- Beitritt
- 23.07.2001
- Beiträge
- 1.974
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 15
Ein Held im Kaufhaus
Ein Held im Kaufhaus
Stille Nacht, heilige Nacht... Es war viel zu hell für diese Musik.
Alles schläft, einsam wacht… Es war hier viel zu laut, nicht andächtig genug...
Ramon kannte das Lied, er liebte es, aber jetzt passte es nicht in seine Stimmung und nicht in ein Warenhaus. Es passte eigentlich schon lange nicht mehr in seine Welt.
Im Kaufhaus war es immer warm und durch die grelle Weihnachtsbeleuchtung wohl noch mehr. Er machte seine Jacke auf, zog die Mütze von den strubbeligen, schwarzen Haaren und humpelte durch die Regalreihen. Es war noch früh am Nachmittag, das Haus schon gut besucht, aber in zwei Stunden, wenn die meisten Feierabend hatten, würde es richtig schlimm werden.
In seiner Tasche klimperten die Münzen, mit denen sie ihn losgeschickt hatten.
´Hol´ sechs Kerzen, die langen,´ hatte Sonja gesagt. Sie war die einzige Erzieherin, die er mochte, ´aber pass auf, dass auf der Packung steht, dass sie nicht tropfen.´
Kling, Glöckchen klingelingeling, kling, Glöckchen, kling…
kam es aus den Lautsprechern, und in den Reihen mit Süßigkeiten drängten sich fette Leute, die ihre Körbe für fette Kinder beluden. Schokoladenweihnachtsmänner, Tannenbäume am Stiel, in Glitzerfolie.
In der Drogerieabteilung ging es etwas nüchterner zu.
Rote Kerzen nahm er. Sie lagen ganz oben und kein Erwachsener half. An der Kasse zählte er das Geld ab. Fünfzig Cent blieben übrig.
´He, Krüppel´ hatten sie gesagt, ´bring Kippen mit.´ Und er hatte nicht geweint.
Woher sollte er Zigaretten nehmen? Für fünfzig Cent bekommt man keine, außerdem musste er abrechnen, wenn er zurückkam.
Kleiderständer mit dicken Pullovern, wattierte Jacken. Auf einem Podest stand eine Schaufensterpuppe, eine Frau, verkleidet als Weihnachtsmann.
O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter…
Als er noch ganz klein war, mochte er es, wenn diese Lieder im Kaufhaus gespielt wurden.
Jetzt stand er an den Zeitschriftenauslagen. Finanzzeitungen, Modeblätter. Ein Titelbild zeigte sogar einen Computer mit roter Zipfelmütze und Schal. Die Magazine für Autos reichten bis weit hinter den Tresen, danach kam seitlich die Reihe mit den Zigarettenpackungen.
Ramon beugte sich weit vor, zog ein Heft über Sportwagen aus der Halterung, schlug es auf und beobachtete über den Rand hinweg den Verkäufer, der in einiger Entfernung mit Kunden sprach.
´Hinkebein,´ hatten sie gesagt, ´tauch hier nicht ohne Zigaretten auf.´ Danach hatte einer ihn in die Seite geknufft.
Sein Herz klopfte so heftig, dass die Seiten der Zeitung wippten.
Er klappt das Heft zu, beugte sich weit vor, stellte es wieder in die Auslage. Dann ein schneller Griff nach rechts, die Packung verschwand in seiner Tasche.
Ramon wirbelte herum und rannte. In seinem Innern schienen Flammen zu lodern, der Magen schmerzte, das Herz explodierte und das Wort Dieb,… Dieb, … raste durch sein Bewusstsein.…Dieb…Er zwängte sich zwischen Kleiderständern hindurch,… Dieb… vorbei an Regalen mit Taschen und Koffern und prallte dann unversehens gegen etwas weiches, und warmes.
„He, he!“ Der Mann lachte und packte ihn bei den Schultern. „Junge, was bist du aufgeregt.“
„Nein, ich muss nur…“
„Du musst nur was? Rennen?“
Der Mann hielt ihn immer noch fest, so dicht, dass die feinen Haare seines Pelzmantels durch das hektische Atmen des Jungen hin und her stoben.
„Junge, in drei Tagen ist Weihnachten und so langsam sollte Besinnlichkeit aufkommen.“
Er erinnerte Ramon an einen Erzieher aus dem Nachbarhaus. Die gleiche ruhige und freundliche Art zu sprechen, das warme Lächeln. Der Fremde hatte allerdings einen Oberlippenbart und war wohl nicht ganz so alt, auch trug er die blonden Haare etwas länger.
Ramon hielt beide Hände in den Jackentaschen, in der rechten die Zigarettenschachtel fest umschlossen, die jetzt wie Feuer zu brennen schien. Wenn dieser Mann gesehen hatte, wie er stahl, würde er ihn melden.
„Ich muss gehen, man wartet auf mich!“
Der Griff des Mannes lockerte sich. „Wie alt bist du, Junge?“
„Neun“, sagte er und wunderte sich, warum er nicht fortlief.
