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Ein Schmetterling auf Lechners Fuß

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01.07.2006
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Ein Schmetterling auf Lechners Fuß

Lechner steigt die Treppe hoch und tritt durch die Kellertür hinaus auf den Hof. In der kalten Morgenluft dampft das Blut an seinen Fäusten. Er geht langsam zum Brunnen, wäscht sich die Hände, jeden Finger einzeln, säubert gründlich die Nägel. Heute geht nichts mehr in ihm vor. Er kann nicht daran denken, was letzte Nacht geschehen ist, noch weniger vermag er es in Worte zu fassen.

Ruhig geht er zurück ins Haus, als er in die Stube tritt, schlägt er dem Herrgott im Eck ein Kreuz, er ist auch dessen Kind, ja, er ist dessen erstes Kind, der einzige Mensch auf der Erde. Es ist alles noch da. Die Rillen des Eichentisches, über die seine Hand jetzt fährt, der gestickte Polster auf der Bettbank, da ist noch der Abdruck seines Kopfes, der schiefe, blaue Kachelofen. Lechner friert. Hinter der Ofentür wartet die weißflockige Asche, er scharrt sie aus, schiebt Holzscheite hinein, zündet mit zerknülltem Zeitungspapier unter. Das vom Waschen und anderen Dingen nasse Hemd hängt er über die Schnur, die quer durch den Raum gespannt ist. Lechner setzt sich, zieht die Tischlade auf, nimmt das Buch heraus. Hart drückt er die Buchstaben ins Papier. Name: unbekannt, Geschlecht: männlich, Alter: ca. 10 Jahre, Gewicht: 27 kg, Fleisch: 5 kg, Innereien: 1,5 kg, Blut: 2550 ml, Zähne: 28. Er besinnt sich einen Moment, dann schreibt er noch in Klammer hinzu: Schöne, blonde Locken. Das streicht er aber wieder dick aus. So einer ist er nicht.
In der Stube wird es behaglich warm. Lechner streckt sich auf der Bettbank aus, sie ist etwas zu schmal für seinen massigen Körper, aber heute hat er keine Angst hinunterzufallen, heute schläft er sofort ein.

Lechner stampft durch die Straßen, gerne würde er alles unter seinen breiten Füßen zertreten und zermalmen, bevor er es schlucken und verdauen muss, aber durch ihn hindurch muss es, er scheißt die ganze Welt schwarz, er ist eine stählerne Scheißmaschine, bald wieder alles schwarz, innen und außen, doch da springt eine Szene in sein Blickfeld, eine Szene des Lichts und der Freude:

Auf einer Bank in der Fußgängerzone sitzt eine junge Mutter und gibt ihrem Kind die Brust. Die weiße Haut leuchtet wie die Sonne und Lechner fühlt die Milch in seine eigene Brust und in seinen eigenen Mund schießen, er ist Mutter und Säugling zugleich. Brust und Kind will er verschlingen, dem Kind mit Zähnen den Bauch aufreißen, die Zunge im kleinen, rosa Beutel versenken, er ruckt auf seinen Sohlen herum. Die Mutter schickt ihm einen unbehaglichen Blick, in Lechner ziehen wieder die Ketten an und er dampft weiter. Ihre Augen sind Pfeile in seinem Rücken, durchbohren ihn, Lechner wird schlaff, aus der Stahlmaschine wird ein Batzen aus Gestank, Rotz und zu weichem Fleisch. Er reibt sich über den Asphalt, kriecht schließlich ins Auto, er, der Kretin, die Missgeburt, der Wurm, elender, elender Wurm.

Zu Hause, vor dem Spiegel über der Kommode, rückt Lechner wieder seine auseinandergefallene Visage zurecht. Jedes einzelne Härchen wird studiert, zart streicht er die feinen Linien unter seinen Augen glatt, küsst langsam mit gespitzten Lippen seinen Zeigefinger. Alles normal. Da ist nichts Böses. Er ist normal.

Während des Kochens sieht er sich eine Talkshow im Fernsehen an und beginnt zu träumen. Er denkt sich aus, welche Fragen ihm die dicke Moderatorin stellen könnte.
Ob es beim Fleisch Unterschiede im Geschmack gäbe?
Und er würde sein Gourmetgesicht aufsetzen, den Kopf ein wenig schief legen und beim „O ja“ einen jubelnden Ton anschlagen.
„Ungesund ernährte, dicke Kinder schmecken modrig, wie Karpfen aus einem tiefen Teich, Kinder, die oft Gemüse bekommen, muss man nicht viel würzen, aber …“, dabei würde er seinen Blick durchs Publikum schweifen, ihn schließlich auf der Moderatorin ruhen lassen:
„Ungeliebte Kinder, und glauben Sie mir, ich merk das schon beim Anbraten, also ungeliebte Kinder schmecken mir am besten: Ihr Fleisch ist mürbe, weich, man braucht es nur mit der Zunge zu zerdrücken, leichter Wildgeschmack.“
Den Leuten im Publikum würde der Mund offen stehen bleiben, er würde von Erfahrungen sprechen können, die sonst niemand hat, er würde lügen wie gedruckt. In Wahrheit stiehlt er nur glückliche, gesunde Kinder.
Was so ein Kinderverzehrer isst, wenn er grad kein Kind hat, will die Moderatorin wissen. Ihr Ton ist sachlich und interessiert.
„Sich selbst“, aber es ist nur ein Witz, um die Leute in der Show zum Lachen zu bringen. Und wenn das Lachen abgeebbt wäre, würde er seine Hände gemütlich übereinanderlegen.

Als Lechner sich an den Tisch setzt, blickt er wieder in den Spiegel, hinter ihm gähnt die Stube wie ein Maul, das ihn verschlingen will. Wenn er nicht frisst, wird er gefressen werden, alles besteht nur aus ineinander verschlungenen, sich verschlingenden Mündern, und er kann die Welt nur mit seinem Mund, seinen Zähnen, seiner Zunge verstehen. In glücklichen Stunden gibt es keine Grenze mehr zwischen seinem und fremdem Fleisch.

Lechner geht auf die Jagd. Einige Tage lang hat er das Schulmädchen beobachtet. Er will es frühmorgens schnappen, für dreißig Sekunden schwebt es da durch eine enge Gasse, um den Weg in die Schule abzukürzen. Ja, es schwebt, niemals berührt es die fensterlosen Wände an den Seiten und seine Füße treten sanft und behutsam auf. Dreißig Sekunden sind genug, um diese Gazelle in seine Gewalt zu bringen. Lechner kann schnell sein, wenn er will.
Er wartet im Auto, wartet auf sie, auf die hübsche Kleine, die bald um die Ecke biegen wird. Neben sich seine Waffen: eine Decke und ein breiter Streifen Klebeband. Er liebt den Ausdruck „in die Gewalt bringen“, schmeckt ihm nach, berauscht sich daran, während er ein Stück vom Klebeband zieht und es mit den Zähnen abreißt. Da kommt sie! Er wird wieder ein Kind haben! Zuerst sieht er dabei seine beiden starken Arme, die den schmalen Körper umfangen, noch unklar, ob zärtlich oder nicht, dann drückt er immer fester zu, bis er keine Bewegungen der Gliedmaßen mehr spürt, nur das Pochen des Herzens, diesen Moment kostet er aus, will das andere Fleisch in sich hineindrücken.
Lechner steigt aus dem Auto, ein schnurrendes Uhrwerk, rasch, rasch, ihr nach, dem zarten Jungtier, er findet sich in ihren huschenden Rhythmus ein, wirft einen Schatten über sie, packt sie von hinten, verklebt ihr den Mund, hebt sie hoch, dreht sie zu sich, komm, komm, komm, meine Süße, komm heim, wickelt sie vollständig in die Decke, man weiß nicht, was Lechner ist, ein besorgter Vater mit einem kranken oder verletzten Kind auf dem Weg zum Arzt? Er hält es sicher, er hält es warm. Sie ist die Frucht an seinem Baum, ihr süßer Kindergeruch steigt ihm in die Nase. Ein Feuer wird angezündet in Lechner, gerne würde er die Decke wegziehen und ihr in den Nacken beißen. Sein Motor faucht, sprüht Funken, so rasch geht Lechner, er schwankt. Hier, seht her, Groß-Lechner hat was! Sie ist meins! Und: Ich bin harmlos, ich bin nichts, ihr bemerkt mich gar nicht. Nicht so schnell, nicht auffallen, Lechner! Er wird zu einer langsam sausenden Maschine, so sehr zerreißt es ihn.

Er hätte es gleich merken müssen! Sie hat sich doch überhaupt nicht gewehrt, kein Strampeln der Beine, kein Versteifen des ganzen Körpers, wie eine Wolke ist sie in seinen Armen gewesen, nicht schlaff, sondern noch immer, ja genau, schwebend, obwohl er sie so fest gehalten hat. Er hat ihr nicht einmal: „Wennst a Ruah gibst, gschiacht da nix!“ ins Ohr flüstern müssen.
Während der ganzen Autofahrt hatte sich das Bündel auf der Rückbank nicht bewegt, er hätte es gleich merken müssen, dass mit ihr etwas nicht stimmt! Und als er sie zu Hause ausgewickelt und ihr die Daunenjacke abgestreift hatte, sie ist sein Geschenk!, da waren die Ärmel ihrer Weste bereits rot gewesen. Er riss ihr das Pflaster vom Mund, die Haut ging in Fetzen mit, das halbe Gesicht eine Wunde … Sie schrie, nein, nicht nur vor Schmerz, sie schrie ihn an:
„Du darfst das nicht, bitte nicht, fass mich nicht an!"
Er sah, dass sie außer sich war, ihre Augen riesengroß, ja, Angst war da auch, aber vor allem Wut! Wut! Ein Kind war wütend auf ihn! Auf Lechner!
Er wich zurück.
„Wos is mit dia?“
„Ich bin doch ein Schmetterlingskind! Du darfst nicht! Lass mich in Ruh!“ Sie kreischte und schluchzte, roter Speichel und Rotz mischten sich.
„A wos?“
Aber sie achtete nicht auf ihn und auf die Kälte des Kellers, knöpfte die Weste auf, zog sich vorsichtig aus, die Bluse, das Unterhemd, ihre Arme waren mit riesigen, blutigen Blasen bedeckt, auch auf der Brust hatte sie welche, kleinere.
„Du musst da sofort was drauftun, sofort, sonst entzünden die sich ganz schlimm!“ Sie flehte nicht, sie befahl.
Lechner schwieg und rührte sich nicht. Sie hatte sich von allein ausgezogen, er hatte nichts tun müssen, aber er wollte sie gar nicht mehr anfassen, ihm graute vor ihr. Ihr Fleisch wollte er nicht. Er schob sich zur Tür hinaus, verriegelte sie und ging weg.

