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- 03.07.2004
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Ein halber Umhang für dich
Der Winter hatte früh begonnen in diesem Jahr. Ein kalter schneidender Wind trieb dicke Schneeflocken über die kahlen Äcker vor der Stadt. Der dichte Wald, der die Stadt umgab, war im Schneetreiben nur zu erahnen. Der Weg zum Stadttor, auf dem die Militärpatrouille nach Hause ritt, war im grauen Dämmerlicht des Abends gerade noch zu erkennen. Decurio Longinus war mit sechzehn Reitersoldaten, der Hälfte seines Zuges, den ganzen Tag im Wald umhergeritten und war entsprechend schlecht gelaunt. 'Wenn Räuber und Wegelagerer sich bei diesem Wetter näher an die Stadt herantrauen, werden wir sie mit unseren Patrouillen auch nicht verscheuchen. Das ist keine Arbeit für Soldaten und bei diesem Wetter schon gar nicht,' dachte er mißmutig. Der Wind hatte keine Schwierigkeiten mit seinem warmen roten Wollumhang und so fror er erbärmlich und konnte sich vorstellen, dass auch seine Männer sich nach der warmen Kaserne und einem heißen Wein sehnten.
Longinus kam vom Rhein. Dort war er auf dem Weingut seines Vaters aufgewachsen. Als jüngster Sohn hatte er kein Erbe zu erwarten und war zum Militär gegangen. Vor drei Jahren war er zum Decurio ernannt und hierher in den Norden Galliens versetzt worden. Je länger er hier lebte, desto unzufriedener wurde er. Er war Soldat geworden, weil er sich in einer Schlacht bewähren und Ruhm und vor allem auch klingende Münze erringen wollte. Aber während am Rhein die Überfälle der Franken zunahmen, herrschte in diesem Teil Galliens Frieden. Die Soldaten hatten einen ruhigen Dienst, aber der Sold war gering. Die Stadt hatte kaum etwas zu bieten, eigentlich war sie nur ein Marktflecken mit einigen Gasthöfen für die reisenden Händler und dem römischen Reiterlager, das auf einem Hügel in der Stadt lag. Das Leben war langweilig und teuer. Und so wurde Longinus im Laufe seiner Dienstzeit immer mürrischer. Er hatte sich verpflichtet und konnte nichts gegen seine Stationierung unternehmen. Also riß er halt seinen Dienst ab und ließ alle seine Unzufriedenheit spüren.
Die Soldaten ritten durch das Stadttor. In einer Tornische kauerte ein Bettler, in eine dünnes zerrissene Tunika gekleidet. Er zitterte vor Kälte und streckte stumm die Hand aus. Jetzt im Winter kamen die Menschen, die auf dem Land keinen Verdienst und keinen Unterschlupf fanden, in die Stadt. Aber hier gab es auch keine Arbeit und keine Unterkünfte und die wenigen wohlhabenden Bürger hätten der Flut an Armut, Elend und Krankheit gar nicht wirksam begegnen können. Auch Longinus schaute gar nicht mehr auf die verelendeten Menschen, die die Straßen bevölkerten, wenn er nicht dienstlich mit ihnen zu tun bekam. Jetzt aber fühlte er unerwartet Mitleid mit diesem vor Kälte zitternden Häufchen Mensch, nahm seinen roten Wollumhang von den Schultern, zerschnitt ihn mit seinem Schwert und warf dem Bettler den halben Umhang zu. Er ritt weiter, der Wind kühlte ihn noch mehr aus und er begann, sich Vorwürfe zu machen. 'Bin ich verrückt geworden, warum mache ich das, der Umhang hat mich einen Monatssold gekostet.' Frustriert und verärgert gab er seiner Abteilung ein Zeichen und im scharfen Trab ritten sie auf der Heerstraße, die schnurgerade zwischen den verstreut stehenden kleinen Häusern verlief, zum Marktplatz.
