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Ein letztes Gespräch
In letzter Zeit denke ich oft an dich, an dein Leben, deine Vergangenheit, meine Vergangenheit.
Ich weiß, wir haben nicht mehr viel Zeit, denn du wirst bald sterben. Alle Zeichen sprechen dafür. Man sagt, du hast dein Leben gelebt und mit 86 Jahren sogar recht lang. Das ist sicherlich richtig, aber ich wollte dir immer so viel sagen und tat es nie. Nun ist es wohl zu spät.
Du bist in den letzten Jahren alt geworden. Ja, mir ist klar, auch mit 80 Jahren ist man schon alt, aber viele Jahre gelebt zu haben und alt zu sein, sind verschiedene Dinge. Wenn ich dich heute sehe, wie du nur noch schlurfend voran kommst, wie du deinen Rücken immer gebeugt hältst, wie du ständig im Sitzen einschläfst, dann sehe ich einen alten gebrechlichen Mann. Ich sehe den Tod schon in deinen Augen.
Mag sein, dass wir mal ein inniges Verhältnis hatten, als ich noch klein war. Immerhin bist du mein Großvater und wir wohnten in dem selben Haus.
Weißt du noch, wie du mich gelehrt hast, mit dem Zirkel Blumen zu zeichnen? Ich hab sie dann bunt ausgemalt. Es war schön, wenn wir zusammen gemalt haben. Ach so, du kannst dich nicht mehr erinnern. Schade.
Nein, ich sehe die Spielflugzeuge am Himmel nicht. Man hatte mir schon erzählt, daß du manchmal halluzinierst. Ich konnte es gar nicht glauben. Was soll ich sagen? Soll ich dich anlügen und sagen ich sehe das, was du siehst? Früher, da haben wir „Ich sehe was, was du nicht siehst“ gespielt. Welch Ironie!
Eigentlich weiß ich gar nicht viel von dir. Du weißt ja, wie das ist. Man wird älter und hat andere Interessen. Wer will sich schon in der Pubertät mit seinen Großeltern unterhalten? Ich wollte es jedenfalls nicht, was ich heute bereue. Ich bin dein Fleisch und Blut und deine Vergangenheit ist irgendwie auch meine. Doch nun geht alles verloren, deine Gedanken und Gefühle, alles, was dich ausmacht.
Manchmal, wenn ich nach einigen Geschehnissen der Vergangenheit frage, antwortest du ausführlich. Deine Jugend ist dir in deinem Gedächtnis näher als die Gegenwart oder die jüngere Vergangenheit.
Wird es mir später auch so gehen? Geht es allen alten Menschen so?
Deine Vergangenheit. Sie holt dich immer wieder ein – in deinen Träumen. Du wachst schreiend und schweißgebadet auf.
Der Krieg. Davon hast du nie viel erzählt. Ich weiß wohl, wo du überall gewesen bist, aber ich weiß nicht, wie es dir erging, wie du dich gefühlt hast. Die Fragen, die ich dir jetzt so gerne stellen würde, haben mich früher nicht interessiert. Heute kann ich sie dir nicht mehr stellen, weil ich nicht will, daß dich deine Vergangenheit auch noch am Tage quält, will nicht alte Wunden wieder aufreißen, will dich schonen. Und doch möchte ich wissen, was du in jener Zeit erlebt hast. Hast du je einen Menschen getötet? Sicher hast du. Es war Krieg. Töten gehört zum Krieg. War es Notwehr oder hast du jemanden ganz bewußt getötet? Hat dir das Gefühl der Macht, über das Leben eines anderen zu verfügen, gefallen? Hast du auch Unschuldige getötet? Frauen? Kinder? Gehörst du zu denen, die vergewaltigt haben?
Wer bist du?
Aber ich mach mir selbst etwas vor. Nie hätte ich dir diese Fragen gestellt. Keine Ahnung, warum nicht. Aus Angst? Respekt? So etwas fragt man nicht! Vielleicht will ich es auch gar nicht wirklich wissen. Es nagt an mir, doch könnte ich mit den Antworten leben? Wie könnte ich dich noch lieben, wenn ich wüßte, du hättest mit Freude getötet und vergewaltigt? Was würde sein, wenn ich die Gewissheit hätte, du hast Menschen wegen Gedanken und Ansichten ermordet, die mich heute ausmachen?
Was ist es, was dir deinen Schlaf raubt? Das, was du im Krieg gesehen und erlebt hast oder ist es das schlechte Gewissen? Wie fühlst du dich, wenn du an den Krieg denkst?
Gefühle. Wir haben nie darüber gesprochen. Du nicht. Ich nicht. Wir mögen uns, lieben uns. Weshalb? Weil du mein Großvater bist und ich deine Enkeltochter. Können wir uns denn wirklich lieben, wo wir uns doch gar nicht kennen?
Weißt du, wer ich bin, was ich denke, wie ich fühle, was für mich wichtig ist? Wie solltest du?
Nein, du hast es nicht vergessen. Du hast es nie gewusst.
Oder doch? Sind nicht all meine Gedanken irgendwie auch ein Teil von dir? Hast nicht auch du dazu beigetragen, daß ich heute der Mensch bin, der ich bin? Kann ich so viel anders sein als du? Kannst du so viel anders sein als ich?
Es ist zu spät, diese Fragen zu klären. Unsere Zeit ist vorbei. Die Gelegenheit vertan. Vielleicht hätte es uns beiden gut getan, mehr miteinander zu reden. Vielleicht.
Was bleibt mir jetzt noch zu sagen? Nicht viel, denn ich weiß nicht, ob du es verstehen wirst.
Nur eines, das werde ich dir noch sagen: Ich liebe dich!