- Beitritt
- 27.08.2000
- Beiträge
- 2.198
Ein Geschenk für den Buhmann
Ein Geschenk für den Buhmann
Hinter der Hausecke lauerte der Buhmann, wartend, kauernd, zähneknirschend. Die Augen zusammengekniffen, nervös in alle Richtungen blickend, der berüchtigte Buhmann, schrecklich und gefürchtet. Sanft legte sich der Schnee auf sein Haar und seine Schultern. Er zog den Schal fester und stapfte auf der Stelle um sich ein wenig zu wärmen. Schon lange war niemand mehr um diese Ecke gekommen, doch der entsetzliche Buhmann war guter Dinge, dass es bald wieder soweit sein würde. Ein Opfer: Nichts wünschte er sich sehnlicher. Es würde bald kommen, über die verschneiten Straßen, das verfallene, unbewohnte Haus umrunden, direkt in seine Arme. Und dann: „Buh!“ Ein furchterregendes „Buh“, soviel war mal sicher. Der Buhmann würde Schrecknisse verbreiten, schlimmer als sich nur irgend jemand vorstellen konnte. Der Terror von Klein Gleidingen, die Geißel von Groß Gleidingen und Umgebung. Der fürchterliche Buhmann.
Da! Das Warten hatte sich gelohnt: Ein Opfer näherte sich! Ganz deutlich vernahm er das Geräusch von knirschenden, stapfenden Schritten im Schnee. Sie wurden lauter. Der grauenvolle Buhmann machte sich bereit. Verstohlen lugte er ums Eck, wer da wohl kommen mochte. Es handelte sich um einen alten Mann, dick eingepackt in Schal, Handschuhe und Mantel, der da schwer atmend daherschlurfte, den Blick zu Boden gerichtet. Ausgezeichnet! Das Herz des Buhmanns hüpfte vor Erwartung. All die Zeit des Herumstehens sollte nicht umsonst gewesen sein. Nun war das Opfer schon fast da, hustend und schnaufend, noch ein klitzekleines Stück, und...
„Buh!“
„Ja sag mal, spinnst du?“ krächzte der Mann, ohne auch nur eine Spur von Schreck oder gar Angst zu zeigen. Drohend hob er den behandschuhten Arm und stapfte niesend und kopfschüttelnd weiter, ohne sich noch einmal umzusehen.
Ja was war denn das gewesen? Der Buhmann traute seinen Augen nicht. Konnte das sein? Hatte der furchteinflößende Buhmann seine Fähigkeiten verloren? Früher hatten sich ganze Heerscharen von Passanten schon beim Anblick des Buhmanns vor Angst in die Hosen gemacht. Und nun? Er war am Boden zerstört. Seine Existenz war sinnlos geworden. Das war’s. Die Karriere als Buhmann war zu Ende. Traurig ließ er sich in den Schnee sinken um zu sterben. Eine kleine Träne rann ihm über die Wange und fror sogleich fest, genau wie viele weitere, bis sein Gesicht von lauter winzigen Eiskristallen überzogen war. Still lag er da und der Schnee begann, ihn langsam zuzudecken.
Doch als nur noch seine Nasenspitze aus dem Schnee guckte, spürte der Buhmann eine sanfte Berührung. Jemand hatte den Finger auf seine Nase gelegt.
„He, Buhmann. Wach auf.“ Es klang wie die Stimme eines kleinen Mädchens. „Ich habe da etwas für dich.“
„Geh weg!“, brummte der Buhmann unter seiner dicken Schneedecke. Der schaurige Buhmann, jetzt eher der traurige Schneemann, wollte nur in Ruhe sterben und dann zusammen mit dem Schnee schmelzen und fortfließen in die Vergessenheit.
„Ich habe aber ein Geschenk für Dich, Buhmann. Weil doch Weihnachten ist, und so. Also überleg’s Dir vielleicht noch mal.“
Und der Buhmann überlegte es sich. Und überlegte und überlegte. Wer konnte ihm denn ein Geschenk machen? Vielleicht war es eine hinterhältige Racheaktion eines früheren Opfers. Oder er war bereits dem Tode nah und halluzinierte. Weihnachten? Was gab es da? Kekse, Nüsse, Schokolade, Spielkonsolen, Carrera-Bahnen, Unterhosen, CDs von Phil Collins und Versprechen, sich aus finanziellen Gründen nichts zu schenken, nur um es dann doch zu tun. Was davon wünschte er sich? Was hatte die Kleine da für ihn? Er würde es nur auf eine Art und Weise herausfinden.
Der furchtbare Buhmann kämpfte sich mühsam aus der Schneewehe nach draußen, schüttelte sich und hielt Ausschau nach seiner rätselhaften Besucherin. Doch niemand war zu sehen. Er hatte zu lange gewartet, und jetzt war sie weg. Aber da lag doch tatsächlich ein Paket. Ein großes, viereckiges, geschnürtes Geschenk. Der Buhmann war erstaunt und machte sich daran, das Päckchen auszupacken.
Der Inhalt ließ ihm den Atem stocken, beinahe wäre er vor lauter Schreck nach hinten umgekippt. Es war eine Maske. Eine monströse Maske, mit Hörnern und Zähnen und Stacheln und Geifer und mehr Hörnern und grünen Augen und roten Augen und gelben Augen und zugenähten Augen und Warzen und Narben und spitzer Nase und Fetzen und Fell und noch mehr Hörnern und Schuppen und Zacken und Wolfsohren und Spitzohren und Fledermausohren und Kamm und Kruste und Maul und Schlund und Lippen und noch einigen Hörnern und überall Ausschlag.
Es war wundervoll. Der Buhmann fand es fast schade, dass er nicht wusste, bei wem er sich für dieses Geschenk bedanken sollte. Links und rechts war niemand zu sehen, also stülpte sich der grauenerregende Buhmann die Maske über und ging mit frischem Mut ans Werk.
Es dauerte nicht lange, da kam auch schon wieder ein Opfer heran. Ach, was hieß ein Opfer, es waren mehrere. Eine ganze Gruppe von ahnungslosen Opfern, warm eingemummelt und schwatzend, nichtsahnend. Der maskierte Buhmann rieb sich die Hände und grinste ein ungeheuerliches Grinsen.
„Buh!“
„Ahhh, was ist das?“
„Buh!“
„Hilfe!“
„Buh!“
„Argh, mein Herz!“
Da liefen sie und rannten und flohen und stieben auseinander und fürchteten sich, rutschten und schlingerten und stolperten und fielen übereinander, schrien und kreischten und riefen um Hilfe, erschrocken, erschüttert, panisch, geängstigt und entsetzt.
Zufrieden sah der Buhmann den flüchtenden Gestalten nach, wie sie sich im Schneegestöber verloren. Der unheimliche Buhmann war glücklich.