"Danke, edler Herr" flüsterte der Bettler, aber nur der Wind hörte ihm zu. Longinus und seine Leute beobachteten bereits aufmerksam das Treiben in der Stadt. Ihre Anwesenheit sorgte für Sicherheit, Ruhe und Ordnung in der Stadt. Vom Marktplatz aus ritten sie deshalb auch nicht direkt zum Kastell, sondern machten einige Umwege durch die wenigen verwinkelten Seitenstraßen. Hier standen vor allem Lagerschuppen und kleine Werkstätten. In mehreren abgezäunten kargen Weiden überwinterte das Vieh und so mischten sich zahlreiche Gerüche zu einem undefinierbaren Brei, der sich durch den Qualm der überall brennenden Holzfeuer zu einer Dunstglocke über der Stadt verdichtete. Kaum jemand war unterwegs. Wer ein Dach über dem Kopf hatte, saß jetzt beim Abendessen, die meisten Bettler waren wohl noch unterwegs, um auch etwas Essen zu ergattern, einige Handwerker räumten noch ihre Waren, die sie tagsüber vor ihren Werkstätten ausgestellt hatten, von der Straße. Es herrschte geradezu Abendfrieden.
"Achtung," durchbrach einer der Reiter die abendliche Ruhe. Einige in verzierte Togen gekleidete jungen Männern zu, die vor ihnen ineinandergehakt mitten auf der Straße schlenderten, wohl auf dem Weg zu einem Fest, spritzten auseinander und ließen die Soldaten passieren.
Sie bogen wieder in die breite Heerstraße ein, mußten aber sofort anhalten. "Halt, zwei Mann absitzen," rief Longinus. Vor einem Gasthof standen mehrere Ochsenkarren so dicht, dass selbst Fußgänger kaum durchkamen. Angesichts des Wetters wollten die Fuhrmänner wahrscheinlich nicht die Nacht durchfahren und versuchten jetzt, noch einen Schlafplatz zu bekommen. Der Stall war wohl schon überfüllt und so hatten einige ihren Ochsen einfach den Futtersack umgebunden und sie auf der Straße stehen gelassen. Die beiden Soldaten brauchten keine weiteren Befehle und gingen direkt in den Gasthof. Schon nach wenigen Minuten kamen mehrere Fuhrmänner heraus, um die Karren beiseite zu fahren. 'Das ist meine ganze Arbeit; Straßen ohne Gewaltanwendung räumen, nichts als belanglose Kleinigkeiten,' dachte sich Longinus und gab das Zeichen zum Abrücken.
Die Reiter wollten endlich in das warme Kastell zurückkehren und schlugen jetzt einen scharfen Trab an. Die Hufe klapperten auf dem Straßenpflaster und durchbrachen die Stille. In den Häusern sahen sie schon die ersten Petroleumlampen brennen. Zwei junge Frauen in einem Hauseingang winkten den Soldaten einladend zu. Aber jetzt waren sie noch im Dienst und ritten weiter, wobei einige noch einen kleinen Blick riskierten.
Aus einer Seitenstraße kam eine größere Gruppe von Menschen. Alle waren in einfache unförmige Wollmäntel gekleidet. Auf modisches Aussehen legten sie offensichtlich keinen Wert. Still und mit gesenkten Köpfen gingen sie an den Hauswänden entlang. 'Christen auf dem Weg zu ihrem Tempel', dachte Longinus.
Er hatte die Zeit der Verfolgungen nicht erlebt und war froh darüber. Menschen, die sich nicht wehren wollten, zu töten, das fand er nicht in Ordnung. Seit Kaiser Konstantin sie vor dreißig Jahren anerkannt hatte, wurden sie auch hier in den Randgebieten des römischen Reiches geduldet und ihre Zahl wuchs. Aber hier im Norden Galliens wurden ja auch noch die alten Götter der Gallier verehrt, es war ohnehin ein Göttergemisch, so bunt wie das Völkergemisch, das sich in der Stadt angesiedelt hatte, seit die Römer hier regierten. Die Priester der Tempel wetterten manchmal gegen die Christen, die sich kaum wehrten und manchmal kam es wohl auch zu Ausschreitungen. In dieser Stadt kamen aber eigentlich alle gut Miteinander aus und Longinus hatte noch keine handgreiflichen Auseinandersetzungen erlebt.
Endlich in der Kaserne angekommen, versorgten die Soldaten ihre Pferde und gingen in ihre Quartiere zum Abendessen. Longinus war verheiratet und hatte deshalb eine eigene kleine Wohnung im Lagerbereich. Zum Essen kam er allerdings erst einmal nicht, da seine Ehefrau Febronia sofort den fehlenden halben Umhang bemerkte.
