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Ein sauberer Schnitt
Es gibt unvermittelt auftretende Ereignisse, die ein Leben völlig verändern können und die alle vorherigen Alltagsprobleme zu Belanglosigkeiten schrumpfen lassen; William Mortensen war an diesem Tag noch genau fünf Autominuten von einem solchen Punkt entfernt, ohne auch nur das Geringste zu ahnen.
Bisher war der neunzehnte Juli genauso verlaufen, wie die vorherigen zwanzig Tage seiner Geschäftsreise, die er größtenteils im Firmenwagen verbracht hatte. Nachdem er an diesem Morgen um acht Uhr aus dem Motel bei Pond Creek ausgecheckt hatte, quälte er sich und seinen dunkelblauen Chevrolet Malibu über den Highway Nummer sechzig, der sich wie eine Eisenbahntrasse durch eine der eintönigsten Gegenden auf diesem Planeten dahin zog, durch den Norden Oklahomas. Die Landschaft war flach wie der Parkettboden eines Tanzsaales und die endlosen Maisfelder zu beiden Seiten der Straße steigerten die Monotonie ins Unerträgliche. Seit Stunden säuselte Country Musik aus dem Autoradio. Der Himmel leuchtete seit Tagen in einem Blau, so unergründlich, dass keine Wolke es gewagt hatte ihn zu beflecken.
Doch Mortensen hatte keinen Blick dafür. Der übermächtige Drang sich eine Zigarette anzuzünden überkam ihn, wie so oft an diesem Vormittag. Da er den Wagen in drei Monaten übernehmen würde, spielte es keine Rolle, ob er dann wie ein Aschenbecher stinken würde, zumal seine Frau ein eigenes Auto fuhr.
Er drückte auf den Zigarettenanzünder, fingerte eine Camel Filter aus der Packung auf dem Beifahrersitz und steckte sie sich zwischen die Lippen.
Sein Blick fiel auf sein Jackett, dass er mit der Schachtel auf den Sitz gelegt hatte. Aus der Innentasche des Futterals ragte der silberne Mont Blanc Kugelschreiber heraus, den ihm seine Frau vor zwei Jahren zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte.
„Damit Deine Geschäfte noch besser laufen“, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert.
Doch dann schob sich ein Gedanke vor diese Erinnerung, den er seit Stunden verdrängt hatte.
Er hatte seine Frau betrogen.
Zum ersten Mal, seit er Sandra vor zehn Jahren kennen gelernt hatte, war er ihr fremdgegangen und das auch noch mit irgendeiner billigen Nutte im Motel gestern Abend. Was war bloß in ihn gefahren? Wahrscheinlich war es eine Mischung aus Gewohnheit, Langeweile und Abenteuerlust gewesen. Die halbe Flasche Bourbon, die er vorher wie ein Verdurstender in sich hineingeschüttet hatte, stellte wohl lediglich den Katalysator dar. Er war zu dem Typen von der Rezeption gegangen und hatte sich von ihm ein paar Nummern aufschreiben lassen. Die Braut, die dann kam, sah nicht mal übel aus, aber wenn er ehrlich war, hatte es ihm keinen Spaß gemacht. Der Sex war kalt und mechanisch, dauernd hatte sie dabei auf seinen Reisewecker gestarrt - er hätte es ebenso gut mit einer Parkuhr treiben können. Was hatte er eigentlich erwartet? Sandra würde den Duft des billigen Parfums noch in zwanzig Jahren an ihm riechen, da war er sich sicher.
Du Vollidiot! Er biß die Zähne zusammen, bis seine Kiefermuskeln verkrampften und betrachtete sich für einen Augenblick im Rückspiegel.
Kurze blonde Haare, erste tiefere Fältchen rund um die Augen - so sehen also Typen aus, die ihre Frau betrügen ... großartig!
Die Sonne stand bereits im Zenit, als Mortensen durch das Flimmern über dem Asphalt hindurch das Ortsschild von Millford erblickte. Am Ortseingang drosselte er das Tempo seines Chevys und zog den Zigarettenanzünder aus der Halterung.
Genau in diesem Moment packte etwas sein Handgelenk - zumindest kam es ihm so vor – und eiskalte Klauen schienen sich in seinen Knöchel zu graben. Schmerzen schossen durch seinen Unterarm, als hätte ihm jemand die Hand abgeschlagen und er ließ den Anzünder fallen. Instinktiv trat er so stark auf die Bremse, dass die Arretierung des Gurtes einrastete und ihm die Zigarette aus dem Mund fiel.
