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Ein Schuss Bosheit

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01.10.2010
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Ein Schuss Bosheit

Meine Eltern sagten immer, Wohnungswechsel seien unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Empathietrainings, als ob das der Grund gewesen wäre, mit mir von Barby nach Heitzburg überzusiedeln. Wenn ich aus diesem Umzug, den dritten in zwei Jahren, etwas gewonnen habe, dann die Einsicht, dass sich Menschen nicht unterscheiden, ob in Bad Langensalza, Barby oder sonstwo. Daher ist es ziemlich putzig, wenn die lieben Eingeborenen, meist Deutschlehrerinnen in den 50ern, mir anbieten, mich mit Land und Leuten vertraut zu machen. Das Entscheidende ändert sich nicht: Man kommt in eine Klasse und findet darin diverse gewachsene Gruppenstrukturen vor, die sich bequem typisieren lassen. Die Leute sind überall andere, doch die Gruppen, zu denen sie sich zusammenfinden, lassen sich haargenau bestimmen. Werdende Studentinnen mit ihren Filzmänteln, Halstüchelchen und keuschen Zöpfen. Alle zwei Minuten auf ihre Handys starrende Schlampen. Hedonistische, natürlich männliche Phlegmatiker, die sich für Computerspiele und Bodybuilding begeistern. Daneben gibt es freilich Schüler, die sich als homogene Gruppenwesen nicht hinreichend beschreiben lassen, da sie zu komplex sind. Auf den Fensterplätzen findet man in der Regel die Träumer und in der vordersten Reihe beispielsweise die besonders strebsamen Schüler.

Nachdem ich durch den Park gegangen war und darüber nachgedacht hatte, was es mir bedeutete, jeden Tag durch eben jenen Park gehen zu müssen, um zu jenem unvermeintlichen Schulgebäude, dessen rote Ziegelmauern ich orange im Morgenlicht strahlen sah, zu gelangen, setzte ich mir einige meinen Charakter betreffende Fragen vor, ein wenig Introspektion gehört schließlich dazu. Würde ich mich so weit unter Kontrolle bekommen, die Schlampen nicht beim Namen zu nennen? Mich nicht gleich im ersten Block unmöglich zu machen? Wie auch immer, es galt, sich einer dieser Gruppen anzuschließen, weil ich halt auch nur ein Mensch bin, der wie jeder Mensch ein wenig Zwei- und Mehrsamkeit braucht. Als Neuling würde ich einen gewissen Welpenbonus genießen, hatte Mutter gemeint, doch die glaubt vieles, auch an Land und Leute.

Ich also rein. "Guten Morgen." Die Lehrerin redete irgendwas, doch ich hörte nicht hin und sah mich nach einem geeigneten Sitzplatz um. Träumer sind mir zwar sympathisch, drängen mich aber meist in ihre Parallelwelten hinein, dachte ich. Für's Erste wäre es günstiger, eine größere Menge von Schülern auf seiner Seite zu haben, also einer Gruppe beizutreten. Die Phlegmatiker eigneten sich hierfür am besten; ihre Aufnahmebedingungen stellten keine großen Hürden dar: über schlechte Witze lachen und darüber reden, wie egal einem die Schule sei. Ich erkannte sie sofort, während meine neue Deutschlehrerin, Frau Höggernsecker, mir anriet, an einem Stadtrundgang teilzunehmen, den sie leiten würde, was ich höflich ablehnte, natürlich.

Schließlich setzte ich mich nicht zu den Phlegmatikern, weil ich jemanden brauchte, mit dem ich mich gut unterhalten konnte, zumindest in der Anfangszeit. Zu einem späteren Zeitpunkt könnte ich immer noch eine privilegierte Partnerschaft mit den Phlegmatikern anstreben, dachte ich. Die Person, neben die ich mich setzte, saß auf dem Fensterplatz der letzten Reihe. In der letzten Reihe sitzen die kalten Analytiker, die Beobachter, die selbst nicht beobachtet werden wollen, mit einem Wort: Menschenkenner wie ich. Mit einem Blick aus dem Fenster können sie sich jederzeit ausklinken, wenn ihnen das Gelaber der vorderen Reihen zu sehr auf die Nerven geht. In der Tat war Valdo ein anregender Gesprächspartner. Schnell fand ich heraus, wie er über die Schlampen dachte, nämlich genauso abwertend wie ich, woraufhin ich meine Ich-Ökonomie, Gefühlsregulation und Gedankenmodellierung zurückschraubte, also die Zügel schleifen ließ und ein wenig lospolterte. Leider hörte eine der Schlampen, wie ich über sie herzog, dumm gelaufen. Und da diese wahrhaft sozialistische Schlampen-Gruppe bedingungslos zusammenhielt, schloss sie mich als mögliche Bezugsperson aus, schon in jenem ersten Block. Naja, Valdo konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als die beleidigte junge Frau vor versammelter Klasse ihr Empörtsein in Worte zu fassen suchte, was ihr natürlich misslang. Auch die Phlegmatiker lachten herzhaft mit. Ohne einen Schuss Bosheit mundet eben nichts, dachte ich, das Mischgefühl aus Betroffenheit und Schadenfreude genießend.