Lechner in Not. Es strahlt durchs ganze Haus, ihre Krankheit, die Stockflecken an der Wand sehen bedrohlich aus, nicht vertraut, die Zeitungsstapel im Eck scheinen einen durchdringenden Harngeruch auszuströmen und Lechners Zehennägel sind die gekrümmten, gelben Krallen eines Tieres. Alles ist falsch. Lechner will Erlösung, er will von dem Kind erlöst werden.
Sie wird von alleine sterben. Es ist nichts zu tun. Der Keller ist dicht. Das ist der Dreigesang, den er anstimmt. Aber was ist mit seiner Zufriedenheit? Wo soll er die jetzt hernehmen? Die Bettbank wartet auf ihn, er gibt ihr einen Tritt. Vielleicht dass ihr … also das da unten … vielleicht ist das ja noch gut … kann man vielleicht noch benutzen … Was sie jetzt wohl macht? Ob sie weint? Noch blutet? Schreit? Hunger hat oder Durst? „Der Herr ist dein Hirte, dir wird nichts mangeln, er weidet dich auf einer grünen Aue …“ Der wird sich schon um sie kümmern, wie Er es für richtig hält, obwohl … wert ist sie es ja nicht! „A sou a Kretinl!“ Er könnte ein Handtuch nehmen und über ihr Gesicht breiten, während er mit ihr was macht … Lechner schleicht die Kellertreppe hinunter und horcht. Nichts zu hören. Er will nur einmal schauen, seine rechte Faust umklammert das Handtuch. Als die Tür aufschwingt … sie stinkt, nach brandigem Fleisch und Eiter. In ihre Jacke gewickelt liegt sie am Boden. Er geht zu ihr, sie hebt den Kopf. Um ihren Mund Blasen, wie riesige gelbe Pickel, und nacktes rotes Fleisch, teilweise hängt die Haut in Fetzen, das ganze Gesicht ist geschwollen und dunkel. Nur ihre Haare und ihre Augen, funkelnd von Fieber, sind noch schön. Aber es ist zu wenig, das ist Lechner zu wenig, so kann er nicht.
„Bitte“, das Sprechen mit dem geschwollenen Mund fällt ihr schwer, er hört sie kaum. „Bitte, hilf mir! Bitte, bitte, hilf mir!“
Er wartet. Ist wohl jetzt kein Prinzesschen mehr, das ihn herumkommandiert!
Plötzlich berührt sie mit der Hand seine nackten Füße.
„Bitte, hilf mir, nimm mich mit, ich hab solchen Durst, bitte, bitte, bitte! Es tut so weh!“
Vom Fuß aufwärts läuft ihm eine Gänsehaut, es ekelt ihn an bis ins Herz hinein, Lechner hebt den Arm und schlägt mit dem Handtuch auf sie ein, wie auf Ungeziefer, das man nicht berühren will, immer wieder, immer wieder.

Es war einmal ein kleiner Junge, der einer großen Königin diente und diese Königin hieß Mutter. Andere Menschen als die beiden gab es nicht in diesem Reich. Der kleine Junge war nur ein Stallbursche, ein Küchenjunge, ihr Narr, aber trotzdem kümmerte sich die Königin sehr um ihn. Für ihn zweigte sie Essen ab, das eigentlich für die Schweine bestimmt war und in einem Kübel vor sich hingärte, sie fütterte ihn mit eigener Hand, bis er nicht mehr konnte. Wenn dem Jungen kalt war, weil er sein Bettzeug nass gemacht hatte, dann wärmte sie ihm den Bauch, nein, etwas weiter unten, mit einem glühenden Schürhaken und manchmal umarmte sie ihn, gab ihm die Brust, obwohl da keine Milch mehr war, und ließ ihn in ihrem Bett schlafen.
Eines Tages wurde der Junge sehr krank und er konnte vor Schwäche nicht aufstehen. Die Königin wollte ihm helfen und zog ihn am Arm aus dem Bett, aber seine Knie knickten ein und er fiel auf den Boden. Königin Mutter bemühte sich, ihn aufzurichten, schlug ihn, bis ihr der Arm weh tat, er griff nach ihren Füßen, aber es half nichts, sie musste den Faulpelz auf dem kalten Boden liegen lassen und da blieb er die ganze Nacht.
Am nächsten Morgen wachte er auf und ein Wunder war geschehen: Der Junge war auf einmal groß und stark. Und er zog hinaus in die Welt und bestand zahlreiche Abenteuer. Er tötete Vögel und Katzen und sogar den großen Bernhardiner des Nachbarn. Jetzt konnte er heimkehren und die Königin heiraten. Er fasste sie fest um den Hals, da war er der König.

Lechner geht durchs Fegefeuer, weißglühend brennt es ihm zuerst die Haut und dann das Fleisch von den Knochen, leicht wie Asche liegt er auf der Bettbank, viel ist nicht übrig geblieben von ihm, aber es genügt.

Erdäpfelpüree, das wird das Richtige sein. Und Tee, schöner, heißer Kamillentee. Oder doch Kaffee mit viel fetter Milch drin? Während er alles zubereitet, summt er vor sich hin.
Über die Bettbank breitet er die weiche, gute Decke, den gestickten Polster schüttelt er auf, riecht daran, dreht ihn um. Als er bei ihr unten ist, schläft sie. Behutsam hebt er sie hoch, er wünscht, er hätte weichere Hände, wie leicht sie ist, ihr langes, blondes Haar fließt ihm über die Arme.
Hier oben sieht sie doch gar nicht so schlimm aus. Die Schwellung im Gesicht scheint zurückgegangen zu sein. Er säubert die Badewanne von seinem Dreck, lässt heißes Wasser einlaufen, langsam, ganz vorsichtig lässt er sie hineingleiten, sanft löst er ihr die verklebte Unterwäsche und die Strumpfhose vom Körper. Als er sieht, dass sie überall Wunden hat, besonders an den Armen und auf den Schultern, seufzt er: „Oarms Hascherl, wird jo olls wieda guat!“
Während er ihr das Gesicht wäscht, schlägt sie die Augen auf. Sie beginnt zu schreien.
„Na, na, hob ka Oungst, i tua da nix mehr, i wüll da jo nua wos Guats!“
Er erkennt seine eigene Stimme nicht mehr, so dunkel und warm und heimelig. Beruhigend streichelt er ihr die Wange, sie wendet das Gesicht ab:
„Bitte nicht!“
In Lechner wogt eine süße Welle.
„Sogst ma dein Nouman?“
Sie wimmert.
Er steht auf und holt den Tee.
„Kumm, trink amol, muast jo scho an Duascht hobn!“
Sie kann nicht alleine trinken, ihre Hände zittern zu stark. Er muss es machen, er muss sie laben und füttern, er ist der, auf den es jetzt ankommt, er wird ab jetzt immer für sie da sein, er hat ein Kind!
Auf jede Wunde tupft er schwarze Zugsalbe, was anderes hat er nicht, als Letztes bestreicht er ihr Gesicht, zart, zart, zart, er fühlt sich linkisch, sie ist ein Schmetterling, das darf er nicht vergessen, sie hört mit dem Wimmern auf, sieht ihm ins Gesicht, jetzt ist er es, der sich abwendet.
„Ich heiße Marie. Und du?“
„I bin da Le… Franz haß i! Wüllst a bissl fernschaun? Und donn schau ma weidda!“
Mit einem weißen Flanelltuch bedeckt er nun ihre Blößen, bettet sie auf die Bank, schaltet den Fernseher ein, sucht nach einer bunten Sendung.
Das Kind auf der Bank schläft ruhig ein, vor dem Fenster hüpfen die Vögel, und die Katzen streifen frei durch die Gegend, der Vater macht alles sauber, setzt sich dann zu ihr, bewacht ihren Schlaf, nimmt jedes Zucken ihrer Augenlider wahr. Lechner ist glücklich, wenn er sie berührt.
„Und jetzt die 9-Uhr-Nachrichten: Von der seit Dienstag als vermisst gemeldeten, achtjährigen Marie Kammerer fehlt nach wie vor jede Spur. Der Fall ist besonders tragisch, weil das Mädchen an einer seltenen, genetisch bedingten Hautkrankheit leidet, der sogenannten Schmetterlingshaut. Diese Krankheit bewirkt, dass die Haut bei geringster mechanischer Belastung Blasen bildet oder reißt. Wunden und Schmerzen sind die Folge. Die Mutter des Kindes richtete sich in einer dramatischen Fernsehansprache an …“

Es wird nichts. Lechner sieht keine Details mehr im Spiegel, nur einen Mann mit feisten Backen und unstetem Blick. In seinen Augen ist nichts zu finden, weil – er muss was tun. Das ist doch nichts, das kann er doch. Er schiebt seine Hand unter ihren Kopf, die andere legt er ihr leicht auf die Brust, spürt ihr Herz schlagen, schnell und sicher zupacken, er denkt, er muss ihr den Hals umdrehen, es knackt, schwer war es nicht.

Im Vorzimmer das schwarze Telefon an der Wand. Er kann es sagen.
„I bin´s, da Lechna! I hob des Mädal umbrocht. Hob ia den Hois umdraht. Mi hot´s holt daboamt, des oame Hascherl. Jetzt keinnt´s mi huln kumman. I bin a fetta Fisch!“

Lechner nimmt Marie in die Arme, legt sich mit ihr auf die Bank. Ihr Blut sickert noch durch das Flanell, nässt ihm die Brust, dringt durch die Haut, füllt sein Herz. Sein Mund braucht nichts mehr.