„Scheiße!“, fluchte er. Der Motor war ausgegangen, die Vollbremsung hatte ihn abgewürgt.
Weitere Flüche ausstoßend, tastete er unter seinem Sitz nach dem glühenden Anzünder und verschmorte sich zur Krönung die Daumenkuppe.
„Verdammter Mist!“
Nachdem er den Anzünder wieder zurück in seine Halterung geschoben hatte, schaute er sich um. Vor ihm erstreckte sich die Eastern Main Street, die gerade von der Mittagssonne gegrillt wurde. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, kein Fahrzeug fuhr die Straße entlang und selbst die Blätter der wenigen Bäume hingen reglos an den Ästen. Jegliches Leben schien sich in die flachen Gebäude verkrochen zu haben, die sich entlang der Straße aneinander reihten. Seine Hände zitterten.
Mach mal `ne Pause, alter Junge. Du siehst schon rosa Elefanten .
Ohne weiter zu überlegen, ließ er den Wagen an und parkte ihn hinter einem staubverkrusteten Pick-up. Er nahm die Krawatte ab, öffnete den obersten Knopf seines bügelfreien Oberhemdes, lehnte sich mit einem Seufzen zurück und starrte auf das verdreckte Heck des Wagens vor ihm.
Mortensen wollte gerade die Augen schließen, um sich etwas zu entspannen, da nahm er aus den Augenwinkeln einen kleinen Friseurladen auf der anderen Straßenseite wahr.
Keine schlechte Idee, dachte er.
Ein Haarschnitt war absolut überfällig und bis zu seinem nächsten Termin in Oklahoma City hatte er noch genügend Zeit. Wahrscheinlich bekam er da drin sogar eine Tasse Kaffee.
Bevor er sein Jackett griff, zog er den Kugelschreiber aus der Innentasche und steckte ihn in die Brusttasche seines Hemdes. Er wollte ihn wie immer direkt bei sich tragen; es war sein Ritual.
Als er den klimatisierten Wagen verließ, hatte er das Gefühl in einen Schnellkochtopf zu fallen. Bereits nach wenigen Sekunden ließ ein Schweißausbruch sein Hemd wie eine zweite Haut am Körper kleben. Die Luft schien zu sieden, kein Windhauch war zu spüren.
Mortensen warf das Jackett über die Schulter und ging auf das Gebäude mit dem Friseursalon zu. Durch die weißen Fensterrahmen und das ebenfalls weiß gestrichene Vordach, wirkte der zweigeschossige Backsteinbau, wie ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit, als noch Postkutschen durch diese Gegend fuhren. Die Gardinen im Schaufenster entsprachen auch nicht mehr den neuesten Modetrends, aber das war Mortensen egal. Seinen zeitlosen Kurzhaarschnitt sollten sie nicht einmal hier verpfuschen können.
Sam Turners Frisiersalon stand in großen Buchstaben auf der Fensterscheibe. Und darunter, etwas kleiner:
Für einen sauberen Schnitt.
Der Laden hatte geöffnet. Als er eintrat, ertönte ein Glockenspiel aus Metallzylindern oberhalb der Tür und der Geruch von Haarwasser strömte ihm entgegen. So wie es aussah, war er der einzige Kunde. Mitten im Raum stand ein hagerer Mann in einem schneeweißen Friseurkittel und fegte den Boden. Mortensen schätzte ihn auf Mitte sechzig. Seine dünnen, grauen Haare hatte er mit einem präzisen Seitenscheitel geordnet und als Mortensen die Tür hinter sich schloss, blickte er ihn aus Augen an, die so stumpf und grau waren, wie seine Haare.
„Guten Tag. Wie ich sehe, braucht da jemand einen sauberen Schnitt“, sagte er und lächelte. Seine Zähne sahen aus wie Bernsteine.
Mortensen starrte den Mann eine Sekunde lang an. Irgendetwas irritierte ihn an dessen Erscheinung. Es war seine Stimme, sie schien seinen Mund etwas zeitversetzt zu verlassen, so als wäre er sehr weit entfernt und man würde ihn durch ein Fernglas beobachten.
Du hast definitiv zu viel Sonne abbekommen.
