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Ein schöner Mensch

CoK

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24.08.2020
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Ein schöner Mensch

Aus dem Lautsprecher trällert Weihnachtsmusik. Sie passt nicht zu dem grauen Himmel und den Regenwolken, die betongrau über den Dächern der Altstadt hängen. In meinem Kassenhäuschen sitze ich, über ein Buch gebeugt, und warte auf Kundschaft.

„Warum fahren keine Kinder mit dem Karussell?“
Ein kleiner Junge drückt seine Nase gegen die Scheibe, die uns trennt, und sein Atem malt flüchtige Wolken auf das Glas.

Dunkle Kinderaugen mustern mich neugierig. Ich blicke auf sein Haar, das widerspenstig absteht wie die Samen eines Löwenzahns, und suche nach Worten, die ein Kind versteht.
Ohne über Inflation, geburtenschwache Jahrgänge oder den ungünstigen Stellplatz zu sprechen, sage ich schließlich: „Weil heute keine Kinder da sind. Aber du könntest fahren, wenn du magst.“
„Mhmm.“ Er schüttelt den Kopf. „Meine Mama hat gesagt, ich darf erst am Wochenende Karussell fahren, wenn die Oma kommt.“ Er zeigt auf das Feuerwehrauto. „Dann mit dem da!“
Bevor ich etwas erwidern kann, läuft er davon. Ich sehe ihm nach, bis er in einer Seitenstraße verschwindet. Eine Weile beobachte ich die Menschen, die hastig, den Kopf gesenkt, über das nasse Kopfsteinpflaster eilen. Vielleicht sollte ich mich auch bewegen. Ich lege das Buch beiseite, trete aus der engen Kasse und strecke mich. Vom vielen Sitzen bin ich ganz steif.
Mein Blick wandert die Straße hinauf zu dem Transparent, auf dem „Weihnachtsmarkt“ steht. Sicher ist dort oben mehr los, denke ich. Oder ist nach vier Wochen auch dort schon die Luft raus? Für uns gab es keinen Platz mehr – und so stehen wir hier vor dem Kaufhaus.

Während ich am Feuerwehrauto, dem Einhorn und an Paulchen Panther vorbeigehe, denke ich an die Weihnachtsmärkte, auf denen wir früher standen – mittendrin zwischen den geschmückten Holzhütten. Jedes Adventswochenende fuhren wir in eine andere Stadt. Noch vor Morgengrauen kratzten wir in Eile die Scheiben des Jeeps frei und hofften, dass das Streufahrzeug vor uns unterwegs war. Der Anhänger mit dem Karussell wog über zwei Tonnen – wenn der auf glatter Fahrbahn ins Rutschen kam … Ich schüttele den Kopf bei der Erinnerung.

Oft bedeckte eine festgefrorene Eisschicht die Plane des Anhängers. Wir plagten uns, sie herunterzuziehen, während dicke Eisplatten scheppernd auf die Straße fielen – manchmal auch auf unsere Köpfe. Damals besaßen wir ein Märchenkarussell mit Pferden und Kutschen. Die Front war bunt bemalt, mit Motiven der Gebrüder Grimm: Hänsel und Gretel, Schneewittchen … Auf dem Anhänger waren vier mal vier Pferde und zwei Kutschen montiert, die mein Mann und ich mühsam herunterluden, um sie anschließend an langen Eisenstangen aufzuhängen.

Einmal hatte ich meine Handschuhe vergessen. Es war so kalt, dass meine Finger am Metall festfroren. Der bloße Gedanke daran lässt mich frösteln, als liefe mir ein Strahl eiskalten Wassers über den Rücken.