"I need a cunt", murmelte ich vor mich hin, als ich den Schotter des Sportplatzes unter meinen Füßen knistern hörte, den unvermeintlichen Park schon vor Augen. So ein bisschen Spaß auf Kosten anderer mag ja ganz erfrischend sein, dachte ich, andererseits wird er teuer erkauft, zu teuer. An das duftig-weiche Frauenfleisch der Schlampen würde ich so schnell nicht herankommen, was umso ärgerlicher ist, wenn man bedenkt, dass sie zu den natürlichen Beuteobjekten der Phlegmatiker (und also mir) gehören. Die halbherzig kopierten Seiten, welche die Ehtiklehrerin uns kurz vor ultimo in die Hand gedrückt hatte, irgendwas über Aufklärung, wer oder was das sei, feuerte ich gleich mal in die Ecke. Kant war mir egal, I needed a cunt.

Die Quasi-Studentinnen konnte ich nicht so recht einschätzen, glaubte aber, dass sie sich mehrheitlich mit den Schlampen solidarsierten, einfach weil es auch Frauen waren. Verdammt, Schuldgefühle stiegen in mir auf und schwollen mächtig an, die ich erst im letzten Moment ironisch zu entkräften vermochte. Beinahe hätte ich mich richtig schlecht gefühlt; so lachte ich ein kaltes, zynisches Lachen in die Herbstnacht hinaus.

 
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Hallo Salamander,

bekannte Gedanken, die du da niedergeschrieben hast. Ich konnte mich sofort mit dem Prot identifizieren. ;)

Du beschreibst also, wie der Prot das Umziehen und die Menschen um ihn herum (insbesondere in der Schule) empfindet. Schon beim Lesen fragte ich mich, worauf du hinaus wolltest, was die Schlusspointe sein würde - aber es gab keine!
Das ist in meinen Augen das Manko des Textes. Du beschreibst, alles gut und schön, unterhaltsam, und dann hörst du sozusagen mittendrin einfach auf. Finde ich schade, weil was bringt mir das? Der Prot ist jetzt erfolgreich in seiner Gruppe, kalte Analytiker, angekommen. Ja... und?
Sollte das Credo des Textes wirklich sein, dass die Menschen überall gleich sind? Das wäre mir zu dünn.

Viele Grüße,
Maeuser

 

Hallo Maeuser,

die Schlusspointe, wenn man so will, ist die Wiederkehr des Immergleichen. Der Prot erwarte eine Deutschlehrerin, die ihm Land und Leute erklären will, verschiedene Gruppenstrukturen und fürchtet, gleich zu Beginn zu entgleisen. Seine Ansichten bestätigen sich und die scheinbare Freiheit, die er gegenüber seinem eigenen Verhalten hatte, indem er sie befragte, wird dadurch zunichte gemacht, dass er sich gehen lässt und somit genau das passiert, was er befürchtete. Freilich kommt es anders, wie billig, als man denkt, als er dachte...

 

Hallo Salamander,

die Beschreibung gefällt mir sehr gut und auch ich kann nachvollziehen, was der Prot. empfindet und beobachtet.

Finde diese Beschreibung, dass alle Menschen in Gruppen eigentlich ziemlich nach den gleichen Mustern agieren und sich zusammenfinden sehr gelungen.

Eine wirkliche Pointe wäre das allerdings tatsächlich wohl nur gewesen, wenn der Prot. vielleicht die Hoffnung gehabt hätte, dass es diesmal anders wird.

Oder als Alternative (ich glaube das würde deinem ursprünglichen Gedanken näher kommen): vielleicht solltest du irgendwo noch genauer darstellen, dass der Prot. eigentlich vorhat sich zusammenzunehmen, kühl zu analysieren und sich genauso systematisch der Gruppe anzuschließen, die ihm den größten Vorteil bietet. Dann ist natürlich sein "die Zügel schleifen lassen", wie du es so schön nennst die Pointe. Muss man aber erstmal dahinter kommen. So scheint das nur als ein flüchtiger Gedanke, den der Prot. dann wieder verwirft. Noch nicht als echter Wendepunktl. Deshalb würde ich das irgendwie noch betonen, dass er also eigentlich die "Zügel stramm halten" will ;-)

Wenn das so irgdendwie dem enstprechen sollte, was du meinst..

liebe Grüße,

Eine wie Alaska

 

Hallo Ala,

hab jetzt zwei Absätze hinzugefügt, die ein wenig die Gefühlslage des Protagonisten veranschaulichen, womit auch seine Ängste, denke ich, fasslicher werden.

Gruß

 

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