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Ein letztes Werkstück
Ehemals lärmten Punkt sieben Uhr die Maschinen. Bis zu sechs Mann arbeiteten in der Tischlerei.
Der Schlüsselanhänger ist derselbe wie vor 50 Jahren. Eiche, ein Abfallstück, ein vom Boden aufgehobener Abschnitt eines längst vergessenen Projektes.
Bis die letzten Deckenröhren zu flackern aufhören, vergeht eine volle Minute. Manchmal auch mehr. Blind könnte er jeden Flecken der Werkstatt zielsicher erreichen. Seit einiger Zeit bleibt er am Tor stehen und wartet ab.
Abrichte, Dickenhobel, Formatkreissäge, alle Maschinen würden sofort tadellos funktionieren, das weiß er. Er hält sie in Schuss, lässt sie einmal alle vier Wochen zur Probe laufen, nutzt sie jedoch seit Jahren nicht mehr.
Auf der Werkbank steht die Kommode mit den maroden Schüben. Restaurationsarbeiten waren nie seine Sache gewesen, zuletzt aber das einzige, was ihm noch zugetragen wurde. Die Brettchen hat er bereits ausgehobelt, genauso die stattlichen Bohlen in der Ecke. Zu Lehrzeiten war ihm das Hantieren mit Raubank und Schlichthobel zuwider gewesen, heute genießt er es sehr. Früher stahl ihm die aufwendige Handarbeit seine Zeit, jetzt versüßt sie ihm jede Minute. Das Anreißen der Zinken ging ihm immer schon schwer von der Hand. Jetzt nimmt er sich Zeit dafür, früher musste sich jede Minute lohnen. All die Stemmeisen, ein Geschenk zur bestandenen Meisterprüfung, sind kurz geworden. Rasiermesserscharf liegen sie bereit, akkurat von Hand geschliffen. Zehntelmillimeterweise über die Jahre geschrumpft. Zunächst muss er lediglich die Stahlklinge in den Anriss gleiten lassen und mit dem Hammer lotrecht ins Holz treiben. Das geht wie von allein, beinahe wie Atmen. Die Zinken zu übertragen und dann die Schwalben auszuarbeiten ist der heikle Teil. Seine Augen beginnen zu tränen, trotz Brille und zusätzlicher Lampe fallen ihm solch feine Arbeiten zunehmend schwer.
Viel hat er darüber nachgedacht, welche Art Holzverbindung er für sein letztes Werkstück wählen soll. Besonders will er sie ausführen, handwerklich auf höchstem Niveau. Vier Bohlen warten schon geraume Zeit in der Ecke. Eichenholz, allerbeste Qualität.
Es hat Wochen in Anspruch genommen, sie von Hand zu besäumen, abzurichten und auszuhobeln. Dann hat er sie zurückgestellt, versucht, nicht täglich hinzuschauen, sie aus dem Kopf zu bekommen.
Die Schwalben sind jetzt nahezu fertig. Nur mehr die Außenliegenden absetzen, dann der Moment der Wahrheit.
Er hat sich viel Zeit damit gelassen, so sorgfältig gearbeitet, wie es ihm noch möglich ist. Das Ergebnis ist zufriedenstellend. Die Verbindung passt sehr gut, wenn auch nicht perfekt. Jetzt noch die andere Seite, er wird sich erneut bemühen.
Dann ist Essenszeit. Wie an jedem Tag, den er in der Werkstatt zubringt, klopft seine Enkeltochter an das einzige Fenster und stellt dann sein Essen auf der Bank davor ab. Er hört nicht das Klopfen, sieht nicht, wie sie vorübergeht, er weiß, dass sie kommt. Schlag zwölf legt er das Werkzeug beiseite, geht zum Tor und löscht das Licht.
Heute ist ein regnerischer Tag, das Vordach schützt ihn, die Suppe schmeckt wie immer.
In zwei, drei Stunden sollte er mit der Kommode fertig sein, dann wird er endlich damit beginnen. Noch heute.
Wieder in der Werkstatt gibt er dem Licht die Zeit, die es benötigt.
Die zweite Verbindung gleicht der ersten aufs Haar. Sehr gut gearbeitet, perfekt ist ihm nicht mehr möglich. Er ölt den Schub und bringt ihn nach nebenan zum Trocknen. In zwanzig Minuten muss er das überschüssige Öl abnehmen, gedanklich macht er sich eine Notiz. In der Zwischenzeit zieht er die benutzten Eisen auf dem Leder ab und säubert seinen Arbeitsplatz.
Dann legt er die Bohlen aus. Wieder.
Wie oft hat er sie schon betrachtet? Er weiß es nicht mehr.
Nach einer Weile nimmt er ein trockenes Baumwolltuch und geht hinüber. Das vollgesogene Tuch trägt er anschließend nach draußen.
Die gut zwei Meter langen Eichenholzbohlen zu sortieren, kostet ihn viel Kraft, sie von Hand aufzutrennen, erscheint ihm mit einmal aussichtslos.
Das Bandsägeblatt ist brandneu, unbenutzt, obgleich er es vor etlichen Jahren aufgezogen hat. Heute wird er den Dienst der Säge ein letztes Mal in Anspruch nehmen.
Später als gewöhnlich verlässt er die Werkstatt, erschöpft streckt er sich auf dem Kanapee aus.
Am nächsten Morgen fühlt er sich krank. Bis weit in den Vormittag hinein bleibt er im Bett liegen, erst nach dem Mittagstisch findet er sich in der Werkstatt ein.
Selbst nach Minuten will das Flackern nicht aufhören. Er betätigt erneut den Schalter, schließt das Tor ab, geht zurück ins Haus.
Tags darauf schmerzen ihm Arme und Beine mehr als gewöhnlich, gedanklich beschließt er, die Bretter morgen stumpf zu vernageln.
Am folgenden Tag zwingt er sich früh hinaus, mit kraftloser Hand schließt er das Tor auf. Die Röhren blinzeln nur einmal kurz, laden ihn ein, sogleich hereinzukommen.
Mit der Gestellsäge schneidet er die Bretter grob zurecht, schwitzend legt er sie aneinander. Der Deckel ist bald schon fertiggestellt, die drei Längsbretter mit den Querhölzern und der Diagonale rasch vernagelt. Danach machte er sich an einen letzten Korpus. Ein Tischler macht im Grunde wenig anderes. Ein Bett, ein Schrank, eine Truhe oder ein Schub. Alles Kisten. Alle mit besonderen Anforderungen, in unterschiedlichen Ausführungen. Eine letzte hatte er noch zu bauen.
Schlag zwölf behält er den Hammer in der Hand. Der Eintopf auf der Bank kann warten. Die letzte Kiste fordert ihm alles ab. Nicht handwerklich, aber körperlich. Die schweren Bretter zu bewegen, kostet ihn seine letzte Kraftreserve. Noch schwerer wiegt, wie tief ihn der Umgang damit bewegt.
Nach Sonnenuntergang stellt er die Schachtel mit den Nägeln ins Regal. Er fegt die Werkstatt aus, löscht das Licht, schließt hinter sich ab.
Auf der Bank sitzend löffelt er mit zitternder Hand den kalten Eintopf.