„Guten Tag. Sie haben Recht, ich bräuchte dringend einen Haarschnitt. Ließe sich das schnell machen?“
„Sicher doch. Wie sie sehen, sind Sie momentan der einzige Kunde. Wir können gleich anfangen, Mister ...“
„Mortensen.“
„Sehr erfreut, Mister Mortensen. Ich bin Sam Turner. Nehmen Sie doch bitte schon mal Platz, ich bringe nur schnell den Besen nach nebenan.“
Turner verschwand in einem Nebenraum und Mortensen konnte hören, wie er sich dort mit jemandem unterhielt, einer Frau.
Er schaute sich um, seine Augen gewöhnten sich langsam an das schwächere Licht im Laden. Hätte es einen Wettbewerb um den schönsten Retro-Frisiersalon gegeben, in der Kategorie sechziger Jahre hätte dieser mit Sicherheit den ersten Preis gewonnen. Die Wände waren übersäht mit Schwarzweißfotos alter Baseball-Idole aus den sechziger Jahren. An der rechten Wand stand ein Nierentisch mit dazu passenden Plastikstühlen und daneben war ein altes Holzregal aufgestellt, in dem Shampoos, Seifen und Haarwasserflaschen aufgereiht waren. Doch das echte Highlight erblickte Mortensen an der gegenüberliegenden Wand mit einem durchgehenden Spiegel und einer Ablage darunter. Drei hydraulisch verstellbare Frisiersessel standen davor, die mit ihren roten Lederbezügen und den verchromten Metallteilen reine Nostalgie verströmten. Mit an Stangen befestigten Leinentüchern konnte man die drei Stühle jeweils vom Raum abtrennen. Mortensen konnte nur zwei der Sessel sehen, denn der rechte Platz war mit den Leinentüchern umschlossen, obwohl sich anscheinend niemand dahinter befand.
Er hängte sein Jackett an einen Wandhaken, nahm auf dem mittleren Sessel Platz und betrachtete sich in dem großen Spiegel.
Du siehst ziemlich Scheiße aus mein Lieber. Und die Zigaretten hast Du auch im Auto vergessen, gratuliere!
Im Spiegel sah er, dass Turner im Durchgang zu den hinteren Räumen aufgetaucht war.
„Meine Frau fragt, ob Sie eine Tasse frischen Kaffee haben möchten“, sagte er.
„Oh ja, sehr gerne, danke“, erwiderte Mortensen. Kaffee war genau das, was er jetzt brauchte.
Er entdeckte einen Stapel Visitenkarten auf der Ablage vor dem Spiegel und nahm sich eine davon. Auf dem vergilbten Karton stand in schwarzen Buchstaben dasselbe, wie draußen auf der Schaufensterscheibe. Sam Turner Frisiersalon - Für einen sauberen Schnitt. Darunter waren zusätzlich noch die Adresse und die Telefonnummer aufgeführt. Er drehte die Karte um - und hätte sie beinahe fallen gelassen. Dort hatte jemand etwas hingeschmiert, Worte, so rot wie Blut:
Du hast Deine Frau betrogen, Billy Boy! Das macht man nicht!
Er starrte wie versteinert auf die Buchstaben, unfähig klar zu denken, während er das Hämmern seines Herzens bis in die Schläfen hinauf spürte. Die Schrift war noch feucht.
Er zuckte zusammen, als ein Luftzug seinen Nacken traf und ihm einen Schauer über den Rücken jagte. Der Friseur stand plötzlich direkt hinter ihm - Mortensen hatte ihn überhaupt nicht kommen hören.
„Oh, habe ich sie erschreckt?“, fragte Turner. „Tut mir Leid, das wollte ich nicht.“
„Schon gut“, erwiderte Mortensen. „Normalerweise bin ich nicht so schreckhaft.“ Er spürte, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten und seine Hände wieder zu zittern begannen. Er überwand sich dazu, noch einmal auf die Visitenkarte zu schauen - die rote Schrift war verschwunden.
Mein Gott, was ist bloß los mit Dir? Reiß Dich endlich zusammen.
„Geht es ihnen nicht gut?“, fragte Turner.
„Danke, es ist alles in Ordnung. Habe wohl heute etwas zu viel Sonne abgekriegt“, erwiderte Mortensen.
Er legte die Karte wieder auf den Stapel zurück, als ob nichts gewesen wäre.
„Na gut, dann fangen wir mal an. Wie soll’s denn werden?“
„Die Frisur soll so bleiben, wie sie ist, nur insgesamt etwas kürzen, bitte.“
„Alles klar.“ Turner nahm einen weißen Umhang, der zusammengefaltet auf der Ablage lag, und legte ihn Mortensen an. Als er die Schnüre in seinem Nacken zusammenband, bekam Mortensen von den kalten Fingern des Friseurs eine Gänsehaut.
