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Ein Opfer der Stadt
Es war ein verregneter Tag, wie er in dieser Jahreszeit nicht selten war. Der Regen fiel in
rauen Mengen vom Himmel. Die Sonne hatte man schon lang nicht mehr gesehen. Der Tag
begann dunkel und er endete im Dunkeln. Dennoch lief alles seinen gewohnten Gang. Die
Menschen strömten durch die Geschäfte auf der Suche nach irgendwelchen Schnäppchen und
guten Geschäften. Die Autos überschwemmten die Straßen. In den Hochhäusern wurde
kräftig über die neusten Börsenkurse diskutiert und der Regen tropfte beständig vom schwarzen
Himmel. Da fiel das Mädchen in ihrem schlichten Anorak kaum auf. Es wurde von der
Masse mit die Strasse entlang gespült. Sie wehrte sich auch nicht gegen diese
endlose Flut. Der Lärm der Stadt drang auf sie ein. Die Gesprächsfetzen der Menschen
blieben an ihr hängen. Doch das alles schien sie nicht zu interessieren. Sie ließ sich einfach
treiben. Immer weiter fort! Weiter fort!
Es war nicht wichtig wohin sie getrieben wurde denn sie wollte einfach nur fort. Ließ sich
vollkommen in Gedanken versunken treiben. Die Straßen entlang. Ohne zu wissen, wo ihr
Weg enden würde. Man hätte sie für ein ganz normales Mädchen gehalten. Nicht älter als 15
Jahre. Nicht sonderlich hübsch, aber auch nicht hässlich. Eine unauffällige 15 Jährige, wie es
viele gibt. Nichts besonders. Aber sie weinte. Weinte bittere Tränen, die nicht gesehen
werden sollten. Schrie, von Schmerz erfüllt und zugleich anklagend. Doch man konnte die Schreie
nicht hören. Taub und Blind waren die Menschen dieser Stadt. Niemand sah das
Mädchen leiden. Niemand sah es überhaupt.
Ein heller Blitz zuckte am Himmel und kurz darauf folgte ein tiefes Donnergrollen.
Die Menschen beeilten sich ins Trockene zu gelangen. Aber das Mädchen lief weiter die
Straße entlang. Schien das Gewitter gar nicht zu bemerken.
Mit einem Mal beschleunigte sie ihren Schritt. Sie lief. Immer schneller. Immer schneller. Als
liefe sie um ihr Leben. Ihre langen Haare flogen hinter ihr her. Ihre Bewegung war nun
zielstrebig und nicht mehr von der Menge gelenkt. Es schien als wäre sie nun befreit und hätte
ihren Weg gefunden.
An ihrem Ziel angekommen, blickte sie hinunter auf das aufgewühlte Meer. Sah wie sich die
dunklen Wellen krachend am schwarzen Fels brachen. Ihr Blick wanderte hinauf und stoppte
erst, als sie in den schwarzen Himmel sah. Alles hier war schwarz und düster. Immer noch
liefen die Tränen über ihr Gesicht. Ein Gesicht, das jedem hätte gehören können und doch war
es so einzigartig, wie das einer kleinen Fee.
Auf einmal blies ein starker Wind. Das Haar des Mädchens wirbelte durcheinander. Die
Tränen wurden vom Wind davon getragen. Die 15 Jährige schloss die Augen. Sie lauschte dem
Heulen des Windes.
Doch mit einem Mal war alles still. Das Krachen der brechenden Wellen war verstummt und
auch der Wind hatte sich zur Ruhe gelegt. Diese unendliche Stille hatte etwas Beruhigendes
und doch verriet sie, dass bald etwas geschehen würde. Doch was, lag wie so vieles noch im
Dunkeln. Es würde erst zutage treten, wenn die Zeit dafür reif war.
Langsam öffnete sie die Augen wieder und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre
Augen wurden immer größer. Ein Engel schwebte vor ihr. Oder war es doch ein Dämon?
Die
Flügel dieses Wesens waren pechschwarz. Sie glitzerten durch die vielen tausend
Regentropfen, die in den Federn gefangen waren. Die Augen des Engels wirkten eiskalt, aber
gleichzeitig strahlten sie dem Mädchen eine ungebändigte Güte entgegen. Auch sie waren
tiefschwarz und sie spiegelte sich darin. Eigentlich war alles an diesen Geschöpf schwarz. Bis auf seine Haut, die beinahe weiß war und fahl und alt wirkte.
Der Engel lächelte leicht. Es
war ein gefährliches Lächeln, das alles und jeden in seinen Bann zog. Und doch schien dieser
Bann nicht auf das Mädchen zu wirken. Sie wand ihren Blick langsam ab und fragte dann
leise: „Bist du hier um mich zurückzubringen? Falls ja kannst du gleich wieder gehen. Ich
werde niemals zurückkehren. Niemals mehr werde ich mich von ihnen herumschubsen lassen.
Ich will frei sein. Und wenn ich dafür sterben muss, so ist es mir gleich.“ Sie war während des
Sprechens immer lauter geworden und sah das schwarze Geschöpf nun fordernd an. Doch die
einzige Reaktion war, dass sein Lächeln etwas breiter wurde.
Immer noch herrschte diese gespenstige Stille und das Mädchen wagte kaum zu atmen.
„Du bist mir eine“ lachte der Engel und seine helle Stimme zerschnitt die Ruhe. "Ich werde
dich bestimmt nicht zwingen mit mir zu gehen. Denn ich will dich an einen Ort bringen, wo
du für immer frei sein kannst. Du wirst nie mehr von ihnen gejagt werden. Sie werden dich
niemals finden können.“ Das Mädchen lächelte, denn genauso einen Ort hatte sie sich
gewünscht. „Aber, “, wieder wurde die Stille von der hellen Stimme durchbrochen und
diesmal klang sie warnend, „du wirst nie mehr zurück können, wenn du mir in mein Reich
folgst. Es ist eine Reise ohne Wiederkehr. Also überlege gut, ob mit mir kommen willst.“
Das Mädchen sah den Engel unverwandt an und sagte dann mit fester und unerschütterlicher
Stimme. „Nimm mich mit. Egal wohin. Es kann nur besser dort werden.“ Der Blick der
15 Jährigen ließ keine Widerrede zu und so nickte der schwarze Engel und streckte dem
Mädchen seine Hand entgegen. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, ergriff sie mit ihrer Hand die seine.
Er breitete seine schwarzen Schwingen aus und erhob sich langsam in die Höhe. Nahm das
Mädchen mit in die neue Welt.
Das Mädchen stürzte jedoch außerhalb ihrer Fantasie die schwarzen Klippen hinunter. Ihr
Körper fiel und fiel. Immer tiefer und tiefer. Doch das Gesicht des Mädchens trug ein sanftes
Lächeln. Sie war schon längst nicht mehr hier. Ihre Seele war mit dem Engel gegangen und so
fiel die leblose Hülle in das schwarze Meer. Die Wellen verschluckten ihren Körper.
Damit er niemals gefunden werden würde.