 
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Hallo Andea,

ich weiß nicht mehr wo, aber ich habe mal gelesen, dass man möglichst "mean" sein soll, wenn man erfolgreich schreiben will. Sprich, wenn schon ein Mörder, dann wirklich einer, der so abartig ist, dass man gar nicht mehr hingucken will.
Dein Lechner ist so ein Mörder. Dieser Text lebt von seiner Brutalität, man liest fassunglos mit, und man bleibt dabei, bis es vorbei ist.
Diese Szene wo das Kind schreit "Ich bin doch ein Schmetterlingskind" ist sehr wirkungsstark.
Die Talkshowszene ist fast zwingend notwendig, weil sie doch ein wenig leichter daher kommt, und das braucht man zwischendurch.
Das Märchen fand ich gut.
Der Schreibtstil liest sich schnell und spannend, und du machst Lechner glaubhaft, wohl keine so einfach Aufgabe.
Kann jetzt aber trotzdem nicht sagen, dass mir die Geschichte gefällt. Es ist auf jeden Fall nichts, dass ich jemandem empfehlen würde (auch wenn es sicher einer Empfehlung wert war). Weil wenn einem etwas gefällt, muss man sich schon auch fragen: warum? Und das ist dann bei so einem Text keine so angenehm zu beantwortende Frage..
Lechner ist ja nicht böse wie Darth Vader böse ist (Darth hats drauf, Darth strahlt "Macht" aus), er ist nicht mal böse wie Bardem in No Country for Old Men (er bleibt ein Rätsel, er ist wie ein "Geist", übermächtig, fast wie der Tod selbst)..
Lechner ist einfach krank und abartig und verabscheuungswürdig, die einzige Anziehungskraft, die er auf den Leser ausüben kann, ist eine kühle, analytische, die sich dann mit großen Moralfragen beschäftigen will (siehe Quinn), oder aber auch eine sadistische, die dann quasi den Lechner in dir weckt (Stichpunkt Saw).
Also für mich bleibt es trotz allen stilistischen Feinheiten einfach ein sadistischer Text, und das ist nun mal etwas, mit dem ich nicht so viel anfangen kann. Das klingt jetzt hoffentlich nicht moralapostelmäßig, das hat nichts mit Prinzipien zu tun (könnte es aber). Ich stelle einfach fest. Es gibt Leute, die wollen sich unbedingt Saw 5 reinziehen, mich lässt so was eher "kalt".

MfG,

JuJu

 
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Hallo Andrea,

hab mich ja schon andernorts ausführlich zu deinem Text geäußert, aber was mir nach neuerlichem Lesen wieder aufgestoßen ist: Die unterschiedliche Sprache deines PROT. Während der Talkshow spricht er hochdeutsch. Später, als er sich dem Schmetterlingskind in Mitleid zuwendet, spricht er im steirischen Dialekt. Das ist für mich eine Diskrepanz, in deiner ansonsten "empfehlenswerten" Geschichte.

Lieben Gruß,
Manuela :)

 

Hallo Maeuser!

Freut mich, dass du es "echt unheimlich" und "echt verstörend" fandest. Besonders freut mich aber, dass du das Märchen mochtest, das fand bis jetzt weniger Anklang! Ja, du hast Recht, es gibt Teile im Text, die das Ganze etwas "auflockern" sollen und dadurch noch mehr akzentuieren vielleicht.


Hallo Maria!

Ja, ich glaub dir natürlich, dass du den Anfang zäh fandest, kann aber nicht sehen wieso. ;) Vielleicht solltest du Kaffee trinken, bevor du eine Geschichte liest? ;)

Mah, okay, langweilig. Gut, als bei der TV-Show klar wird, dass er ein Kanibale ist, da kam ein WOAH von mir hervor, aber dann klang das alles doch nicht mehr besonders, sondern ... ach, ich weiß nicht.
Das "Woah" klang nicht besonders? Tut mir leid, dass ich dir kein großartigeres entlocken konnte! :D
Dieses Mädchen, die war besser und stärker gezeichnet als der Prot selber.
Wie kommst du darauf? :)
In so einer KG völlig okay und willkommen, denn wer will sich schon in einen Kinderverzerrer versetzen
Ich :) naja, ob ich mich wirklich in ihn hineinversetzt hab, weiß ich nicht, ich hatte eine Idee von ihm, die ich durchziehen wollte, nämlich dass er die Welt nur auf der fleischlich-materiellen Ebene verstehen kann, buchstäblich nur mit seinem Mund, dass er kein Ich hat, dass er sich irgendwie nach Vereinigung sehnt. Er ist sozial und emotional zurückgeblieben, ja, aber verblödet ist er nicht. Darauf soll der Dialekt nicht hindeuten, sondern ihm eine gewisse Normalität und Authentizität geben. Aber ich weiß, dass viele Leute Dialekt mit Dummheit gleichsetzen.

Wenn man solche Geschichten liest, dann verlangt man innerlich, dass dem Prot etwas Böses geschieht. Das Schmetterlingskind ist etwas Schlimmes für den Prot, doch nicht schlimm genug. Man wünscht sich, dass das Kind entflieht und der Typ gefangen wird.
Ich weiß nicht, also ich als Schreibende hatte diesen Wunsch nach Rache nicht, die Wandlung sollte von innen kommen und nicht eine erzwungene von außen sein.
Aber nicht, dass er dem Kind das Genick bricht und sich dann der Polizei stellt. Das passt hervorragend auf den Charakter des bösen Mannes, aber es hat mich doch traurig gestimmt als das Kind starb. Ehrlich, sie hat mir am Besten in der KG gefallen und dass du sie getötet hast, fand ich schon gemein.
Das ehrt dich natürlich! Aber als Autor muss man gemein sein können, denk ich!

Freut mich, dass du sie trotz des zähen Anfangs letztlich doch lesenswert fandest!


Hallo JuJu!

ich weiß nicht mehr wo, aber ich habe mal gelesen, dass man möglichst "mean" sein soll, wenn man erfolgreich schreiben will. Sprich, wenn schon ein Mörder, dann wirklich einer, der so abartig ist, dass man gar nicht mehr hingucken will.
Natürlich kann man Leser mit einem besonders "abartigen" Inhalt sozusagen "kaufen"! Meine Motivation, diesen Text zu schreiben, war aber die Figur des Moosbrugger aus dem "Mann ohne Eigenschaften", ich wollte auch mal so eine Figur probieren, und dann eine gewisse persönliche Stimmung, in der ich genug "schwarz" war, um expressiv etwas Böses zu schreiben.

Diese Szene wo das Kind schreit "Ich bin doch ein Schmetterlingskind" ist sehr wirkungsstark.
sicher zielt der Text auf derartige Wirkungen ab
Die Talkshowszene ist fast zwingend notwendig, weil sie doch ein wenig leichter daher kommt, und das braucht man zwischendurch.
Das Märchen fand ich gut.
Der Schreibtstil liest sich schnell und spannend, und du machst Lechner glaubhaft, wohl keine so einfach Aufgabe.
Das ist ja schon ziemlich viel!
Kann jetzt aber trotzdem nicht sagen, dass mir die Geschichte gefällt. Es ist auf jeden Fall nichts, dass ich jemandem empfehlen würde (auch wenn es sicher einer Empfehlung wert war). Weil wenn einem etwas gefällt, muss man sich schon auch fragen: warum? Und das ist dann bei so einem Text keine so angenehm zu beantwortende Frage..
ja, "gefallen" ist halt sehr vage ... darf man so etwas "schön" finden, darf man es unterhaltsam finden, bringt es irgendeine Erkenntnis? Darf man poetisch sein bei so einem Inhalt?
Ich kenn "Saw" gar nicht, würde aber meinen, dass es wahrscheinlich bei allem Horror doch Unterhaltung ist, während ich denk, dass es in diesem Text hier eher um die Frage ging: Wie könnte es wirklich sein? Wie oder was fühlt ein Serienmörder? Es ist natürlich Fantasie, diese Idee des unbegrenzten Fleisches, meine Erfindung (ein bisschen recherchiert hab ich auch, ja). Vielleicht ist es effektheischend, vielleicht sogar kitschig, aber trivial ist es nicht, hoff ich. Mein zentrales Thema ist der Körper, alles Fleischliche, ich denk, dass das immer mehr verdrängt wird, der Körper wird uns immer mehr zuwider. Und Lechner ist deswegen interessant für mich, als jemand, der überhaupt nur auf dieser Ebene funktioniert, nur diese fleischliche Ebene versteht, egal, ob das nun gut oder böse ist.
Lechner ist einfach krank und abartig und verabscheuungswürdig, die einzige Anziehungskraft, die er auf den Leser ausüben kann, ist eine kühle, analytische, die sich dann mit großen Moralfragen beschäftigen will (siehe Quinn), oder aber auch eine sadistische, die dann quasi den Lechner in dir weckt (Stichpunkt Saw).
Kühle Analyse sollte sich nicht von Moral behelligen lassen. ;) Um Analyse ging es mir aber nicht, eher um das mögliche Selbstgefühl eines Mörders, obwohl durch die teils expressive Sprache von ihm abrückt.

Also für mich bleibt es trotz allen stilistischen Feinheiten einfach ein sadistischer Text, und das ist nun mal etwas, mit dem ich nicht so viel anfangen kann. Das klingt jetzt hoffentlich nicht moralapostelmäßig, das hat nichts mit Prinzipien zu tun (könnte es aber). Ich stelle einfach fest. Es gibt Leute, die wollen sich unbedingt Saw 5 reinziehen, mich lässt so was eher "kalt".
Wie gesagt, ich kenne "Saw" nicht. Hm, ich glaub nicht, dass ich irgendeinen Sadismus damit bediene. Konkret gibt es nur eine Szene, in der Lechner mit einem Handtuch auf das Mädchen einschlägt, vergleichsweise doch eher harmlos, da gibt es doch keine wilden Gemetzel oder spritzendes Blut und dergleichen.^^ Okay, er dreht ihr den Hals um, aber das geschieht doch auch eher auf wenig spektakuläre Weise.


Hallo Manuela!
Dein Einwand ist vergleichsweise leicht zu beantworten: In seiner Fantasie überhöht er sich natürlich, wenn er im Fernsehen auftritt, spricht er deswegen Hochdeutsch, er ist da als "Experte", ist viel sprachgewandter, da ist er "wer", Dialekt würde da nicht passen!