„Ein wunderbares Alter. Weihnachten ist für einen Neunjährigen die wichtigste Zeit, habe ich Recht?“ Der Mann löste den Griff nun ganz und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich lebe in einem Kinderheim, da finde ich Weihnachten nicht so schön.“
Der Mann strich mit einer Hand über die leicht verschlissene Jacke des Jungen. „Es ist wohl kein reiches Kinderheim, in dem du lebst?“
„Nein, reich sind wir nicht.“
„Ah, ich verstehe“, Der Mann nickte und in seinen Augen war ein Funkeln, als wäre ihm gerade wieder eingefallen, was er vergessen hatte. „und deshalb schickt man dich einkaufen, weil du der vertrauenswürdigste bist. Wunderbar!“
Ramon nahm die Hände aus den Taschen denn der Kontakt mit der Zigarettenschachtel bereitete ihm heftiges Unbehagen. Am liebsten wäre er sofort davongestürmt, doch sein Gegenüber hatte eine so verbindliche Art, die ihn fesselte.
„Nein, immer wenn die anderen nicht wollen, werde ich vorgeschoben. Sie sagen: Der Krüppel geht.“ Warum hatte er das gesagt? Es war nicht seine Art, Fremden gleich alles zu erzählen.
„Ha, ich wusste es!“ Der Mann zwinkerte belustigt und seine Augen wirkten da doch nicht ganz so jung, wie es erst den Anschein hatte. „Ich wusste schon heute Morgen, dass ich jemanden außergewöhnliches treffen würde.“
„Wen meinen sie?“
„Dich, wen denn sonst?“
„Aber, ich bin nicht außergewöhnlich. Ich bin ein Junge aus einem Heim,… und ein Krüppel dazu.“ Die letzten Worte kamen leise und bedrückt.
„Ha, genau!“ Der Mann warf triumphierend die Hände in die Höhe. „Und ein Held!“
„Ein Held?“
„Natürlich, oder sind Helden nichts Besonderes?“
„Doch, aber ich doch nicht.“ Dieb,… Dieb, zog es wieder durch seine Gedanken.
„Wir werden sehen. Wie ist es mit Sport, machst du da mit?“
„Schon, aber ich bin nicht so gut wie die anderen.“
„Logisch… und heldenhaft.“
Der Mann beugte sich leicht herunter und raunte: „Wirst du gehänselt, und weinst du manchmal?“
Ramon antwortete nicht sofort. Er merkte, dass seine Augen feucht wurden.
„Ja.“ Und als der Fremde nickte, schien es, als wären da doch einige tiefe Falten in seinem Gesicht.
„Und du hältst es aus. Tapfer!“
Der Mann schnipste mit den Fingern, als wäre ihm eine Idee gekommen. „Wie ist es mit der Schule, sag?“
„Ich bin nicht schlecht.“
„Ha, ich habe es gewusst!“ Er trat schwerfällig einen Schritt zurück um den Jungen genau mustern zu können… Und was er sah, schien ihm zu gefallen.
„Für einen Gesunden ist Sport kein Problem. Dein Bein ist nicht in Ordnung und du machst es trotzdem. Du wirst gehänselt und es tut dir weh. Du hältst es aus. Da sind keine Eltern, die dir helfen und du bist trotzdem gut in der Schule.
Und du sagst, du bist kein Held?“
Der Mann kam wieder einen Schritt näher, und Ramon dachte für einen Moment, er würde ihn wieder packen. Stattdessen beugte er sich zu ihm herunter und raunte:
„Für ein Kind ist es schwer, ein Held zu sein, aber du hast es geschafft und wirst es weiter schaffen. Hab Geduld. Wenn du erwachsen bist, wirst du es erkennen und selbst auf dich stolz sein.“ Dann richtete er sich wieder auf, stemmte seine Hände in die Seiten und sagte bedeutungsvoll: „Ein Held, aufrichtig und gut…Ach, es ist ein schöner Tag!“ Und seine Stimme klang alt.
„Allerdings fehlt dir schon etwas wichtiges, Junge, das muss ich dir doch sagen.“
Ramons Augen wurden groß vor Verwunderung.
Der Mann streckte eine Hand aus und legte sie dem Jungen auf die Brust, dort, wo das Herz war.
„Ein Held braucht einen Orden.“
Nachdem der Mann seine Hand wieder fortgenommen hatte, schaute Ramon an sich herab. „Aber da ist kein Orden.“ Und sein Blick war voller Fragen.
„Man sieht ihn nicht, aber er ist da, und er bleibt da“. Und im selben Moment spürte Ramon genau an der Stelle eine leichte Wärme strahlen, die sich ausbreitete und durch seinen Körper strömte.
„Immer, wenn du verzweifelt bist, soll es warm werden und das wird dich daran erinnern, dass du ein Held bist.“ Der Mann zwinkerte mit den Augen. „Helden haben ein warmes Herz.“
„Na, mein Junge, wartest du auf jemanden?“
Ramon wirbelte herum und blickte in das Gesicht des Verkäufers, der aber, noch bevor er antworten konnte, weitergegangen war und eine Kundin ansprach.
Als er sich dann wieder umwandte, war er allein. Der seltsame Mann war fort.
In seinen Gedanken klangen die letzten Worte nach: „Ein Held, aufrichtig und gut.“
Dann dachte er an die Zigaretten! Er musste sie wieder zurückgeben. Ramon griff in die Taschen… Die Schachtel war fort.
Vom Himmel hoch, da komm ich her… kam es aus den Lautsprechern und in der Ferne, nahe den Rolltreppen meinte er, für einen kurzen Moment einen alten Mann zu sehen, der sich umsah und lächelte.
Ein Lächeln, das ihm galt und in einem schwach leuchtenden Schimmer verging.