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Ein Rädchen im Getriebe
„Gibt es etwas Schlimmeres, als unschuldig zum Tode verurteilt zu werden?“
„Lena, warum willst du schon wieder darüber diskutieren?“ fragte Max.
Sie saßen im Garten von Lenas Eltern und genossen die ersten Sonnenstrahlen, die der zuvor so kühle April ihnen bescherte. Max hoffte, dass Lena diese Ruhe, diese erste Ahnung eines Sommers nicht zerstören würde. Doch dieser Wunsch war vergebens.
„Beantworte meine Frage!“
„Ich dachte, es sei eine rhetorische Frage“, wich er aus.
„Nein, eben nicht!“ sagte Lena und nahm ihn ins Visier, als wolle sie ihn einem Verhör unterziehen.
„Stell dir vor: Der Mensch, den du liebst, wird ermordet. Und obwohl du unschuldig bist, ja, obwohl du nicht einmal ein Motiv für die Tat hast, wirst du zum Tode verurteilt. Das ist das Allerschlimmste.“
„Du spielst auf Martin Schramm an, nicht wahr?“
Kaum hatte er diese Worte gesprochen, bereute er sie zutiefst. Wieder einmal drang Lena in Bereiche ihrer Beziehung vor, die er lieber unangetastet wissen wollte.
„Ich will jetzt deine Meinung zu diesem Fall hören! Immerhin siehst du Schramm jeden Tag, und ich kann nicht glauben, dass er dir gleichgültig ist“, beharrte sie.
„Justizvollzugsbeamte müssen emotionale Distanz wahren“, antwortete er. Ihm war klar, dass er wie ein Lehrbuch klang, aber er konnte es nicht mehr zurücknehmen. Hätte er Lena doch niemals erzählt, auf welcher Station er tätig war!
„Mach dir doch nichts vor! Meinst du denn, ich merke nicht, wie sehr du darunter leidest? Denn tief in deinem Inneren weißt du genau, dass es falsch ist.“
„Lena“, begann Max.
Er musste nun sehr vorsichtig sein.
„Vielleicht ist es das. Über den Sinn oder Unsinn der Todesstrafe wird oft debattiert. Fakt ist aber, dass es sie gibt – hier und in ganz Europa.“
Sie wollte ihm das Wort abschneiden, doch mit einer Handbewegung brachte Max sie davon ab.
„Was nun Martin Schramm betrifft: Mehrere Gerichte haben ihn für schuldig befunden. Dieses Urteil wird vom Staat vollstreckt, und ich bin nur ein winziges Rädchen im Getriebe.“
„Und damit bist du zufrieden?“ stieß Lena hervor. Ihre Lippen zitterten vor Wut. Max legte eine Hand auf ihren Arm und hoffte inständig, dass Lena sie nicht wegschieben würde.
„Es ist nun einmal nicht zu ändern. Aber willst du dich nicht etwas ablenken? Heute ist doch ein so schöner Tag. Wir könnten spazieren gehen.“
Lena verzog ihren Mund zu einem bitteren Lächeln.
„Mir ist nicht nach einem Spaziergang. Vor allem dann nicht, wenn ich bedenke, was morgen geschehen wird. Und außerdem“, fuhr sie fort, „habe ich gleich einen Termin.“
Langsam nahm die Traurigkeit von Max Besitz. Es gab so vieles, was er Lena sagen wollte – und dennoch konnte er es nicht. Stumm schritt er neben ihr her, bis sie das Gartentor erreicht hatten. Auf der Straße gab er ihr einen flüchtigen Kuss.
* * * * * * * * *
Es war noch dunkel, als Max sich im Dienstzimmer ankleidete. An der Oberfläche erschien er gefasst, und doch wusste er nicht, wie er diesen Tag überstehen sollte.
„Bist du soweit?“ fragte sein Kollege Joachim.