Vielen Dank euch allen fürs Lesen und fürs Kommentieren! :)

 

Hallo Andrea!

Ich bin froh, dass ich in den Foren gestöbert habe und dabei auf deine Geschichte gestoßen bin.
Sie hat ja nun schon eine Empfehlung, obwohl ich sicher nicht freigiebig bin mit Empfehlungen (nein, ganz sicher nicht), hätte ich diesen Text wohl auch selber empfohlen.

Allein schon der Mut, den du beweist und den Versuch unternimmst, in den Kopf eines solchen Menschen zu schauen (ernsthaft, mit ernsthaften Absichten, nicht so Gänsehaut mäßig), das ist schon den Daumen hoch wert.

Dass du dich erstens mal informiert hast (neudeutsch heißt das ja dann Recherche betrieben hast), dich also ganz und gar nicht auf das furchtbare Halbwissen verlassen hast, das herumgeistert, dass du dich zweitens zurückgehalten hast, mit Enthüllungen und mit Darstellungen und dass du drittens auch so eine Art Mitleid mit dem Monster empfunden und gezeigt hast, dafür gebührt dir Respekt und ... na ja, die Empfehlung.

Es ist viel geschrieben worden, kann ich mich also kurz halten.

Er hält es sicher, er hält es warm.

Hätte ich vielleicht kursiv geschrieben, in Anführungszeichen eventuell.


...hinter ihm gähnt die Stube wie ein Maul, das ihn verschlingen will.

Das Bild ist gut, allerdings ein klein wenig schief. Ein Maul gähnt nicht, glaub ich, das ist der Besitzer, das Maul will auch nicht verschlingen.
Aber das Maul muss bleiben, ist mir schon klar.
Vielleicht ist das auch so gewollt, dass das Maul quasi gesichtslos erscheint. Das würde mir dann allerdings auch nicht recht zusagen.


Es gibt natürlich viele, viele Stellen, die gefallen, auch durch ihre Außerartigkeit.

Was mir gefallen hat, ist, dass du uns am Kopf zerrst und uns zwingst, zusammen mit Lechner zum Voyeur zu werden. Pfui!:D


Hat mir sehr gut gefallen, hätte zwar in Horror auch gepasst, hätte dort aber sicher nicht die nötige Aufmerksamkeit erfahren.


Schöne Grüße von meiner Seite!

 

He Andrea,

finde ich beklemmende Einblicke, wie die verschiedenen Selbstwahrnehmungen des Lechner nebeneinander stehen, die gruselige Szene mit der Mutter, die ihrem Kleinen die Brust gibt, seine Vorstellung von der Welt als einem Ort ineinander verschlungener Münder, fressen und gefressen werden. Und dann steht er vor dem Spiegel und glättet sein Selbstbild. Fand ich später interessant, dass er sich manchmal nicht vollständig wahrzunehmen scheint.

Bei dem Dialekt habe ich überlegt, wie er wirkt. Die verleihen ihm eine Gemütlichkeit, diese kurzen Sätze, die Phonetik so rund und weich. Erhöht natürlich Lechners Gruselfaktor. Das ist vielleicht einfach die Vielseitigkeit, die Idee, dass Menschen Monster sein können, ohne dass man ihnen das geringste anmerkt. Reden normale Sachen, sehen weitestgehend normal aus - und dann diese Innenwelt.

Warum Lechner? Du hast glaub ich geschrieben, dass es wie ein Allerweltsname klingen sollte, also das hat schon was, die Normalität des Namens, aber stärker hätte ich hier doch so dunkle Vokale gefunden, die an Tiefe und Höhlen denken lassen, halt Marke Moosbrugger. Leider erinnere ich mich nicht mehr an besonders viel von Musils Sexualmörder, obwohl mir die Passagen über ihn damals sehr gefielen. In meiner Erinnerung kommt er mir aber ein bisschen dumpfer vor, ratloser als dein Protagonist ist. Der wirkt wenigstens aus der Ferne irgendwie tapsiger, schuldunfähiger, der hatte immer noch was rührendes und war nicht so grausam überdreht.

Diese Königinnen-Sequenz kommt für mich ein bisschen rüber wie eine Erklärung für den verdrehten Charakter, dass er nur weitergibt, was er gekriegt hat. Mir persönlich wäre es lieber gewesen, wenn das nicht drin gewesen wäre, wenn du an der Stelle auf Werdegang verzichtet hättest.
Und die Krankheit des Kindes! Zu viel! Das sind so die beiden Sachen, die mir unterwegs aufgefallen sind.

Aber außerdem habe ich nichts auszusetzen, wirklich eine sehr gute Geschichte, sehr empfehlenswert - allerdings sollte man vorher gefrühstückt haben.


Kubus

PS: Aktualisiere mal Clarisse!

 

Hallo Hanniball!

Allein schon der Mut, den du beweist und den Versuch unternimmst, in den Kopf eines solchen Menschen zu schauen (ernsthaft, mit ernsthaften Absichten, nicht so Gänsehaut mäßig), das ist schon den Daumen hoch wert.
Naja, eigentlich bin ich alles andere als mutig ... ich mein, ich denk mir ja nicht: Oh nein, das will ich eigentlich gar nicht sehen, was in dem Kopf eines Serienmörders vor sich geht, das ist zu schrecklich, sondern eher, wie könnte es da wirklich aussehen? Nein, eigentlich eher, wie könnte es wirklich aussehen und wie kann ich das gleichzeitig "schön" aussehen lassen. ;)

Dass du dich erstens mal informiert hast (neudeutsch heißt das ja dann Recherche betrieben hast)
Es gibt da echt ganz ganz unglaubliche Geschichten, wenn man das alles übernähme, würde einem Übertreibung vorgeworfen werden. Aber da liegt natürlich auch ganz viel "Stoff" herum.
dich also ganz und gar nicht auf das furchtbare Halbwissen verlassen hast, das herumgeistert, dass du dich zweitens zurückgehalten hast, mit Enthüllungen und mit Darstellungen und dass du drittens auch so eine Art Mitleid mit dem Monster empfunden und gezeigt hast, dafür gebührt dir Respekt und ... na ja, die Empfehlung.
Mehr als Halbwissen hab ich natürlich auch nicht. Der zweite und dritte Punkt: das freut mich sehr, dass du das so siehst!

Das mit dem "gähnenden Maul" muss ich mir nochmals durchdenken, ich glaub eigentlich schon, dass das geht. :)


Hallo Kubus!

Fand ich später interessant, dass er sich manchmal nicht vollständig wahrzunehmen scheint.
ja, gut gesehen, er hat keine Körpergrenzen.
Bei dem Dialekt habe ich überlegt, wie er wirkt. Die verleihen ihm eine Gemütlichkeit, diese kurzen Sätze, die Phonetik so rund und weich. Erhöht natürlich Lechners Gruselfaktor. Das ist vielleicht einfach die Vielseitigkeit, die Idee, dass Menschen Monster sein können, ohne dass man ihnen das geringste anmerkt. Reden normale Sachen, sehen weitestgehend normal aus - und dann diese Innenwelt.
ich konnte ihn mir auch nur im Dialekt vorstellen, weil ich ein bestimmtes Haus vor Augen hatte, das ich vom Dorf kenne.
In meiner Erinnerung kommt er mir aber ein bisschen dumpfer vor, ratloser als dein Protagonist ist. Der wirkt wenigstens aus der Ferne irgendwie tapsiger, schuldunfähiger, der hatte immer noch was rührendes und war nicht so grausam überdreht.
Ich denk, dass Musil ein reales Vorbild hatte, Moosbrugger ist natürlich auch viel genauer gezeichnet. Hm, ich weiß nicht, ich hatte schon Mitleid mit Mossbrugger. ;) Beide haben aber vielleicht sogar ein gewisses Maß an Würde, weil sie bei sich das Böse in ihrem Tun nicht wirklich erkennen, nur wenn sie sich selbst mit den Augen der anderen sehen.

Diese Königinnen-Sequenz kommt für mich ein bisschen rüber wie eine Erklärung für den verdrehten Charakter, dass er nur weitergibt, was er gekriegt hat. Mir persönlich wäre es lieber gewesen, wenn das nicht drin gewesen wäre, wenn du an der Stelle auf Werdegang verzichtet hättest.
Ich brauchte eine Schlüsselsituation, also eine Situation, in der er in der gleichen Lage gewesen war wie das Mädchen jetzt. Aber ich kann verstehen, dass man diesen Werdegang eindimensional und klischeehaft findet.
Und die Krankheit des Kindes! Zu viel! Das sind so die beiden Sachen, die mir unterwegs aufgefallen sind.
Das Kind musste eine Krankheit haben, damit die Geschichte funktioniert, und es ist natürlich auch eine Umkehrung: Lechner ist körperlich robust und stark, hat aber kein Ich-Gefühl, während das Mädchen körperlich zart und verletzlich ist, aber eine starke Persönlichkeit hat.

Aber außerdem habe ich nichts auszusetzen, wirklich eine sehr gute Geschichte, sehr empfehlenswert - allerdings sollte man vorher gefrühstückt haben.

das freut mich! :)

PS: Aktualisiere mal Clarisse!
oh Gott, dieses überspannte Frauenzimmer! :D

Danke euch beiden! :)

Gruß
Andrea

 

N'Abend Andrea!

das ist die einzige deiner Kg.de-Stories, die ich noch nicht kannte - und mit Sicherheit einer deiner Besten! Der Dialekt in den Dialogen hat mich zu Anfang ein wenig gestört - aber weil alles zu verstehen ist, passt das. Sprachlich habe ich ein, zwei Adverbien gesehen, auf die du u.U. verzichten könntest, zum Beispiel hier:

Das streicht er aber wieder dick aus.