Turner träufelte etwas Haarwasser auf Mortensens Kopfhaut und begann es mit langsamen Bewegungen einzumassieren. Mortensen verfolgte die Prozedur im Spiegel. Alkoholdämpfe drangen ihm in die Nase und für einen Moment musste er gegen einen Niesreiz ankämpfen.
„Sie sind nicht von hier, Mister Mortensen?“, fragte Turner.
Die Stimme und die Mundbewegungen waren jetzt synchron.
„Nein, ich bin auf der Durchreise. Ich vertrete eine Firma aus Texas, die Spezialbohrkronen für die Erdölindustrie herstellt. Mein Zuständigkeitsbereich ist Oklahoma“, erwiderte Mortensen.
„Interessant. Und wo geht es als Nächstes hin, wenn ich fragen darf?“
„Ich werde heute noch in Richtung Normans Valley fahren und von dort, über die Interstate, nach Oklahoma City. Habe da heute Nachmittag noch einen wichtigen Termin und danach geht’s ab nach Hause, Richtung Süden.“
„Dann wohnen Sie in Texas?“
Mortensen stellte fest, dass die Kuppen von Turners knöchrigen Fingern denselben Gelbton aufwiesen wie seine Zähne; auch ein Raucher also.
„Ja, ich wohne mit meiner Familie in Dallas“, sagte er.
„Familie ... ah wie nett. Wie viele Kinder haben Sie denn?“
„Einen Sohn, Joshua. Er ist gerade sieben geworden.“
Turner schwieg. Er hatte mit dem Massieren aufgehört und zog einen Hornkamm und eine Schere aus der Brusttasche seines Kittels.
„Wissen Sie“, unterbrach er das kurze Schweigen. „Wir hatten auch einen Sohn, meine erste Frau Mary und ich ... er ist mit neunzehn gestorben.“
Er begann mit routinierten Griffen Mortensens Haare zu schneiden.
Schnipp, schnipp.
„Oh das tut mir sehr Leid, Mister Turner. Ich wollte nicht ...“
„Schon gut, ich habe ja schließlich damit angefangen. Ist auch schon lange her. Er hieß Norman. Auf dem Highway ist ihm ein Vorderreifen geplatzt. Er verlor die Kontrolle über den Wagen und stieß frontal mit einem entgegenkommenden Truck zusammen. Wenigstens musste er nicht leiden ...“
Plötzlich fing Turners Atem an zu rasseln und seine Stimme klang so schrill wie ein Zahnarztbohrer, dessen Getriebe kurz davor war zu überhitzen.
„... aber er ist tot, obwohl ER niemanden betrogen hat, so wie Du Billy Boy, Du kleiner Nuttenficker!“
Mortensen stockte der Atem, während der Friseur weiter seine Haare Schnitt, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen.
Schnipp, schnipp.
„Wie bitte?“, fragte Mortensen mit zitternder Stimme.
„Was?“ Turners Stimme klang wieder normal. „Ich sagte, dass es schon merkwürdige Zufälle gibt. Da fährt man auf einem kaum befahrenen Highway und ausgerechnet in dem Moment, wo einem der Vorderreifen platzt, kommt einem ein Truck entgegen. Glauben sie an Schicksal, Mister Mortensen?“
Schnipp, schnipp.
„Nein, eher nicht.“
Mortensen Hände krampften sich um die Stuhllehne. Hatte Turner tatsächlich das gesagt, was er gehört hatte - oder hatte er nur geglaubt es zu hören? Er wischte sich mit dem Umhang Schweiß von der Stirn, der so kalt war wie Morgentau.
„Ah, da kommt ja meine Frau mit dem Kaffee“, hörte er Turners Stimme durch das Rauschen in seinen Ohren.
„Darf ich vorstellen, Patricia, meine zweite Frau. Patricia, das ist Mister Mortensen aus Dallas.“
„Oh, Dallas, von so weit weg. Guten Tag Mister Mortensen.“
Neben Turner erschien eine Frau im Spiegel, die deutlich jünger war als der Friseur; Mortensen schätzte sie auf Anfang vierzig. Sie hatte blonde, hochgesteckte Haare und feine Gesichtszüge. Mortensen fand, dass sie trotz ihrer ersten Fältchen immer noch sehr reizvoll aussah. Sie trug eine weiße Bluse, die am obersten Knopf geöffnet war, wodurch eine Kette aus roten Granatsteinen zum Vorschein kam. Sie reichte ihm eine Tasse Kaffee mit Untersetzer und ein kleines Milchkännchen über die Schulter hinweg. Er nahm es entgegen und stellte es auf die Ablage vor dem Spiegel. Der Kaffee duftete herrlich, was er von Patricias Parfum allerdings nicht behaupten konnte. Es roch so süß, als hätte jemand Ahornsirup im Raum zerstäubt.