"Du bist wohl von allen Göttern verlassen. Weißt Du, was so ein Umhang kostet? Der gehört schließlich nicht zur Standardausrüstung. Dafür hast Du viel Geld bezahlt und dann schneidest Du ihn durch. Mit diesem Stofffetzen kann man doch nichts mehr anfangen. So kannst Du doch nicht durch die Stadt reiten. Aus bester Schafwolle, aufwendig gefärbt, und Du verschenkst ihn einfach an einen Bettler. Du bist doch wohl von allen Göttern verlassen."
Longinus hörte zu, mit aufmerksamer Miene, auch wenn er innerlich abgeschaltet hatte. In fünfzehn Jahren Ehe hatte er gelernt, auch die kleinen Ehekriege zu bestehen und er liebte Febronia, auch ihre Eigenheiten und angesichts seines geringen Soldes besonders ihre Sparsamkeit.
"Ich weiß wirklich nicht, warum ich das getan habe und es tut mir herzlich leid. Am liebsten würde ich zurück reiten und den Umhang wiederholen, aber es ist finster, die Stadttore sind geschlossen und wer weiß, wo der Bettler jetzt ist," warf er in einer Atempause ein.
Und schon hatte er Febronia auf eine neue Fährte gebracht. "Das kannst Du nicht tun. Du hast den Umhang verschenkt, den kannst Du jetzt nicht mehr zurückfordern. Und der Bettler wird ihn doch bestimmt schon benutzt haben, ich möchte ihn eigentlich nicht mehr zurücknehmen. Aber er ist zu wertvoll, um ihn zu verschenken. Was machen wir da?"
Dann schwieg sie eine ganze Weile, runzelte die Stirn und überlegte angestrengt. Nach einigen "Hmm's" und "So's" kam Febronia zu einem Ergebnis: "Ich suche ein paar alte Sachen von Dir heraus, die Du sowieso nicht mehr trägst. Damit reitest Du morgen zu dem Bettler und tauscht den Umhang dafür ein. Den kann er sowieso nicht tragen, Da fällt er doch auf, wie ein roter Hund oder so irgendwas. Und den Umhang werde ich dann gründlich waschen, dann dürfte er wieder in Ordnung sein."
Erleichtert nickte Longinus und lächelte seine Frau an. "Das ist eine wunderbare Idee, Schatz. Morgen früh habe ich Dienst, aber sofort nach Dienstschluss werde ich den Bettler suchen."
Und so geschah es. Nach einer friedlichen, wenn auch kalten Nacht, ritt Longinus zum Dienst, kam in seine Unterkunft zurück, nahm den Sack mit der alten Kleidung und machte sich auf die Suche nach dem Bettler. Er ritt zunächst zum Marktplatz, denn es war Markttag.
Nichts war mehr von der Ruhe des Vorabends geblieben. Tuchhändler priesen lauthals farbenfrohe Stoffe an. Die wortkargen Bauern aus der Umgebung verkauften Kohl, Rüben, Äpfel und lebende gemästete Gänse. Von dem Stand eines Gewürzhändlers zogen die aufregenden Düfte ferner Länder über den Platz. Es gab Maronenbräter und einen Stand mit gebratenem Fleisch neben dem Schlachter, der vor allem Wild und Geflügel an seinen Haken hatte. Longinus hatte den Eindruck, die halbe Stadt habe sich auf dem Marktplatz versammelt. Mit dem Pferd über den Platz zu reiten, war unmöglich. Die Frauen, die sich über den Marktplatz schoben, wurden von Dienerinnen und Sklaven begleitet, die große Körbe für den Einkauf trugen. Die Frauen aus niederem Stand trugen ebenso wie die Dienstboten einfache ungefärbte Wolltuniken. Manche konnten es sich nicht einmal leisten, mehrere Tuniken übereinander gegen die Kälte zu tragen. Die vornehmeren Frauen trugen natürlich kostbar gefärbte Tuniken und Mäntel, einige sogar festliche Togen. Und so wogten blaue und gelbe Flecken über den Markt, hier und da blitzte sogar ein kostbarer rot gefärbter Stoff auf.
