksamkeit. Robert trank einen Becher Kaffee und sah aus der Ferne zu, wie Felix die Pilze auflas. Felix sah auf seine rechte Hand und die Knöchel waren voller Blut und Hautfetzen. Er genoss den Schmerz, denn er erleichterte es ihm etwas, dass er Marvin so gemein verprügelt hatte. Immer, wenn der Gedanke an das Geschehen hochkam, kullerten Tränen über seine Wangen. Es war einfach unfair, der Kleine bekam alles, selbst jetzt. Felix fühlte sich, als läge er am Boden und es würde nur eine Frage der Zeit sein, wenn er den nächsten Tritt bekam. Alle hassten ihn und jetzt noch mehr als je zuvor. Felix fühlte sich einsam und nutzlos, wie das berühmte fünfte Rad am Wagen.
Er ging mit dem Pilzkorb zum Picknickplatz und stellte ihn vor seiner Mutter und Marvin ab und sah beide an. Seine Mutter sah auf Marvin und der wand sich auch ab. Felix schluckte und sagte leise: „Es tut mir leid, Marvin!“
„Hau ab, du Schwein, wir hassen dich!“, brüllte Marvin. Doch seine Mutter sagte leise: „Sei still Marvin.“ Sie sah zu Felix und sagte: „Nimm dir etwas Kuchen, deine Strafe bekommst du zu Hause.“ Felix wurde der Hals trocken und die Knien weich. Er nahm keinen Kuchen und lief weit weg und setzte sich hinter eine Gruppe Steine und sah in den Wald, er wollte allein sein. Er begann mit seinem Taschenmesser zu spielen. Die große Klinge war scharf wie ein Rasiermesser. Er zog wie in Trance den Jackenärmel hoch und setzte das Messer auf die weiße Haut seines Unterarms. Er biss sich sanft auf die Lippe und zog die Klinge unter einem sanften Druck über die weiche Haut. Es war nur ein kleine Schnitt, ein kleines Ritzen.
Er nahm das Messer weg und schloss die Augen. Ein warmes Glücksgefühl durchströmte ihn und verlor sich wieder. Seine Gewissensbisse waren nun stärker als jemals zuvor. Er schob den Ärmel über das schon gerinnende Blut. Wieder kullerten Tränen über seine Wangen, jetzt würde ihn niemand mehr lieb haben.
Felix klappte das Messer zusammen und steckte es in die Jacke. Der Ärmel verdeckte nun die kleine Wunde auf dem Unterarm und doch wusste Felix davon und es gefiel im jetzt, dass keiner etwas von der Sache wusste.
Er lief zurück zur Picknickstelle und traf ein, als alles schon wieder verpackt war.
„Mutti, es tut mir so leid“, sagte er, aber sie sah ihn nur traurig an und ging mit Marvin an der Hand zum Auto. Robert verstaute schon die Pilze und die Lebensmittel im Kofferraum.
Die Rückfahrt erfolgte mit einem frostigen Schweigen. Felix legte seine Hand auf die von Marvin, doch der schob sie ruppig weg.
Als sie zu Hause ankamen, packte Felix das Auto aus und seine Eltern und Marvin gingen ins Haus. Felix sagte in der Küche leise: „Mama, es tut mir wirklich leid. Ich wollte Marvin nicht hauen.“
„Hauen? Du hast deinen Bruder brutal verprügelt, glaubst du, wir lassen das einfach mit einer Entschuldigung durchgehen?“ Felix sah seine Mutter erschrocken an, doch sie wurde ruhiger und sagte leiser: „Geh’ bitte ins Kinderzimmer.“
Marvin lag auf seinem Bett und starrte zur Decke. Felix setzte sich zu ihm und sagte leise, ohne ihn anzugucken: „Die hassen mich sowieso, vielleicht schlagen sie mich sogar.“
„Hoffentlich kann ich zugucken“, sagte Marvin boshaft. Felix stand auf und sagte: „Du kleines Miststück.“ Die Hoffnung auf den Anblick war für Marvin ein schöner Gedanke, doch taten ihre Eltern so etwas nicht. Marvin war trotzdem gespannt auf Felix’ Bestrafung, es würde seinen Rachedurst etwas stillen.