„Vielen Dank“, sagte er.
„Gern geschehen. Wenn sie noch einen Wunsch haben, sagen Sie einfach meinem Mann bescheid“, erwiderte sie und verschwand aus Mortensens Sichtfeld.
Turner, der das Schneiden der Haare kurz unterbrochen hatte, setzte seine Arbeit nun fort, ohne ein Wort zu sagen.
Minutenlang redete niemand, worüber Mortensen sehr dankbar war. Dann hielt Turner kurz inne, musterte mit einem prüfenden Blick das Ergebnis seiner Bemühungen, steckte Schere und Kamm zurück in die Brusttasche und holte einen runden Spiegel, den er hinter Mortenses Kopf hielt.
„Und? Soweit zufrieden?“, fragte er, wobei er den Spiegel hin und her schwenkte.
„Ja, sehr gut, danke.“
„Gern geschehen“, erwiderte Turner und legte den Spiegel zur Seite. „Noch einen Wunsch? Eine Rasur vielleicht?“
Mortensen beugte sich etwas nach vorne. „Ich werde jetzt erst einmal einen Schluck von dem Kaffee kosten, bevor er kalt wird.“
„Nur zu“, antwortete Turner.
Mortensen goss sich etwas Milch in den Kaffee, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Die Flüssigkeit in dem Kännchen war nicht mehr weiß, sie war dottergelb und zähflüssig – es war Eiter. Ein großer Klumpen platschte in die Tasse, wo der Kaffee dickem Blut gewichen war, das so aussah wie Pflaumenmus. Fäulnisgestank stieg Mortensen in die Nase und er musste einen aufkommenden Brechreiz unterdrücken. Er wollte aufstehen, aus dem Laden rennen, seine Muskeln waren angespannt, zum Sprung bereit ... doch als er wieder zu der Tasse vor sich schaute, dampfte in ihr nichts weiter als duftender Kaffee mit einem Schuss Milch.
„Mister Mortensen, ist wirklich alles in Ordnung?“, fragte Turner mit besorgter Stimme.
Mortensen ließ sich in den Stuhl zurücksinken, für einen Moment drehte sich alles vor seinen Augen.
„Ja, alles ok. Ich bin momentan nur etwas überarbeitet.“
„Wissen Sie, ich will nicht indiskret sein“, sagte Turner. „Aber ich glaube, Sie könnten eine Rasur gut gebrauchen.“
Mortensen überlegte kurz, doch es bereitete ihm Mühe, sich zu konzentrieren. Einerseits stimmte es natürlich. Sein Rasierapparat war am letzten Abend in die ewigen Jagdgründe aufgestiegen und was nützte ihm ein frischer Haarschnitt in Verbindung mit einem Dreitagebart. Andererseits sagte ihm ein unbestimmtes Gefühl, dass es das Beste wäre, sofort aufzustehen, zu zahlen und den Laden zu verlassen. Er wischte die Zweifel beiseite, wie Krümel auf einer Tischplatte.
„Ja, eine Rasur könnte nicht schaden. Fangen Sie an“, sagte er.
Turner stellte daraufhin die Stuhllehne schräg nach hinten, sodass Mortensen nur noch die Decke sah, wenn er geradeaus blickte. Dann bereitete der Friseur etwas Rasierschaum in einer Schale vor und schmierte ihn Mortensen ins Gesicht. Danach zog er ein Rasiermesser mit einem Horngriff aus der Brusttasche seines Kittels, klappte es auf und begann damit, die Klinge mit langsamen Abwärtsbewegungen über Mortensens Wange zu ziehen. Es hörte sich so an, als würde man heruntergefallene Fleischklumpen, von den Fliesen eines Küchenboden abziehen.
Schlirb, schlirb.
Turner strich das Messer am Umhang ab, der seinen Kunden wie ein Leichentuch bedeckte.
Mortensens stellte erleichtert fest, dass er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte.
Na also, ist doch alles in Ordnung. Du bist etwas überspannt, ok. Man verpasst Dir gerade eine Rasur, danach wirst Du aufstehen, zahlen, Dich bedanken und ganz entspannt aus dem Laden schlendern.
