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Ein Schuss Bosheit
Meine Eltern sagten immer, Wohnungswechsel seien unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Empathietrainings, als ob das der Grund gewesen wäre, mit mir von Barby nach Heitzburg überzusiedeln. Wenn ich aus diesem Umzug, den dritten in zwei Jahren, etwas gewonnen habe, dann die Einsicht, dass sich Menschen nicht unterscheiden, ob in Bad Langensalza, Barby oder sonstwo. Daher ist es ziemlich putzig, wenn die lieben Eingeborenen, meist Deutschlehrerinnen in den 50ern, mir anbieten, mich mit Land und Leuten vertraut zu machen. Das Entscheidende ändert sich nicht: Man kommt in eine Klasse und findet darin diverse gewachsene Gruppenstrukturen vor, die sich bequem typisieren lassen. Die Leute sind überall andere, doch die Gruppen, zu denen sie sich zusammenfinden, lassen sich haargenau bestimmen. Werdende Studentinnen mit ihren Filzmänteln, Halstüchelchen und keuschen Zöpfen. Alle zwei Minuten auf ihre Handys starrende Schlampen. Hedonistische, natürlich männliche Phlegmatiker, die sich für Computerspiele und Bodybuilding begeistern. Daneben gibt es freilich Schüler, die sich als homogene Gruppenwesen nicht hinreichend beschreiben lassen, da sie zu komplex sind. Auf den Fensterplätzen findet man in der Regel die Träumer und in der vordersten Reihe beispielsweise die besonders strebsamen Schüler.
Nachdem ich durch den Park gegangen war und darüber nachgedacht hatte, was es mir bedeutete, jeden Tag durch eben jenen Park gehen zu müssen, um zu jenem unvermeintlichen Schulgebäude, dessen rote Ziegelmauern ich orange im Morgenlicht strahlen sah, zu gelangen, setzte ich mir einige meinen Charakter betreffende Fragen vor, ein wenig Introspektion gehört schließlich dazu. Würde ich mich so weit unter Kontrolle bekommen, die Schlampen nicht beim Namen zu nennen? Mich nicht gleich im ersten Block unmöglich zu machen? Wie auch immer, es galt, sich einer dieser Gruppen anzuschließen, weil ich halt auch nur ein Mensch bin, der wie jeder Mensch ein wenig Zwei- und Mehrsamkeit braucht. Als Neuling würde ich einen gewissen Welpenbonus genießen, hatte Mutter gemeint, doch die glaubt vieles, auch an Land und Leute.
Ich also rein. "Guten Morgen." Die Lehrerin redete irgendwas, doch ich hörte nicht hin und sah mich nach einem geeigneten Sitzplatz um. Träumer sind mir zwar sympathisch, drängen mich aber meist in ihre Parallelwelten hinein, dachte ich. Für's Erste wäre es günstiger, eine größere Menge von Schülern auf seiner Seite zu haben, also einer Gruppe beizutreten. Die Phlegmatiker eigneten sich hierfür am besten; ihre Aufnahmebedingungen stellten keine großen Hürden dar: über schlechte Witze lachen und darüber reden, wie egal einem die Schule sei. Ich erkannte sie sofort, während meine neue Deutschlehrerin, Frau Höggernsecker, mir anriet, an einem Stadtrundgang teilzunehmen, den sie leiten würde, was ich höflich ablehnte, natürlich.
Schließlich setzte ich mich nicht zu den Phlegmatikern, weil ich jemanden brauchte, mit dem ich mich gut unterhalten konnte, zumindest in der Anfangszeit. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte ich immer noch eine privilegierte Partnerschaft mit den Phlegmatikern anstreben, dachte ich. Die Person, neben die ich mich setzte, saß auf dem Fensterplatz der letzten Reihe. In der letzten Reihe sitzen die kalten Analytiker, die Beobachter, die selbst nicht beobachtet werden wollen, mit einem Wort: Menschenkenner wie ich. Mit einem Blick aus dem Fenster können sie sich jederzeit ausklinken, wenn ihnen das Gelaber der vorderen Reihen zu sehr auf die Nerven geht. In der Tat war Valdo ein anregender Gesprächspartner. Schnell fand ich heraus, wie er über die Schlampen dachte, nämlich genauso abwertend wie ich, woraufhin ich meine Ich-Ökonomie, Gefühlsregulation und Gedankenmodellierung zurückschraubte, also die Zügel schleifen ließ und ein wenig lospolterte. Leider hörte eine der Schlampen, wie ich über sie herzog, dumm gelaufen. Und da diese wahrhaft sozialistische Schlampen-Gruppe bedingungslos zusammenhielt, schloss sie mich als mögliche Bezugsperson aus, schon in jenem ersten Block. Naja, Valdo konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als die beleidigte junge Frau vor versammelter Klasse ihr Empörtsein in Worte zu fassen suchte, was ihr natürlich misslang. Auch die Phlegmatiker lachten herzhaft mit. Ohne einen Schuss Bosheit mundet eben nichts, dachte ich, das Mischgefühl aus Betroffenheit und Schadenfreude genießend.
"I need a cunt", murmelte ich vor mich hin, als ich den Schotter des Sportplatzes unter meinen Füßen knistern hörte, den unvermeintlichen Park schon vor Augen. So ein bisschen Spaß auf Kosten anderer mag ja ganz erfrischend sein, dachte ich, andererseits wird er teuer erkauft, zu teuer. An das duftig-weiche Frauenfleisch der Schlampen würde ich so schnell nicht herankommen, was umso ärgerlicher ist, wenn man bedenkt, dass sie zu den natürlichen Beuteobjekten der Phlegmatiker (und also mir) gehören. Die halbherzig kopierten Seiten, welche die Ehtiklehrerin uns kurz vor ultimo in die Hand gedrückt hatte, irgendwas über Aufklärung, wer oder was das sei, feuerte ich gleich mal in die Ecke. Kant war mir egal, I needed a cunt.
Die Quasi-Studentinnen konnte ich nicht so recht einschätzen, glaubte aber, dass sie sich mehrheitlich mit den Schlampen solidarsierten, einfach weil es auch Frauen waren. Verdammt, Schuldgefühle stiegen in mir auf und schwollen mächtig an, die ich erst im letzten Moment ironisch zu entkräften vermochte. Beinahe hätte ich mich richtig schlecht gefühlt; so lachte ich ein kaltes, zynisches Lachen in die Herbstnacht hinaus.