Felix ging ins Bad und setzte sich auf die geschlossene Toilette. Er zog die Jacke aus und öffnete wieder das Messer. Er betrachtet seinen Unterarm und fand den Anblick des geronnenen Bluts interessant und setzte nun die Klinge wenige Millimeter über den frischen Schnitt an. Er zuckte zusammen, als er leicht durch die Haut ritzte. Marvin öffnete die Tür und sah seinen Bruder an. Felix kullerten Tränen die Wange entlang und ein dicker Klecks Blut war am Unterarm, über zahllosen Narben, zu sehen. Felix sah Marvin erschrocken an, doch der schloss die Tür von innen und sah Felix verwundert und überrascht zugleich an. Es dauerte nur wenige Sekunden und dem Erschrecken in Marvins Blick wich die Gier nach Rache.
„Mist!“, zischte Felix. Es war zu spät, Marvin rannte jaulend wie eine Feuerwehrsirene zu Mutti. Felix spielte noch einen Augenblick mit dem Gedanken, die Tür abzuschließen, als er den Schlüssel im Schloss betrachtete. Felix zog sie aber schließlich nur ins Schloss, er war heute einfach zu unkonzentriert gewesen, immer schloss er ab und ausgerechnet heute vergaß er es. Wenig später klopfte es leise an die Tür. „Felix, darf ich reinkommen?“, fragte seine Mutter vorsichtig. Felix wollte etwas sagen, als er seinen Vater hörte, der riss die Tür auf und sah auf Felix. Es fiel kein Wort, sein Vater nahm das Taschenmesser und warf es in den Abfalleimer und seine Hand schloss sich fest um das Handgelenk seines Sohnes. Auf dem Weg zum Kinderzimmer fielen die ersten Schläge auf Felix Hintern und auch Marvin sah noch genug davon im Zimmer, bis Katrin wieder die Fassung gewann. Sie lief Robert nach und hielt im Zimmer der Jungen inne. Die Szene wirkte unreal, denn Robert war der geduldigste Vater und Ehemann, den es geben konnte und doch stand er im Zimmer seiner Söhne und schlug Felix, vor seinem Bruder, auf den Hintern. Das war nicht Robert, das war nicht Felix, das war Wahnsinn. Ihre Worte mussten Roberts Verstand erreicht haben und Roberts Verstand schien wieder einzusetzen, denn die Hand blieb in der Luft hängen und er ließ Felix los, der alles mit stoischer Ruhe, und ohne Schreien oder Gegenwehr hingenommen hatte. Felix starrte die ganze Zeit nur Marvin an. Robert verließ das Zimmer und warf die Tür krachend zu.
Katrin wollte Felix trösten, aber der setzte sich traurig auf den Bettrand und wich der Hand seiner Mutter aus, die ihm nur durchs Haar wuscheln wollte. Sie ging ins Bad und kam mit Pflaster zurück. Marvin hatte seinen Teddy eng umschlungen und beobachtete seinen Bruder und seine Mutter genau. Marvin hatte es sich anders vorgestellt, er wollte lachen, als Felix verhauen wurde, aber in der Realität war es ganz anders. Marvin konnte den Blick nicht vergessen, mit dem Felix ihn die kurze Zeit angesehen hatte, es lag so eine unendliche Traurigkeit darin.
Stundenlang saß Marvin im Schneidersitz auf dem Bett, mit seinem Teddy im Arm. Der dicke Bärenkopf verdeckte Marvins Gesicht und nur die Augen waren zu sehen. Felix lag auf dem Bauch und schlief unruhig, sein Arm war verpflastert, seine Hand hatte einen dicken Verband. Sein Taschenmesser lag zusammengeklappt auf dem Nachtschränkchen, seine Mutter hatte es dort hingelegt. Marvin hörte durch die halboffene Tür das Braten von Fleisch in der Küche und der Duft von Schnitzel und Pilzen zog durchs Haus. Jemand kam leise die Treppe herauf, es war Robert, er sah zu Felix und deckte ihn mit seiner Bettdecke sorgfältig zu und strich ihm übers Haar. Er ging dann zu Marvin und flüsterte: „Los komm, es gibt Abendessen.“
Als er Marvin durchs Haar wuscheln wollte, wich der Junge zurück. Robert schluckte und ging wieder. Marvin stand auf und legte seinen Teddy zu Felix ins Bett, dann folgte er seinem Vater nach unten.