„Wissen Sie“, fing Turner plötzlich an. „Mit meiner ersten Frau Mary war ich sehr glücklich - bis zu dem Tag, als unser Norman starb. Das hat ihr das Herz gebrochen. Ein Jahr später wurde sie bereits vom Krebs aufgefressen. Ich glaube es lag daran, dass ihre Lebensenergie mit Normans Tod ausgelöscht worden war, so als hätte man das Licht einer Kerze ausgeblasen.“
„Daff tut mir fehr Leid, Mifter Turner.“ Mortensen hatte Mühe beim Sprechen nicht am Rasierschaum zu ersticken, den Turner etwas zu dick aufgetragen hatte.
Schlirb, schlirb, machte das Messer.
„Patricia lernte ich sieben Jahre später auf der Geburtstagsfeier eines Freundes kennen. Sie ist zwar deutlich jünger als ich, wie Sie wahrscheinlich bemerkt haben, aber wir sind auf unsere Weise glücklich.“
„Freut mich für fie.“
„Wissen Sie, das Dumme ist nur - sie hat mich monatelang betrogen.“
Mortensen spürte, wie sämtliche Muskeln seines Körpers verkrampften. Und plötzlich hörte er hinter sich den Zahnarztbohrer wieder kreischen. Doch diesmal krallte sich Turners knochige Hand in seinen Nacken, wie die Klaue eines Adlers.
„Dieses kleine Miststück, hat mich einfach betrogen, hat sich monatelang von diesem jungen Filialleiter aus der Bank ficken lassen und glaubt auch noch ich kriege davon nichts mit ... ha.“
Die Stimme wurde immer lauter und sägte sich in Mortensens Trommelfelle. Er traute sich nicht, sich zu bewegen und hielt den Atem an.
Schlirb, schlirb. Das Messer war jetzt an seiner Halsschlagader.
„Aber mit dem Betrügen kennst Du dich ja aus Billy Boy, was? Ist doch auch Dein Ding. Treibst es hier mit einer Nutte, während Deine Frau und dein Sohn zu Hause auf dich warten, Du kleiner Nuttenficker.“
Turners Atem stank jetzt derartig, als würde ein Hering in seinem Rachen verrotten. Mortensen wurde für einen Moment schwarz vor Augen.
„Aber dafür gibt’s ja mich“, schnarrte Turner weiter. „Ich verpasse Abschaum wie Dir nen sauberen Schnitt ... ha. Der Stecher meiner Frau kann ein Lied davon singen, was Jonny Boy?“
Während Turner die letzten Worte sprach, riss er den Leinenvorhang zur Seite, der bis dahin den rechten Sessel verdeckt hatte und drehte mit seiner Klaue Mortensens Kopf in diese Richtung.
„Darf ich vorstellen? John Baker. Der Stecher meiner Frau.“
In dem nach hinten geklappten Sessel erblickte Mortensen die Überreste eines Mannes, der dort schon seit Wochen gelegen haben musste. Zusammen mit einem Schwall süßen Verwesungsgestanks drang ein Schwarm Schmeißfliegen hinter dem Vorhang hervor. Auf dem Leichnam und unter dem Sessel, sah Mortensen Hunderte von Maden wimmeln. Decke, Boden, Spiegel und die Leinentücher, waren mit Blut bespritzt, das schon seit langem geronnen war. Das Fleisch von John Bakers Gesicht sah aus wie Teer und an einigen Stellen trat der Schädelknochen gelb hervor. Augenhöhlen starrten ihn an, in denen die Augäpfel zusammengefallen waren, wie Weintrauben, die zu lange in der Sonne gelegen hatten. Mortensens Blick trübte sich, doch die klaffende Wunde in der Kehle der Leiche, schwarz und tief, wie der Schlund zur Hölle, war nicht zu übersehen.
Mortensen übergab sich direkt neben seinen Sessel.
„Aber, aber“, kreischte Turner. „Haben wir etwa einen empfindlichen Magen? Nicht so schlimm Billy Boy. War meiner Schlampe übrigens nicht lange böse, hättest Du nicht gedacht, was? Habe ihr sogar ein schönes Geschenk gemacht.“
Er drückte Mortensens Kopf etwas nach vorne, sodass er in den Spiegel schauen konnte. Mortensen versuchte durch den Nebel, der seinen Blick verschleierte etwas zu erkennen.