Die meisten Frauen hatten sich ihre Tunika wie eine Kapuze über den Kopf gezogen, um so deutlich zu zeigen, dass sie verheiratet waren. An den Ecken des Platzes zeigten Jongleure und Spaßmacher ihre Künste und viele Menschen blieben stehen, um ihnen zuzuschauen. Hier saßen auch viele Bettler, um eine Gabe zu erhaschen. Seinen Bettler konnte Longinus aber nicht finden, obwohl er vorsichtig, um keines der herumlaufenden Kinder umzustoßen, mehrmals um den Platz ritt . Die Bettlergilde versuchte, auch den vielen Zugereisten einen festen Platz zuzuweisen, denn Unruhe rief schnell die Soldaten auf den Plan und die meisten von ihnen mochten die Bettler nicht. Vielleicht stand sein Bettler in seiner Hierarchie ganz unten, dachte Longinus und musste wieder am Stadttor sitzen, weitab von den lukrativeren Einnahmequellen.
Tatsächlich fand Longinus dort den Bettler. Er rief die wenigen Bauern, die mit ihren langsamen Ochsenkarren vom Markt schon nach Hause zogen um eine milde Gabe an, aber die hatten selber nicht genug und gaben deshalb höchstens mal einen welken Kohlkopf ab.
"He du da" rief Longinus den Bettler vom Pferd aus an und bemerkte dabei, dass dieser wieder nur seine kaputte Tunika trug.
"Hoher Herr", dienerte der Bettler an ihn heran, " ich möchte euch noch vielmals danken für den schönen Umhang."
"Schon gut", brummte Longinus, dem dieses Gespräch peinlich wurde, "ich habe Dir hier einige Kleidungsstücke mitgebracht und möchte sie gegen den Umhang tauschen, das heißt, meine Frau möchte das."
'Warum erkläre ich ihm das überhaupt' dachte er und hielt dem Bettler den Sack hin.
Der riß ihm den Sack geradezu aus der Hand. "Vielen, vielen Dank, hoher Herr, und einen ganz besonderen Dank an eure edle Frau Gemahlin. Leider kann ich euch den Umhang nicht geben. Mein Bruder hat vor zwei Tagen auch einen halben Umhang geschenkt bekommen und da haben wir die beiden Hälften zusammengenäht und zu einem guten Preis verkauft. Von dem Geld konnten wir einen Platz im Viehstall beim Gastwirt zum Ochsen mieten. Jetzt haben wir es wenigsten ein wenig warm und dafür sind wir euch besonders dankbar."
'Der wird ja direkt redselig, nichts wie weg hier, bevor er mir seine Lebensgeschichte erzählt', dachte Longinus, wendete sein Pferd und ritt zurück zum Markt. 'Dann kaufe ich eben einen neuen Umhang von meinem Taschengeld. Muß ich abends etwas weniger Wein trinken. Aber bloß keinem erzählen, was ich getan habe. Ich werde ja zum Gespött der ganzen Reiterei.'
Und dann kam ihm wieder in den Sinn, dass der Bettler von einem zweiten Umhang gesprochen hatte und jetzt wußte er, warum er auf diese blöde Idee, den Umhang durchzuschneiden, gekommen war. Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn und stöhnte "Zenturio Martinus! Der hat doch seinen Umhang zerteilt und erzählt das jedem, der ihn in die Quere kommt. Dem tut das nicht weh, der ist Junggeselle und reich dazu. Ein Anhänger der Christen ist er nicht, habe ich jedenfalls noch nicht gehört, aber so eine blöde Tat bringen ja wohl nur die Christen fertig, die teilen ja angeblich alles miteinander. Und die Soldaten lachen hinter seinem Rücken über diese Heldentat. Na gut, ich werd' mir seine Geschichte noch mal anhören, da gibt er wenigstens einen aus. Aber erzählen werde ich Martinus auch nicht, was ich da angestellt habe. Soll er doch als Spinner verlacht werden. Ich halte mich da raus."
Und das tat Longinus konsequent und so geriet seine einmalige Freigebigkeit bald in Vergessenheit. Martinus verteilte weiter milde Gaben an die Notleidenden und war schnell als freigebiger Wohltäter bekannt. Er wurde in den Süden versetzt, lernte dort die Christen näher kennen und ließ sich taufen. In Tours in Südfrankreich wurde er sogar Bischof. Nach seinem Tod im Jahr 307 wurde er bald als Heiliger verehrt und der Martinstag wird noch heute am 11.11. gefeiert. Der Name Longinus hingegen sagte schon damals niemandem etwas.