„Guten Tag.“
Die Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Eine ältere Dame ist stehen geblieben.
„Sie haben ein wunderschönes Karussell.“ Ihr Blick schweift über jedes Fahrzeug, verweilt bei jedem Reittier, als wolle sie alle begrüßen – oder sich verabschieden.
„Das ist nett von Ihnen“, erwidere ich lächelnd. „Es freut mich, dass es Ihnen gefällt.“
Sie nickt und ihre Stimme bekommt einen wehmütigen Klang.
„Es erinnert mich an meine Kindheit. Neunzehnhundertsiebenundvierzig war das. Wir waren Flüchtlingskinder und hatten nichts. Wenn wir auf die Kirchweih durften, haben wir das Karussell angeschoben, und als Lohn konnten wir ein paar Runden Mitfahren. Das war herrlich. Manchmal war das Karussell auch voll besetzt. Dann standen wir am Rand und haben den Kindern gewunken. Später hatte ich keine Zeit mehr. Ab meinem zwölften Lebensjahr musste ich arbeiten.“
„Dann war Ihre Kindheit wohl sehr traurig“, sage ich vorsichtig.
„Traurig?“ Sie schüttelt den Kopf, fast entrüstet. „Nein. Damals sind wir schön geworden.“
Erstaunt schaue ich sie an. Ihr Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen. Blaue Adern schimmern unter der dünnen Haut ihrer Hand, mit der sie eine graue Strähne hinters Ohr streicht.
Sie lächelt – und ihre klaren, grünen Augen mit den vielen Lachfältchen scheinen zu ahnen, was ich denke.
„Wissen Sie, damals haben wir zusammengehalten. Wenn ein Gewitter aufzog, klopften die Bauern an jede Tür. Gemeinsam brachten wir das Heu in die Scheune. Heute fragt man zuerst: ‚Was bekomme ich dafür?‘
Damals gab es Not – und trotzdem haben wir alles überstanden. Weil jeder dem anderen geholfen hat. Es gab keinen, der allein war. Wir haben füreinander gesorgt.“
Sie kramt in ihrer Tasche und hält mir einen Zwanzigeuroschein hin.
Erschrocken trete ich einen Schritt zurück und schüttle den Kopf. Ich will keine Almosen.
„Bitte, nehmen Sie“, sagt sie leise. „Wenn ein Kind kein Geld hat, um mit Ihrem Karussell zu fahren …“
Ihre Augen leuchten – so hell wie die der Kinder, wenn sie auf dem Karussell ihre Runden drehen.

Und so nehme ich den Schein.

 

Hallo Cok!

Eine nette, einfühlsame, fast würde ich Weihnachtsgeschichte dazu sagen, die du hier präsentierst. Hat mir trotz der Kürze gut gefallen. Conclusio: Es gibt halt noch gute, empathische Menschen.

Ein kleiner Junge drückt seine Nase gegen die Scheibe meines Häuschens.
Seine dunklen Augen mustern mich neugierig. Ich blicke auf sein Haar, das widerspenstig absteht wie die Samen eines Löwenzahns, und suche nach Worten, die ein Kind versteht.
Alt: ... meines Häuschens. Dunkle Kinderaugen mustern mich neugierig.

Dann standen wir am Rand und haben den Kindern zugewunken.
winken-wank-gewunken?

„Wissen Sie, damals haben wir zusammengehalten.
Ja, damals. Als Weihnachtsmärkte noch Weihnachtsmärkte heißen durften. ;)

LG und gern gelesen. :)

 

„... Ab meinem zwölften Lebensjahr musste ich arbeiten.“

Ja ist denn schon wieder (Vor-)Weihnachtszeit?,

liebe @CoK,

zu der vor allem das „fahrende Volk“ [und wär’s direkt nebenan „daheim“] einen mächtigen Anteil seines Lebensunterhalts „erarbeiten“ muss – und sei`s quasi durch Selbstausbeutung – und das zum nahenden, uralten Wintersonnenwendenfest, mit dem die Hoffnung keimt, dass die Tage wieder „länger“ werden i. S. dass das Licht über die Dunkelheit siege (um zur Halbzeit das vermeintlich ewige Spiel zu wiederholen).

Aber warum verwendestu hier

Für uns gab es keinen Platz mehr – und so stehen wir hier, vor dem Kaufhaus.
ein Komma?

Weg mit ihm!

Und hier

Während ich am Feuerwehrauto, dem Einhorn und an Paulchen Panther vorbeigehe, denke ich an die Weihnachtsmärkte, auf denen wir früher standen – mittendrin zwischen den geschmückten Holzhütten.
ist ein … „gestanden haben“ genau so vorbei wie ein früheres standen –
der Einheit der Zeitenfolge halber ...