„Pat zeige doch Mister Mortensen, was ich Dir Schönes geschenkt habe.“
Patricia Turner stand plötzlich neben ihrem Mann. Ihre vorher weiße Bluse war bis zum Gürtel mit Blut getränkt und an der Stelle, wo eben noch die Granatkette glitzerte, klaffte jetzt ein tiefer Schnitt von einem Ohr zum anderen, aus dem unablässig Blut hervorquoll. Ihre Augen waren so milchig wie Kieselsteine.
„Na, ist das nicht ein sauberer Schnitt, was Billy Boy?“, schnarrte Turner.
Auch der Friseur hatte sich verändert. Sein Kittel war mit Blut besudelt, und seine Gesichtshaut hatte das Grau seiner Haare angenommen. Dort wo sich vorher sein rechtes Auge befand, gähnte jetzt das Einschussloch einer großkalibrigen Waffe. Der Hinterkopf schien zu fehlen, denn Mortensen konnte durch das Loch hindurch die hintere Wand erkennen. Turner hielt das Rasiermesser jetzt direkt an Mortensens Kehle, während er mit der anderen Hand seinen Nacken wie in einem Schraubstock fest hielt.
„So Billy Boy, nun zu uns. Ich glaube es ist jetzt an der Zeit DIR einen sauberen Schnitt zu verpassen, was?“
Mortensen wusste nicht, ob es purer Überlebensinstinkt war oder irgendetwas anderes. Doch zu seinem eigenen Erstaunen löste sich seine Schockstarre und in der finsteren Leere, die sich in seinem Kopf ausgebreitet hatte, erschien ein Gegenstand, strahlend hell, wie ein Leuchtturm in einer Orkannacht. Es war der Kugelschreiber in seiner Brusttasche. Es blieben ihm nur noch Sekundenbruchteile. Mit einer Bewegung zog er den Kugelschreiber unter dem Umhang hervor und wuchtete ihn über seine Schulter hinweg in Turners verbliebenes Auge. Es ertönte ein Geräusch, als hätte jemand einen Fünf-Zoll-Nagel in einen faulenden Kürbis gerammt. Turner ließ das Messer fallen und taumelte nach hinten, schrie aber nicht. Sehen konnte er jetzt jedenfalls nichts mehr.
Mortensen sprang auf, stieß Patricia Turner zur Seite, die immer noch da stand, wie eine Schaufensterpuppe und rannte zur Tür. Sie war verschlossen.
„He, Billy Boy!“, hörte er Turner kreischen. „Nicht abhauen, ich muss Dir doch noch Deinen Schnitt verpassen.“
Mortensen drehte sich nicht um, hörte aber, wie der Friseur von hinten auf ihn zu getaumelt kam und dabei mit seinem Messer wild die Luft zerschnitt.
Zwusch, zwusch.
Stimmen drangen plötzlich von draußen in den Laden, doch Mortensen konnte niemanden sehen; die Straße schien immer noch menschenleer zu sein. Schläge dröhnten jetzt von außen gegen die Tür. Hinter ihm kam Turner immer näher.
Zwusch, zwusch. Das Messer sauste nur Zentimeter an seinen Rücken vorbei.
„Ich krieg’ Dich Billy Boy!“
Mortensen schmiss sich gegen die Scheibe der Tür, doch sie zerbrach nicht. Dann zog er mit all seiner Kraft an der Klinke. Mit einem Mal gab die Tür nach und öffnete sich unter lautem Knarren nach innen. Er stolperte auf die Straße – und blickte in den Lauf eines Revolvers.
„Keine Bewegung, Mister!“
Mortensen blieb wie angewurzelt stehen und hob reflexartig die Arme. Die Stimme kam von einem Mann in Polizeiuniform, dessen Gesichtszüge indianische Vorfahren verrieten und der immer noch mit beiden Händen einen Revolver auf ihn gerichtet hatte. Etwas abseits standen ungefähr zwanzig Leute, die das Ganze aufmerksam verfolgten, einige tuschelten miteinander.
„Helfen Sie mir, der Kerl will mich umbringen!“, schrie Mortensen.
„Welcher Kerl?“, fragte der Polizist und schaute an ihm vorbei.
„Na der!“ Mortensen zeigte mit einem Finger nach hinten, ohne sich umzudrehen. „Der Friseur ... Turner!“
„Wollen Sie mich verscheißern, Mann? Da ist niemand und selbst wenn, Turner ganz bestimmt nicht, der ist seit Jahren tot. Haben Sie da drin so geschrien?“
„Nein, ich sag’ doch, es war ...“ Mortensen brach den Satz ab, als er das Funkeln in den Augen des Polizisten registrierte.