Max nickte und folgte ihm. Unterwegs erzählte Joachim allerlei Belanglosigkeiten – das war seine Art, mit der Situation umzugehen. Und Max hörte zu, obwohl der Sinn der Worte spärlich zu ihm vordrang.
Lena hatte keine Ahnung von seinem Sondereinsatz. Er hatte sich freiwillig gemeldet.
Kaum hatten sie die Zellentür geöffnet, stand Martin Schramm vor ihnen. Sein Gesicht war leer, doch seine Augen glänzten auf beunruhigende Weise. Joachim durchsuchte ihn und legte ihm Handschellen an. Wie selbstverständlich traten sie den Weg zum Wagen an – als ginge es nur darum, Schramm in eine andere Anstalt zu verlegen. Gleichwohl würde dort die Hinrichtung vollzogen werden.
Im Wagen befanden sich zwei weitere Beamte, einer von ihnen saß am Steuer. Nachdem sie das Tor passiert hatten, fuhren sie weiter, ohne auf die Demonstranten hinter der Absperrung zu achten. Nicht nur Lena glaubte an Martin Schramms Unschuld. Immer wieder hatte er beteuert, dass nicht er seine Freundin Ella ermordet habe. Max hatte es selbst mit angehört.
Die Autobahn war um diese Uhrzeit noch wenig befahren. Der bewölkte Himmel gab das Tageslicht nur zögerlich frei. Max fühlte, wie die Anspannung seinen Körper gefangen hielt. Er war sich jeder Minute bewusst. Nach etwa einer halben Stunde brach Schramm das Schweigen. „Ich…, ich muss mal“, sagte er mit gesenktem Kopf.
„Die Fahrt wird nicht unterbrochen!“ antwortete Max´ Vordermann.
Als Max das Wort ergriff, kostete ihm dies viel Kraft. „Es dauert doch noch über eine Stunde, bis wir angekommen sind. Wenn er im Auto… Ich meine, wir sollten anhalten.“
Zu seiner Überraschung unterstützte Joachim seinen Vorschlag. Schließlich kamen sie überein, von der Autobahn abzufahren und einen geeigneten Ort aufzusuchen. Einer der Kollegen nahm sein Mobiltelefon zur Hand und setzte die Anstaltsleitung davon in Kenntnis, dass sich ihre Ankunft verzögern würde. Dieser Zwischenstopp sollte jedoch eine Ausnahme sein.
„Ich begleite ihn“, sagte Max.
„Bist du sicher, dass du allein klarkommst?“ flüsterte ihm Joachim zu.
Max bejahte. Er nahm Schramms rechten Arm und führte ihn von der Straße fort. Sie näherten sich einem Waldstück.
„In Sichtweite bleiben!“ rief einer der anderen.
Entschlossen wandte Max sich um. „Dieser Mensch hat immer noch seine Würde. Es ist ein Unterschied, ob ihm ein Mann zusieht oder ob es gleich vier Männer sind!“
Er konnte nur hoffen, dass dieses Argument stichhaltig war. Joachim nahm den anderen beiseite und schien mit ihm zu verhandeln. Endlich gab er Max das erlösende Zeichen. Die beiden Männer gingen tiefer in den Wald hinein. Als sie vom Wagen aus nicht mehr zu sehen waren, öffnete Max die Handschellen. Nutzlos baumelten sie an Schramms linkem Handgelenk.
„Und jetzt rennen Sie!“
Martin Schramm blickte ihn voll unsagbarer Dankbarkeit an. Dann nahm er ihn beim Wort. Max wartete, bis er zwischen den Baumstämmen verschwunden war. Wäre er gläubig gewesen, hätte er in diesem Moment gebetet. „Bitte lass ihn davonkommen… Bitte lass nicht zu, dass ihm etwas geschieht!“ Er war selbst erstaunt, dass er ansonsten völlig unbesorgt war. Ihm war, als hätte er eine Schuld abgetragen. Lena würde es vielleicht verstehen…