Ich weiß, in diesem Fall sagt es etwas aus, wie er es ausstreicht. Vielleicht hältst du mal ein Auge auf für Worte in deinen Texten, die es nicht unbedingt braucht. Wie zum Beispiel dieses unbedingt.:D

Wie gesagt, ich fand die Lechners Geschichte - seine Verbrechen -, seinen Hintergrund - Missbrauch durch die Mutter -, deine Darstellung des Ganzen gelungen. Und deshalb begnüge ich mich damit, deine Geschichte ausgegraben zu haben. Nachdem ich die ersten Kommentare gelesen und gesehen habe, wie ausführlich Bilder und Symbole interpretiert worden sind, verzichte ich darauf und versuche, bei deinem nächsten Auftritt der Erste zu sein.^^ Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass der Geschichte die Dichte anzumerken ist: Nähmst du etwas weg, würde etwas fehlen. Rundes Ding!:)

Bis später!
Sam:)

 

Hey Sam,

ja, ich sollte mal wieder was einstellen! ;)

Ich weiß, in diesem Fall sagt es etwas aus, wie er es ausstreicht. Vielleicht hältst du mal ein Auge auf für Worte in deinen Texten, die es nicht unbedingt braucht. Wie zum Beispiel dieses unbedingt

Ich mach das nie, dass ich den Text auf Wörter prüfe, die ich wegstreichen könnte, ich glaube, die Adjektivjagd wird manchmal übertrieben. Alle Wörter haben eine Konnotation und ich denk schon, dass ich sie sehr bewusst setze, also dass bestimmte "kleine" Wörter einem Text erst die Farbe oder den Ton geben.

Schön, dass du es gut fandest und danke fürs Ausgraben! ;)

Gruß
Andrea

PS: Manuela würd mir hier wieder die vielen "Dass"-Sätze ankreiden! :D

 
Zuletzt bearbeitet:

Moin Andrea,
ich mag keine Horror-Geschichten und hätte deine Geschichte in dieser Rubrik gestanden, würde ich jetzt nicht über sie schreiben.

Normalerweise lese ich die Geschichten, die ich kommentiere, mit Abstand ein zweites Mal. Das geht bei deiner leider nicht. Sie ist klasse geschrieben, zog mich rein ins Geschehen und ließ mich nicht mehr los. Vermutlich hast du diesbezüglich ausreichend Lob von den anderen Kritikern bekommen, also belasse ich es mal bei diesem kurzen Statement.

Zur inhaltlichen Seite: Die Geschichte eines Kinderfressenden Psychopathen ist so – und jetzt wird’s schwer – unappetitlich (ich finde kein geeignetes Wort), dass ich mich fragte, wo ich die Grenze beim Schreiben von Geschichten mir wünschen würde. Als Vater von drei Kindern, die ich auch alle intensiv ins Leben begleitet habe (bzw. beim letzten, der erst drei Monate alt ist, noch dabei bin) konnte ich den Gedanken des Kindermörders nichts „abgewinnen“. Mir lief ein Schauer nach dem nächsten den Rücken runter und am Schluss war ich fürchterlich ärgerlich (in erster Linie über mich, da ich weitergelesen habe).

Ich weiß nicht, ob du beruflich mit solchen Menschen wie Lechner zu tun oder anderweitig recherchiert hast, aber ist es wirklich möglich, sich in diese Menschen (schon gar in der beschriebenen Ausprägung) hineinzuversetzen? Ist die Form der Kurzgeschichte das richtige Forum, wo Motive und Hintergründe eines Kindermörders dargestellt werden sollten oder gehört das in eine Fachzeitschrift? Ich weiß es nicht. Eine solch verabscheuungswürdige Tat in dieser Weise in einer Kurzgeschichte in Szene zu setzen und damit automatisch auch eine gewisse Erklärung für das Tun mitzuliefern (was per se sicher der richtige Weg ist, aber hier?) ist für mich sehr, sehr grenzwertig. Aber das ist meine ganz persönliche Meinung und ich will hier keine Diskussion entfachen und ganz sicher niemanden bevormunden bei dem, was sie oder er schreiben darf, wollte aber angesichts meiner Gefühle beim Lesen auch nicht schweigen.

Ich persönlich finde, dass Geschichte, die den Horror im Alltäglichen des normalen Menschen suchen und finden, die waren Horrorgeschichten sind.

Herzlichst

Heiner

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Heiner,

ich kann deine Ablehnung nachvollziehen.

Ich habe mit derartigen Menschen nichts zu tun, ich hatte nur gerade "Den Mann ohne Eigenschaften" gelesen, in der eine zentrale Figur ein Frauenmörder ist, Moosbrugger. Außerdem hab ich in dem Dorf, wo ich her bin, ein Haus entdeckt, in dem ein Verrückter gewohnt hat, der anscheinend Hals über Kopf irgendwo anders hingekommen ist. Man konnte bei den Fenstern hineinsehen und man meinte, dass es noch bewohnt war, aber man konnte auch sehen, dass hier ein Außenseiter gewohnt hat. Das waren meine zwei äußeren Anregungen.

Ich wollte in expressiver Weise über etwas sehr Böses schreiben. Ich habe dann eine Zeitlang über Serienkiller recherchiert, es ist ja nicht so, dass es so etwas nicht gibt.

Aber deine zentrale Frage, ob man über so etwas einen literarischen, einen ästhetischen Text schreiben darf/ kann: Ich weiß nicht, ob ich die beantworten kann. Diese Frage geht natürlich weit in die Frage hinein, was Literatur eigentlich für eine Aufgabe hat bzw. was Literatur eigentlich ist.

Man liest ja öfters etwas über Kindesmisshandlungen in der Zeitung und mir wird oft schlecht dabei und ich bekomm eine grenzenlose Wut. Trotzdem war ich fähig, eine derartige Geschichte sogar selbst zu schreiben. Und es hat mich kalt gelassen. Ich habe mich gefragt, wie es in so einem Menschen aussehen könnte und es ästhetisch umgesetzt. Das heißt, es war eine Aufgabe für meine Fantasie, und das fand ich reizvoll. Ich hab zwar recherchiert, aber nur Tatsachen, keine psychologischen Sachen, letztlich musste ich dieses Innenleben des Lechner "erfinden". Eine Anregung war mir dabei Bachtins Theorie des grotesken Leibes (des Karnevals), der kein abgeschlossener Leib ist, sondern keine Grenze zu anderen Leibern und zur Welt kennt.

Die Frage ist ja auch, warum hast du weiter gelesen, obwohl dich das Thema angeekelt hat? Es ist zwar unappetitlich, aber es ist eben auch interessant. Aber warum ist es interessant?
Du sagst auch, dass der wahre Horror im Alltäglichen des normalen Menschen zu finden ist. Aber was ist ein normaler Mensch? Ich denke, dass jeder Mensch irgendwo alle Anlagen hat. Bei Serienkillern, Kannibalen und dergleichen fehlen bestimmte Mechanismen der Kontrolle, eine Ausbildung des Gefühlslebens, der Mitempfindung usw., es FEHLEN ihnen also Dinge, aber sie haben NICHTS Zusätzliches in ihren Anlagen, was wir "Normalen" nicht auch haben. Sie erinnern uns also an Dinge, die wir alle in uns haben, die wir aber in irgendeiner Weise besiegt, verdrängt, kultiviert usw. haben, sie sind aber immer noch da und bestimmen uns in gewisser Weise weiterhin. Und genau deswegen finden wir solche Geschichten auch so interessant, weil sie vielleicht uns selbst betreffen und einen Erkenntnisgewinn über dunkle Seiten IN UNS bringen.

Ja, ich wollte versuchen, solche Taten zu verstehen, auf ästhetische Weise, Verständnis heißt aber nicht Gutheißen. Denn gleichzeitig birgt die Geschichte eine zwar nicht vollständige, aber doch eine gewisse Läuterung des Killers. Und das ist auch die Stelle, wo Literatur die Realität überschreiten kann, ich versuche einen Weg zu zeigen, wie ein Böser wie Lechner aus seinem Unrecht hinausfinden kann. Lechner empfindet auf einmal auch Mitleid, weil er die Situation des kleinen Mädchens mit seiner eigenen Situation als Kind vergleicht. Das ist hier vielleicht sogar kitschig.

Bist du der Meinung, angedeutet hast du es, dass man über solche Dinge nur wissenschaftlich und sachlich schreiben kann? Ist Literatur (Kunst) nicht neben Wissenschaft, Religion, Philosophie und dem normalen Hausverstand ein Weg, die Welt und das Leben zu deuten und zu verstehen? Wenn ich das glaube, dann darf ich schlechthin über alles in literarischer Weise schreiben, wenn nicht, degradiere ich die Literatur zur reinen Unterhaltung.

Danke dir für deinen anregenden Kommentar!

Gruß
Andrea

 

Unfassbar!

Ich habe eben Deine Geschichte in der Mittagspause gelesen, zusammen mit meinem Mittagessen, das mir fast im Halse steckengeblieben wäre. Unfassbar gut geschrieben, plastisch geschildert, dazu hast Du diese unglaubliche Balance gefunden, wo man bei dem Protagonisten zwischen Mitleid und Abscheu hin- und her gerissen ist. Da kann ich nur sagen, sensationell! Mehr brauche ich auch nicht sagen, meine Vorrschreiber haben ja schon die Details aufgelistet!

 

Hallo Apollox,

vielen Dank für deinen wohlmeinenden Kommentar, ja, der Titel ist gemein, weil man nicht mit sowas rechnet, vielleicht hätte ich dazuschreiben sollen, dass man beim Lesen nicht essen soll. ;)

Gruß
Andrea

 

hallo andrea,

die vorredner haben schon alles gesagt. absolut lesenswert.

petdays

 

Puh, da wollte ich vorm verdienten Wochenende noch eine Geschichte mitnehmen. Ich habe gelernt: Kürze hat nichts mit der Leichtigkeit der Kost zu tun!
Einige Formulierungen haben mich zu Beginn gestört. Vielleicht war das Absicht, ich empfinde es als falsch:

Er kann nicht daran denken, was letzte Nacht geschehen ist, noch weniger vermag er es in Worte fassen.
"in Worte zu fassen"?

Die Rillen des Eichentisches, über die seine Hand jetzt fährt, der gestickte Polster auf der Bettbank, da ist noch der Abdruck seines Kopfes, der schiefe, blaue Kachelofen.
"das gestickte Polster"?
Hinter der Ofentür wartet die weißflockige Asche, er scharrt sie aus, schiebt Holzscheite hinein, zündet mit zerknülltem Zeitungspapier unter.
unter? Fehlt da was?