Gern gelessen vom

Friedel

 

Hallo @Manuela K.,

lieben Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, meinen Text zu lesen.

Eine nette, einfühlsame, fast würde ich Weihnachtsgeschichte dazu sagen, die du hier präsentierst. Hat mir trotz der Kürze gut gefallen
Das freut mich, freut :bounce:mich riesig.
Alt: ... meines Häuschens. Dunkle Kinderaugen mustern mich neugierig.
Geändert.
winken-wank-gewunken?
Dito

Herzlichen Dank für dein aufmerksames Lesen.
Ich wünsche dir eine schöne Woche
LG CoK


Lieber Friedel,

jedes Mal, wenn ich deinen Namen unter meinen Texten entdecke, freue ich mich sehr.“

Ja ist denn schon wieder (Vor-)Weihnachtszeit?,
Ich wollte den Text tatsächlich erst im Dezember einstellen, aber irgendwie hab ich das nicht so lange ausgehalten.
i. S. dass das Licht über die Dunkelheit siege (um zur Halbzeit das vermeintlich ewige Spiel zu wiederholen).
Und ich hoffe, diesem Spiel noch eine Weile beizuwohnen.
ein Komma? Weg mit ihm! Und hier
Vielleicht – nur vielleicht – wird eines Tages der Wunsch wahr, einen völlig kommafehlerfreien Text zu schreiben.

Lieber Friedel, ich wünsche dir eine wunderschöne Woche
CoK

 

Hallo @CoK

Auch mir hat deine Geschichte gut gefallen. Sie vermittelt das typische warme Weihnachtsgefühl. Wie ein Becher Glühwein, ohne dabei ins Kitschige, Sentimentale abzugleiten.
Da bekommt man ja fast Lust, auch nochmal Karussel zu fahren. Besonders mochte ich die vielen Details beim Rückblick in die Vergangenheit. Schönheit kommt von innen, hast du mit deiner Geschichte bewiesen.

Heute fragt man zuerst: ‚Was bekomme ich dafür?‘
Aber gibt es diesen Zusammenhalt heute nicht mehr?
Das muss ich doch hier mal hinterfragen? An dieser Stelle ist mir der Blick in die Vergangenheit zu sehr verklärt.

Friedel war ja schon da, aber ich habe doch noch ein, zwei Kleinigkeiten gefunden:

Während ich am Feuerwehrauto, dem Einhorn und an Paulchen Panther vorbeigehe denke ich an die Weihnachtsmärkte,
Komma hinter vorbeigehe
Sie nickt, und ihre Stimme bekommt einen wehmütigen Klang.
Warum hier ein Komma?
Wenn wir auf die Kirchweih durften, haben wir das Karussell angeschoben, sind aufgesprungen und durften ein paar Runden mitfahren.
So redet man zwar, aber die Wortwiederholung finde ich trotzdem unschön. Könntest du sicher vermeiden.

Grüße
Sturek

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo @Sturek,
vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, meinen Text zu lesen und zu kommentieren.

Auch mir hat deine Geschichte gut gefallen. Sie vermittelt das typische warme Weihnachtsgefühl. Wie ein Becher Glühwein, ohne dabei ins Kitschige, Sentimentale abzugleiten.
Das gefällt mir.
Aber gibt es diesen Zusammenhalt heute nicht mehr?
Das muss ich doch hier mal hinterfragen? An dieser Stelle ist mir der Blick in die Vergangenheit zu sehr verklärt.
Gewiss gibt es diesen Zusammenhalt in verschiedensten Gemeinschaften – in Familien, in Glaubesgemeinschaften oder in Selbsthilfegruppen.
Doch so, wie ihn die Dame einst auf dem Dorf erfahren hat, begegne ich ihm heute kaum noch – im Gegenteil, viele Beispiele aus meinem Alltag sprechen dagegen.

Komma hinter vorbeigehe
Ja, die Kommata und ich, das ist eine komplizierte Beziehung …

So redet man zwar, aber die Wortwiederholung finde ich trotzdem unschön. Könntest du sicher vermeiden.
Habe es geändert, bin aber nicht ganz glücklich damit.