„Wie ist Ihr Name, Mister?“
„William M ... Mortensen.“
„Ok, Sie können Ihre Arme wieder runternehmen. Ich geh’ rein und schau mir das Mal an“, sagte der Polizist. „Sean, Du passt auf, dass Mister Mortensen uns nicht abhanden kommt.“
Mortensen ließ die Arme sinken und drehte sich zitternd um. Erst jetzt bemerkte er einen zweiten Polizisten, der mit einer Brechstange in der Hand direkt an der Tür stand. Er war also dafür verantwortlich, dass sie plötzlich doch noch aufgegangen war. Der Polizist warf ihm einen entschlossenen Blick zu, wobei er die andere Hand auf den Holster an seinem Gürtel gelegt hatte. Mortensen fasste sich unbewusst an sein Kinn - der Rasierschaum war verschwunden und als er an sich herabschaute, stellte er fest, dass der Umhang ebenfalls nicht mehr da war. Ihm wurde schwindelig und er musste sich darauf konzentrieren, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Erst jetzt erfasste er das Gebäude, das vor ihm aufragte und zuckte zusammen - er erkannte es nicht wieder. Die Fenster waren alle eingeschlagen und mit Bretten vernagelt. Die Tür war, bevor sie aufgebrochen wurde, auch verbarrikadiert gewesen, denn auf dem Türabsatz lag ein Haufen Bretter. Die weiße Farbe des Vordachs, in dem schon etliche Bohlen fehlten, war größtenteils abgeblättert.
Der erste Polizist erschein wieder in der Türöffnung und hielt Mortensens Jackett in der Hand.
„Ist das Ihres, Mister?“, fragte er und ging auf Mortensen zu.
„Ja danke. Habe ich wohl vergessen.“
„Also außer einem Haufen Spinnen und ein paar Mäusen ist da drin seit Jahren niemand mehr gewesen. Der Polizist musterte ihn mit einem durchdringenden Blick. „Gehen wir kurz in mein Büro, ich habe noch einige Fragen an Sie. Ist hier gleich um die Ecke.“
„Lässt sich wohl nicht vermeiden“, sagte Mortensen.
Der Polizist besprach noch kurz etwas mit seinem Kollegen, dann machten sich er und Mortensen auf den Weg. Sie gingen nebeneinander die Eastern Main Street entlang und der Polizist stellte sich Mortensen als Sheriff Cummings vor.
Cummings berichtete von der Tragödie der Turners, die sich zehn Jahre vorher zugetragen hatte. Davon wie Turner dem Liebhaber seiner Frau, einem allein stehenden Bänker, während einer Rasur die Kehle durchgeschnitten hatte. Turner hätte daraufhin erzählt, die beiden seien miteinander durchgebrannt, daher wurde die Suche nach dem Bänker bald eingestellt. Cummings schilderte, wie Turner vorgegeben hatte zu verreisen, in Wirklichkeit aber seine Frau wochenlang in der Wohnung eingesperrt hielt, wo sie sich jeden Tag den Verfall ihres Exliebhabers anschauen musste. Mortensen wollte wissen, woher man das wusste und Cummings sagte ihm, man hätte das aus Turners Abschiedsbrief erfahren. Wochen später fand man Turner und seine Frau tot in ihrem Wagen in der Nähe von Millford. Ihr hatte er die Kehle durchgeschnitten und sich selbst hatte er danach mit einer Armeepistole das Leben genommen.
„Wie sind Sie überhaupt in das Haus reingekommen? Das Gebäude ist seit fünf Jahren völlig verrammelt“, wollte Cummings abschließend wissen.
„Das werde ich Ihnen in Ihrem Büro erzählen, erstmal brauche ich einen Stuhl, wenn Sie nichts dagegen haben.“
Mortensen betrachtete sein Jackett, das über seinen Unterarm hing. Es hatte die Ereignisse im Frisiersalon gut überstanden. Dann fiel sein Blick auf das Futteral und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Der silberne Mont Blanc Kugelschreiber ragte aus der Innentasche und glänzte in der Sonne. Mortensen zog ihn langsam heraus, ohne dass Cummings etwas davon bemerkte. Das untere Ende war mit geronnenem Blut verkrustet und am Klipp war eine von Turners vergilbten Visitenkarten befestigt. Er zog sie ab, drehte sie um und irgendwie ahnte er schon was er zu sehen bekommen würde.
Hallo Billy Boy! Den sauberen Schnitt verpasse ich dir noch!
ENDE