Name: unbekannt, Geschlecht: männlich, Alter: ca. 10 Jahre, Gewicht: 27 kg, Fleisch: 5 kg, Innereien: 1,5 kg, Blut: 2550 ml, Zähne: 28.
Ab diesem Moment hat mich die Geschichte gehabt. Die Vorstellung einen Kinderfresser zu erleben war abstoßend und verlockend gleichermaßen. Irgendwie spricht sie auf eine widerwärtige Art den Voyeurismus an. Wobei ich in diesem Augenblick noch auf eine erlösende Plotwende gehofft hatte (geträumt, das war kein Kind, das ist ein Schauspiel... )

Auf einer Bank in der Fußgängerzone sitzt eine junge Mutter ...
Hier ist die Hoffnung dann vorbei. Der Absatz ist unglaublich brutal. Die Schilderung der Mutter, die Idylle, die völlige Harmonie und dann die Wende auf dem Absatz. Hat mich hart getroffen. Auch jetzt war die Geschichte noch spannend, aber anders. Ich habe beim Lesen Distanz aufgebaut und mir quasi selbst vorgebetet "das ist hier ne Geschichte, schau halt einfach hin ohne mitzugehen".

Dann beobachte ich also aus der Ferne, wie er das Schmetterlingsmädchen schnappt. Wie sie in seinem Griff zappelt und wie sie sich verwandelt. Hässlich, unansehnlich und unappetitlich wird. Ein Blick in die Vergangenheit des Kinderfressers folgt. Irgendwie märchenhaft verpackt, aber doch mit brutalem schauderhaften Inhalt. Besonders der Schürhaken im Innern ist mir hart aufgestossen. Dass er mit seiner Vateraktion scheitern müsste, war damit festgelegt.

Ich fand deine Geschichte sehr berührend. Die Sprache trifft genau und auch die Bilder und Metaphern sind geradezu poetisch schön. Ich glaube dass du dein Anliegen auch mit weniger aufwühlender Handlung als einem Kinderfresser hättest transportieren können, aber das wolltest du augenscheinlich nicht.
Ich würde ja schreiben "gern gelesen und genossen", aber das wäre gelogen. Ich habe es gehasst. Es war scheusslich, widerlich und ich wollte aufhören. Aber - und das ist wohl das größte Lob das dieser Text erwarten darf - ich hab es trotzdem bis zum Ende verschlungen.

 

Hallo Andrea,

das ist wirklich eine unerträgliche Geschichte – und das sage ich mit aller Wertschätzung für deine literarische Leistung. Denn das zeichnet sie aus, das mich die Geschichte so mitnimmt, das ich so eine Wut kriege beim Lesen und danach. Das macht sie so gut. Wenn sie nicht berühren würde, wäre sie allenfalls eine Ansammlung grausamer Phantasien eines Psychopathen. Aber das ist sie nicht, das bist du nicht.

Können so nur Österreicher/innen schreiben? Das ist so schwarz, so tief-schwarz, so grausam. Das ist kein Wiener schwarzer Humor, kein Schmäh, das ist schwarze grausame Wirklichkeit. Das kann nur in einem Land geschrieben werden, in dem ein Prikopil und ein Fritzl gedeihen konnten – sorry das ist nicht beleidigend gemeint, bin sicher du verstehst was ich meine - aber eben auch ein Qualtinger und ein Hader. Das kommt so leicht daher wie ein Schmetterling und in Wahrheit ist es doch nur eine elende, schleimige Raupe.

Ich denke immer, so was kann man doch nicht schreiben, es ist doch schlimm genug, dass so was passiert, muss man das auch noch schreiben? Ich glaube, deine Geschichte ist ein Beweis, dass man es kann.

Den Lechner hast du ja schön eklig gezeichnet. Nicht nur dass er psychisch so vollkommen böse und abartig daherkommt, nein auch körperlich (die gelben Zehennägel, der fette Leib). Das ist pures Klischee, aber gut, sehr gut gemacht. Den kann man, muss man sich so richtig wie ein Dreckschwein vorstellen. Du nimmst es dem Leser insofern ab, irgendeine Art Gefühl, Mitgefühl für diese, ja wie soll ich sagen - Kreatur zu haben. Das ist genial aber auch fies irgendwie. Dieser Typ wirkt im ersten Abschnitt so überzeichnet, aber auch überzeugend unsympathisch, dass man zwanghaft versucht, ob man nicht doch Gefühle für ihn entwickeln kann? Aber noch ist es nicht so weit. Du treibst das soweit bis zu dem Punkt, wo er das Mäderl mit dem Handtuch schlägt, und dann dieser Vergleich mit dem Ungeziefer. Da kommt mir wirklich alles hoch.

Dann kommt der Teil, der mir überhaupt nicht gefällt. Natürlich, man ahnt es, der Lechner hatte eine schlechte Kindheit. Eine böse Mutter, die ihn mit Schweinefrass füttert und sexuell misshandelt. Diesmal also die Mutter, sonst ist es der Vater, Opa, Pfarrer, Jugendleiter. Das ist ja immer so. Warum kannst du ihn nicht einfach einen schlechten, bösen Menschen sein lassen? Gibt es so was nicht? Das einer einfach nur absolut böse ist? Einfach so, ohne Grund, ohne Vorgeschichte. Da soll man dann doch wieder Mitleid oder Mitgefühl oder vielleicht sogar Verständnis haben. Verständnis für das Unverständliche. Ich meine das kann ja passiert sein, irgendeinen Grund, außerhalb genetischer Disposition, muss es ja für sein Verhalten geben. Aber das wäre doch mal ein Geschichte, wo darauf gar nicht eingegangen wird. Wo man sich selber denken muss, warum der jetzt so ist? Das hat mich dann schon eher runtergezogen und ich hatte eigentlich noch mehr Wut auf ihn, wegen dieser Er-hatte-eine-schwere-Jugend-Leier.

Und dann entpuppt er sich plötzlich als einer der auf einmal selber Skrupel kriegt. Oder ist das weil er sich selber vor ihrer Hautkrankheit ekelt. Weil er das nicht essen kann, wenn die selber so eitrige Geschwüre hat. Das hat wieder seine eigene Grausamkeit. Aber ich krieg da fast noch mehr Wut auf ihn, weil das so ungeheuerlich ist, das dieses Ungeheuer auf einmal menschliche Züge zeigt. Man hat ihn sich so schön als Monster zurecht gelegt und jetzt das. Literarisch ist das genial, psychologisch ist das grauslig.

Aber am Schluss wird er seiner Bestimmung gerecht und bringt sie um. Dann ist er wieder das Monster, als das du ihn von Anfang an vorgesehen hast. Eine Achterbahn der Gefühle, mit mehr Ab- als Auffahrten.

Es gäbe darüber noch seitenlang zu kommentieren, aber ich muss da jetzt aufhören. Die Geschichte lässt mich verwirrt und zornig zurück. Das ist literarisch schrecklich großartig, finster, nervenzerreissend. Ich möchte so was trotzdem nicht zu oft lesen. Bin auf die Geschichte durch die Top-2011-Abstimmung gestoßen. Weiß noch nicht, wie ich sie bewerte, da sind auch noch andere gute Geschichten, aber die steht schon zurecht in dieser Liste.

Grüße

Fred B

 

Hallo,

ich wollte die Geschichte eigentlich schon kommentieren als sie noch frisch war, hab’s aber irgendwie trotzdem nie gemacht. Weiß nicht, wie viel das jetzt noch bringt, aber ich nehm halt mal die Abstimmung zum Anlass, das nachzuholen. Ich bin zwiegespalten, was den Text angeht. Einerseits finde ich die Details immer wieder sehr gut, die haben mich richtig gefreut teilweise, andererseits funktioniert dieser Text insgesamt für mich nicht so richtig. So eine Geschichte zu erzählen, ist ein sehr ambitioniertes Unterfangen! Jemand wie Lechner hat ja einen sehr langen Prozess hinter sich. Das fängt in der Kindheit an, meistens spielen Missbrauch, Vernachlässigung, ärmliche Verhältnisse eine Rolle. Das sind wichtige Faktoren, die Du auch alle hineinpackst irgendwie. Du kennst Dich also aus mit dem Thema, das merkt man. Das muss auch alles irgendwie hinein, wenn man die Geschichte auf diese Art erzählen will. D.h., wenn man den Lechner verstehen will – das ist ja auch das Spannendste. Aber der Schlüssel dafür – die Beziehung zur Mutter – wird dem Leser so hingeworfen. Diese Stelle fällt völlig heraus, das wirkt ja schon fast wie eine Fußnote. Das ist für mich der größte Makel des Textes. Er müsste die Verbindung herstellen zwischen Mutter und Tat. Bei einer solchen Person ist die Ausführung der Tat, jedes Detail daran, der Versuch, eine Fantasie auszuleben. Eine Fantasie, die sich über lange Zeit entwickelt hat und die irgendwo in der Kindheit wurzelt. Und das fehlt mir ein bisschen. Für mich bleibt so viel unklar (was auch daran liegen kann, dass ich Dinge überlesen hab – hab ich mit Sicherheit sogar). Ich frage mich zum Beispiel, warum es ausgerechnet Kinder sind, warum keine erwachsenen Frauen ... Es gibt diese Andeutungen, dass Schönheit bei Lechner etwas auslöst – er selbst bezeichnet sich dagegen als Missgeburt. Es gibt viele Spuren, aber das alles bleibt zu vage für mich, ich komm dieser Person nicht näher. Weshalb Kannibalismus? Das ist etwas sehr Ungewöhnliches, auch unter Serienmördern. Diese Vorstellung, sich jemanden „einverleiben“ zu wollen, ist ja auch ein Wunsch nach Nähe - in der extremsten Konsequenz. Auch da gibt es glaube ich eine Andeutung, als Lechner dieses Mädchen an sich drückt. Andererseits spielt bei ihm das Destruktive eine Rolle, Lechner als Weltverschlinger, der alles schwarz scheißt. Ich komme nicht so richtig hinter seine Motivation, es gibt Spuren, aber vieles scheint sich auch zu widersprechen.
Was ich auch noch als Problem empfinde, ist, dass Lechner diese Wandlung durchlaufen soll. Da wird der Figur glaube ich zu viel aufgebürdet. Dieser Kritikpunkt greift natürlich jetzt das Fundament an, weil die Geschichte genau so konzipiert wurde. Aber ich finde das ist einfach zu viel. Als ich den Text gelesen habe, ist mir eingefallen, dass ich mir als Kind ab und zu solche Begegnungen ausgemalt habe. Wie reagiert man auf so jemanden, wenn man ihm plötzlich ausgeliefert ist. Und ich bin auf dieselbe Lösung gekommen: Irritieren. Man müsste so reagieren, dass er in seiner Routine gestört wird, man müsste sich absolut atypisch verhalten. Also ich zweifle heute ganz stark daran, dass so etwas wirklich funktioniert. Einerseits, weil der Täter sich während der Tat in einem Zustand befindet, der einer Trance gleicht, andererseits, weil ein Kind schlicht und einfach Panik bekommt. Aber es ist in diesem Text schon sehr gut gemacht – das Mädchen ist tatsächlich anders, weil es diese Krankheit hat. Du gibst dem Leser also schon einen plausiblen Grund für das abnorme Verhalten. Trotzdem, irgendwie glaube ich nicht daran. Aber es ist gut gemacht, das muss ich sagen.