Liebe Grüße
CoK

 

Hey @CoK,

ich dachte zuerst, den Text kenne ich doch schon ... Hattest du nicht schon mal was über das Karussell geschrieben? Die Geschichte selbst kam mir dann aber nicht mehr bekannt vor.

Ich habe nicht viel zu sagen im Gepäck, hier, ein kleiner Vorschlag:

In meiner Kasse sitze ich

Vielleicht an meiner Kasse oder in meinem Kassenhäuschen?

Ansonsten nur die Rückmeldung, dass ich das gerne gelesen habe, die Atmosphäre und das unverbrauchte Setting haben mir gut gefallen. Und das Ende natürlich, die nette Geste hat mich berührt :)

Man könnte noch tiefer reingehen, der Text reißt viel an, wie hat sich das Schaustellerleben über die Jahre verändert, was ist mit dem Mann der Protagonistin, schon die Flucht und das Leben der "schönen" Dame wäre Stoff für einen Roman - aber ich finde die jetzige Form stimmig, es ist eine kurze Begegnung und man kann selbst entscheiden, was man aus solchen Begegnungen macht. Schaut man aufs Handy, überlagert sie, vergisst sie. Oder setzt man sich noch mal an den Schreibtisch, erinnert sich, schreibt eine Geschichte darüber und teilt sie. Mir gefällt zweiteres besser :shy: Danke fürs Teilen!

Bas

 

Hallo @Bas,

danke, dass du gelesen und kommentiert hast.

ich dachte zuerst, den Text kenne ich doch schon
Wow, du hast wirklich ein gutes Gedächtnis! Ich hatte den Text schon einmal in einer kürzeren und leicht abgeänderten Version als Flash Fiction gepostet, habe @dotslash dann aber gebeten, ihn wieder rauszunehmen.

Vielleicht an meiner Kasse oder in meinem Kassenhäuschen?
Gekauft
Und das Ende natürlich, die nette Geste hat mich berührt :)
Dito
Man könnte noch tiefer reingehen, der Text reißt viel an, wie hat sich das Schaustellerleben über die Jahre verändert, was ist mit dem Mann der Protagonistin, schon die Flucht und das Leben der "schönen" Dame wäre Stoff für einen Roman
Das stimmt.
Man könnte auch über die Reaktion der Kinder schreiben, die eine Karussellfahrt geschenkt bekommen, und darüber, wie schwer es Erwachsenen oft fällt, ein Geschenk anzunehmen.
Oder setzt man sich noch mal an den Schreibtisch, erinnert sich, schreibt eine Geschichte darüber und teilt sie. Mir gefällt zweiteres besser :shy: Danke fürs Teilen!
Dito :)

Liebe Grüße
CoK

 

Niedliche Weihnachtsgeschichte von Dir @CoK . Na ja, so´n Kracher wie die berühmte von Heinrich Böll nun auch wieder nicht. Ich glaube, jetzt klingeln die Glocken bei jedem, und ich muss den Titel* nicht nennen. So was müsste man mal hinkriegen. Superfreche Story. Vielleicht fehlt mir in Deiner ein bisschen der Humor. Ich traue der Sentimentalität immer nicht so richtig. Omas und ganz gerührt und so … Dem hat Euer westdeutscher Großschriftsteller, gibt doch sogar einen Preis, auch knallhart entgegengesteuert.
Du musst Dir keinen Hals machen, dass Du ein bisschen früh dran bist. Da bist Du nicht die Einzige. Ging ich doch letztens im Dunkeln mal zu Penny und in den Wohnhäusern, an denen ich vorbeilief, schon viele Fenster mit Lichterketten zugehängt. Ich kam ins Staunen. Zwei Monate vor dem Großereignis. Und da lese ich gerade, dass am ersten November in Lichtenberg schon der Weihnachtsmarkt öffnete. Was ist los? Ist diese verfrühte Festtagsstimmung vielleicht der Weltlage geschuldet. Die Leute wollen sich damit auch von den Nachrichten aus der Wirtschaft ablenken. Weihnachten ist eine Droge. Ist auch übertrieben, dass die Kinder in der Werbung schon seit Wochen Christbäume schmücken.
Gruß FK
*Ich meine natürlich „Nicht nur zur Weihnachtszeit“.

 

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