Wie auch immer, ich finde es ist zu viel. Der Leser soll diesen Lechner bei seinen Verbrechen begleiten, ihn verstehen und dann auch noch seine Wandlung nachvollziehen ... Da konnte ich ihm einfach nicht mehr folgen.
Mir hätte es besser gefallen, wenn Du mehr dieser Spur in Lechners Fantasien gefolgt wärst. Dort liegt ja irgendwo der Schlüssel: Gegenwart und Vergangenheit, Opfer/Täter. Irgendwo muss es da einen Punkt geben, wo sich das alles vermischt.
Ich hör jetzt mal auf, obwohl ich noch viel mehr schreiben könnte. Das klingt negativer, als ich den Text beim Lesen empfunden habe. Wie gesagt, ich mochte die Details, die Sprache, die Stimmung. Die Zusammenfassung ist wohl, dass der Text sich für meinen Geschmack zu viel vornimmt und deshalb viele Stränge ins Leere zu laufen scheinen.

Liebe Grüße

Hal

 
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Hallo Andrea,

habe jetzt die Geschichte schon 3 Tage auf mich wirken lassen und ... sie wirkt nach. Ich lese nicht gern solche Geschichten - wenn man das überhaupt so formulieren darf bei der Thematik - aber deine ... Also bei dir hab ich natürlich nicht erwartet, dass das Ganze zur Moralpredigt in oder zwischen den Zeilen ausartet, aber ich habe schon lange wenn überhaupt keine Geschichte mehr gelesen, die soviel Einblick in eine kranke Seele gewährt und dabei so distanziert und vor allem so logisch in allem erscheint. Respekt!

Gruß
Kasimir

 

Hallo Andrea


Vermutlich werde ich Dir kaum was Neues sagen können, bei so vielen Kommentaren.
Aber so eine monströse Geschichte verlangt nach einer Antwort. Insbesondere weil ich sie eher durch Zufall gelesen hab – der Titel weckte Assoziationen, die in eine völlig andere Richtung gingen. Erwartet hatte ich so eine Art Sozialdrama, wo der Prot, in Selbstmitleid watend, über die Unzulänglichkeit der Welt nachdenkt, während er darauf wartet, dass der Güterzug aus Barmbek oder von sonst wo sein Leben beendet; und nachdem dieser vorüberrauscht, sieht sein Kopf mit schwindenden Sinnen einen zarten Schmetterling auf seinem Fuß und erkennt im letzten Moment die Schönheit dieser Welt, ehe der abgetrennte Schädel den Bahndamm hinabkullert. Und Ende.

Aber statt Bahndamm und Selbstmitleid gibt’s bei Dir erstmal nur trügerische Ruhe, und dann jener Hammerschlag:

Hart drückt er die Buchstaben ins Papier. Name: unbekannt, Geschlecht: männlich, Alter: ca. 10 Jahre, Gewicht: 27 kg, Fleisch: 5 kg, Innereien: 1,5 kg, Blut: 2550 ml, Zähne: 28. Er besinnt sich einen Moment, dann schreibt er noch in Klammer hinzu: Schöne, blonde Locken. Das streicht er aber wieder dick aus. So einer ist er nicht.
Also ehrlich, da gefriert einem das Blut und eigentlich will man (ich) da gar nicht mehr weiterlesen – als ob einem da noch eine Wahl bliebe.
Wirklich fiese Geschichte! Ich mag mir gar nicht vorstellen wie das ist, wenn man mit so einer Idee schwanger geht und schließlich zu Papier bringen muss.

Besonders teuflisch fand ich die Idee, dem Lechner diesen verhunzten bayrischen Akzent zu geben. Diese plumpe Sprache hat mehr Bilder und Emotionen erzeugt, als es eine simple Personenbeschreibung jemals geschafft hätte. Wobei mich interessieren würde, ob jemand, der jetzt nicht so gut in Bayrisch ist, auch alles verstanden hätte bzw. ob ein Nicht-Verstehen der Geschichte einen Abbruch getan hätte.

Tja und ansonsten muss ich mich schon sehr anstrengen um etwas zu finden was man verbessern könnte. Wenn überhaupt, dann könnte man an der Stelle noch feilen, wo Lechner seinen Gesinnungswandel erlebt. Persönlich ging mir das eine Nuance zu schnell.
Mehr weiß ich nicht zu sagen. Tolle Geschichte, wenngleich „gern“ gelesen es nicht ganz trifft.

Viele Grüße

Mothman

 

Hallo Lockenwolf!

Mit dem Infinitiv hast du recht, Polster hat im Österreichischen einen anderen Artikel. Und ja bei uns sagt man "unterzünden". :)

Name: unbekannt, Geschlecht: männlich, Alter: ca. 10 Jahre, Gewicht: 27 kg, Fleisch: 5 kg, Innereien: 1,5 kg, Blut: 2550 ml, Zähne: 28.
Ab diesem Moment hat mich die Geschichte gehabt. Die Vorstellung einen Kinderfresser zu erleben war abstoßend und verlockend gleichermaßen.
Ich hab ja ein wenig über Serienmörder recherchiert und daher hab ich auch dieses genaue Aufzeichnen.

Hier ist die Hoffnung dann vorbei. Der Absatz ist unglaublich brutal. Die Schilderung der Mutter, die Idylle, die völlige Harmonie und dann die Wende auf dem Absatz. Hat mich hart getroffen. Auch jetzt war die Geschichte noch spannend, aber anders. Ich habe beim Lesen Distanz aufgebaut und mir quasi selbst vorgebetet "das ist hier ne Geschichte, schau halt einfach hin ohne mitzugehen".
Das ist schon interessant, denn ich frage mich, ob das nicht eine der Aufgaben von Literatur ist, nämlich gleichzeitig ganz nah dabei zu sein und gleichzeitig, vielleicht durch den Stil, eine Distanz aufzubauen.
Dass er mit seiner Vateraktion scheitern müsste, war damit festgelegt.
Ja, die Geschichte konnte nur schlecht ausgehen.
Ich fand deine Geschichte sehr berührend. Die Sprache trifft genau und auch die Bilder und Metaphern sind geradezu poetisch schön. Ich glaube dass du dein Anliegen auch mit weniger aufwühlender Handlung als einem Kinderfresser hättest transportieren können, aber das wolltest du augenscheinlich nicht.
Ich stelle mir bei jeder Geschichte eine Aufgabe, hier war es eben, in einen derartig "bösen" Menschen hineinzugehen, seine Mechanik zu verstehen. Was ich natürlich nicht kann, aber erfinden kann ich sie. ;)
Ich würde ja schreiben "gern gelesen und genossen", aber das wäre gelogen. Ich habe es gehasst. Es war scheusslich, widerlich und ich wollte aufhören. Aber - und das ist wohl das größte Lob das dieser Text erwarten darf - ich hab es trotzdem bis zum Ende verschlungen.
Da bist du ja nicht der Einzige. ;)


Hallo Resi26!

Es freut mich, dass dich die Geschichte berührt hat, denn immerhin gibt es ja eine gewisse Läuterung bei Lechner. Was ich bis jetzt über derartige Menschen gelesen hab, kommt das schlechthin nie vor.

Können so nur Österreicher/innen schreiben? Das ist so schwarz, so tief-schwarz, so grausam. Das ist kein Wiener schwarzer Humor, kein Schmäh, das ist schwarze grausame Wirklichkeit. Das kann nur in einem Land geschrieben werden, in dem ein Prikopil und ein Fritzl gedeihen konnten – sorry das ist nicht beleidigend gemeint, bin sicher du verstehst was ich meine - aber eben auch ein Qualtinger und ein Hader. Das kommt so leicht daher wie ein Schmetterling und in Wahrheit ist es doch nur eine elende, schleimige Raupe.
LOL, ich weiß nicht, ob man von einer speziellen österreichen Schreibmentalität sprechen kann, aber vielleicht haben wir doch den Hang, ein bisschen im Ruß herumzustochern und genauer hinzusehen.
Dieser Typ wirkt im ersten Abschnitt so überzeichnet, aber auch überzeugend unsympathisch, dass man zwanghaft versucht, ob man nicht doch Gefühle für ihn entwickeln kann? Aber noch ist es nicht so weit. Du treibst das soweit bis zu dem Punkt, wo er das Mäderl mit dem Handtuch schlägt, und dann dieser Vergleich mit dem Ungeziefer. Da kommt mir wirklich alles hoch.
Wahrscheinlich hab ich einen Hang fürs Krasse, gibt wahrscheinlich keine Geschichte von mir, die das nicht hat. Auf der anderen Seite ist es mir natürlich besonders wichtig, sinnfällig zu schreiben, also dass man es irgendwo auch körperlich spürt.
Dann kommt der Teil, der mir überhaupt nicht gefällt. Natürlich, man ahnt es, der Lechner hatte eine schlechte Kindheit. Eine böse Mutter, die ihn mit Schweinefrass füttert und sexuell misshandelt. Diesmal also die Mutter, sonst ist es der Vater, Opa, Pfarrer, Jugendleiter. Das ist ja immer so. Warum kannst du ihn nicht einfach einen schlechten, bösen Menschen sein lassen? Gibt es so was nicht? Das einer einfach nur absolut böse ist? Einfach so, ohne Grund, ohne Vorgeschichte. Da soll man dann doch wieder Mitleid oder Mitgefühl oder vielleicht sogar Verständnis haben. Verständnis für das Unverständliche. Ich meine das kann ja passiert sein, irgendeinen Grund, außerhalb genetischer Disposition, muss es ja für sein Verhalten geben. Aber das wäre doch mal ein Geschichte, wo darauf gar nicht eingegangen wird. Wo man sich selber denken muss, warum der jetzt so ist? Das hat mich dann schon eher runtergezogen und ich hatte eigentlich noch mehr Wut auf ihn, wegen dieser Er-hatte-eine-schwere-Jugend-Leier.
Ja, das wurde ja schon von anderen auch kritisiert. Und ich kann diese Kritik auch verstehen, weil es ein sattsam bekannter Zugang ist. Aber ich brauchte eine Wiederholung der Situation: So wie er damals zu Füßen seiner Mutter gelegen hat, so liegt jetzt die Kleine vor ihm, und da macht es "klick" bei ihm, und er kann die Situation vergleichen und vielleicht so etwas wie Empathie entwickeln, weil er genau in der gleichen Situation war. Ich brauchte einen Grund für seine Läuterung. Genau deswegen bekommt er Skrupel, deswegen geht er auch durchs Fegefeuer, weil er das plötzlich erkennt.

Aber am Schluss wird er seiner Bestimmung gerecht und bringt sie um. Dann ist er wieder das Monster, als das du ihn von Anfang an vorgesehen hast. Eine Achterbahn der Gefühle, mit mehr Ab- als Auffahrten.
Ja, er ist natürlich noch immer der, der er ist. Und: Er will Marie nicht mehr hergeben, der einzige Mensch wahrscheinlich, zu dem er je positive Gefühle entwickelt hat.

Hallo Hal!

D.h., wenn man den Lechner verstehen will – das ist ja auch das Spannendste. Aber der Schlüssel dafür – die Beziehung zur Mutter – wird dem Leser so hingeworfen. Diese Stelle fällt völlig heraus, das wirkt ja schon fast wie eine Fußnote. Das ist für mich der größte Makel des Textes. Er müsste die Verbindung herstellen zwischen Mutter und Tat.
Ich hab das natürlich absichtlich so verfremdet, weil es in dieser Form, als eine Art pervertiertes Märchen, natürlich noch grausamer wirkt. Aber auch, weil das eben so bekannt ist, wollte ich das nicht nur so als Infodumping machen, oder eben mit einem Rückblick eine Szene aus seiner Kindheit beschreiben.
Bei einer solchen Person ist die Ausführung der Tat, jedes Detail daran, der Versuch, eine Fantasie auszuleben. Eine Fantasie, die sich über lange Zeit entwickelt hat und die irgendwo in der Kindheit wurzelt. Und das fehlt mir ein bisschen. Für mich bleibt so viel unklar (was auch daran liegen kann, dass ich Dinge überlesen hab – hab ich mit Sicherheit sogar). Ich frage mich zum Beispiel, warum es ausgerechnet Kinder sind, warum keine erwachsenen Frauen ...
Vielleicht weil er auf seine eigene pervertierte Art seine Kindheit aufarbeiten will, eine Wiederholung der Beziehung seiner Mutter zu ihm, nur dass er jetzt eben der Vater ist. Er will die Elternschaft "verstehen" oder vielleicht auch "nachfühlen", weil er eben so darunter gelitten hat. Eine sexuelle Komponente ist bei beiden Beziehungen gegeben.
Es gibt diese Andeutungen, dass Schönheit bei Lechner etwas auslöst – er selbst bezeichnet sich dagegen als Missgeburt. Es gibt viele Spuren, aber das alles bleibt zu vage für mich, ich komm dieser Person nicht näher. Weshalb Kannibalismus? Das ist etwas sehr Ungewöhnliches, auch unter Serienmördern. Diese Vorstellung, sich jemanden „einverleiben“ zu wollen, ist ja auch ein Wunsch nach Nähe - in der extremsten Konsequenz.
Wunsch nach Schönheit ist schlicht ein erotischer Wunsch, auch das Einverleiben. Aber er hat von seiner Mutter keine anderen Gefühle gelernt als die körperlichen, also kann er nur "verschlingen" und "durchdringen", er hat kein Ich-Gefühl entwickelt, sieht vielleicht keine Grenze zwischen sich und anderen Körpern.
Auch da gibt es glaube ich eine Andeutung, als Lechner dieses Mädchen an sich drückt.
Du beantwortest dir deine Fragen eh selbst! ;)
Andererseits spielt bei ihm das Destruktive eine Rolle, Lechner als Weltverschlinger, der alles schwarz scheißt. Ich komme nicht so richtig hinter seine Motivation, es gibt Spuren, aber vieles scheint sich auch zu widersprechen.
Ich glaube, wenn ich das ganz auflöste, alles ausspräche, würde die Geschichte verlieren.
Was ich auch noch als Problem empfinde, ist, dass Lechner diese Wandlung durchlaufen soll. Da wird der Figur glaube ich zu viel aufgebürdet. Dieser Kritikpunkt greift natürlich jetzt das Fundament an, weil die Geschichte genau so konzipiert wurde. Aber ich finde das ist einfach zu viel.
Ja, ist halt die Frage, ob das glaubwürdig ist. Möglich, dass es zuviel ist, aber es war mir wichtig.
Als ich den Text gelesen habe, ist mir eingefallen, dass ich mir als Kind ab und zu solche Begegnungen ausgemalt habe. Wie reagiert man auf so jemanden, wenn man ihm plötzlich ausgeliefert ist. Und ich bin auf dieselbe Lösung gekommen: Irritieren. Man müsste so reagieren, dass er in seiner Routine gestört wird, man müsste sich absolut atypisch verhalten. Also ich zweifle heute ganz stark daran, dass so etwas wirklich funktioniert.
Bei diesem speziellen Kind steht seine Krankheit an erster Stelle, die ist so davon besetzt, dass sie die Krankheit über die Gefahr stellt, in der sie schwebt und über die Angst. Sie reagiert also so nicht aus einer Überlegung oder Überlegenheit heraus, sondern weil sie ihr ganzes Leben mit dieser Krankheit umgehen musste, sich alles immer darum drehte. Ja, sicher hat sie dadurch eine besondere Persönlichkeit entwickelt. Aber ich denk auch nicht, dass ein normales Kind da irgendetwas anderes empfindet als Panik.
Trotzdem, irgendwie glaube ich nicht daran. Aber es ist gut gemacht, das muss ich sagen.
Glauben wäre natürlich das Wichtigste, aber gut, dass du es wenigstens gekonnt findest! :)
Mir hätte es besser gefallen, wenn Du mehr dieser Spur in Lechners Fantasien gefolgt wärst. Dort liegt ja irgendwo der Schlüssel: Gegenwart und Vergangenheit, Opfer/Täter. Irgendwo muss es da einen Punkt geben, wo sich das alles vermischt.
Achte mal auf den Titel! Das ist der Punkt, der Vergangenheit und Gegenwart verbindet. So wie er damals zu Füßen seiner Mutter gelegen und gewimmert hat, so liegt jetzt Marie vor ihm. Und der Vergleich bringt die Wandlung. Er begreift etwas durch die Ähnlichkeit.


Hallo Kasimir!

habe jetzt die Geschichte schon 3 Tage auf mich wirken lassen und ... sie wirkt nach. Ich lese nicht gern solche Geschichten - wenn man das überhaupt so formulieren darf bei der Thematik - aber deine ... Also bei dir hab ich natürlich nicht erwartet, dass das Ganze zur Moralpredigt in oder zwischen den Zeilen ausartet, aber ich habe schon lange wenn überhaupt keine Geschichte mehr gelesen, die soviel Einblick in eine kranke Seele gewährt und dabei so distanziert und vor allem so logisch in allem erscheint. Respekt!
Vielleicht war Musil ja ein guter Lehrer! ;) Anscheinend geht es allen so, dass sie gleichzeitig Nähe und Distanz zur Figur des Lechner empfinden. Aber dass du auch das Logische siehst, das freut mich besonders!


Hallo Mothman!

Erwartet hatte ich so eine Art Sozialdrama, wo der Prot, in Selbstmitleid watend, über die Unzulänglichkeit der Welt nachdenkt, während er darauf wartet, dass der Güterzug aus Barmbek oder von sonst wo sein Leben beendet; und nachdem dieser vorüberrauscht, sieht sein Kopf mit schwindenden Sinnen einen zarten Schmetterling auf seinem Fuß und erkennt im letzten Moment die Schönheit dieser Welt, ehe der abgetrennte Schädel den Bahndamm hinabkullert. Und Ende.
LOL, du schreibst hier ja schon eine eigene Geschichte!
Also ehrlich, da gefriert einem das Blut und eigentlich will man (ich) da gar nicht mehr weiterlesen – als ob einem da noch eine Wahl bliebe.
Wirklich fiese Geschichte! Ich mag mir gar nicht vorstellen wie das ist, wenn man mit so einer Idee schwanger geht und schließlich zu Papier bringen muss.
Ähm, ja, es geht dann ja nur mehr um das Wie, nicht um den Inhalt eigentlich.
Besonders teuflisch fand ich die Idee, dem Lechner diesen verhunzten bayrischen Akzent zu geben.
LOL, das ist Steirisch! Aber irgendwie hast du ja recht, denn die Steiermark wurde ja ursprünglich durch die Bayern wiederbesiedelt. ;)
Tja und ansonsten muss ich mich schon sehr anstrengen um etwas zu finden was man verbessern könnte. Wenn überhaupt, dann könnte man an der Stelle noch feilen, wo Lechner seinen Gesinnungswandel erlebt. Persönlich ging mir das eine Nuance zu schnell.
Ja, da ist schon was dran, aber das wäre sehr schwierig gewesen, da mehr zu schreiben, ohne schwülstig zu werden.

Danke euch allen für eure interessanten, wohlmeinenden und teilweise kritischen Anmerkungen! :)

Gruß
Andrea

 

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