Ein Spiegelbild
Er saß im Zug, vor dem Fenster floss die Landschaft vorbei. Ab und zu huschten an den Gleisen stehende Bäume durchs Blickfeld, ebenso in regelmäßigen Abständen die Strommasten der Bahnstrecke. In der Ferne wogten Hügel, teils von gelben Feldern überzogen, teils von Wald bedeckt, und sahen aus, wie ein Meer mit riesigen, verschiedenfarbigen Wellen. Über ihnen wurde der Nachmittagshimmel langsam golden vom Licht der tief stehenden Sonne, die alle Schatten um diese Tageszeit in sanfte Länge streckte. Lucas lehnte seinen Kopf gegen die Scheibe des Zugfensters und ließ seine Gedanken frei schweifen. Völlig verträumt starrte er auf die Spiegelungen der Scheibe, in denen man die anderen Mitreisenden sehen konnte. Sein Blick wanderte verloren und gleichgültig über das matte Glas. Als er seinen Blick wieder scharf stellte, blickte er direkt in ein paar aufmerksam auf ihn gerichtete Augen. Sie mochten einer Person zwei Sitzreihen weiter vorn gehören, er konnte sie nur in der Spiegelung der Scheibe sehen. Er wandte sich kurz ab, dann blickte er zu der Stelle zurück, an der sich die Augen gespiegelt hatten. Sie blickten ihn nach wie vor an und gehörten offenbar einer jungen Frau, die ebenfalls den Kopf gegen die glatte Scheibe des Zugfensters gelehnt hatte. Sie lächelte leicht, wobei sich lediglich ein Mundwinkel nach oben zog. Es wirkte einladend und spöttisch zugleich. Lucas erwiderte den Blick eine Weile wie gebannt, wobei er die Erscheinung der jungen Frau auf sich wirken ließ. Sie hatte langes Haar von hellbrauner Farbe, dass ihr Gesicht umrahmte und an der Scheibe nach unten fiel. Lucas fiel auf, was für einen entschlossenen Eindruck das stolz wirkende Kinn machte. Ihre Nase war nicht bemerkenswert, aber ihre Augen hatten etwas Besonderes, denn aus ihnen schienen Offenheit und Wärme zu sprechen, das musste sich Lucas selbst gestehen. Obwohl er eigentlich jeden Menschen verachtete, der sich nur durch das Aussehen der Augen einer bestimmten Person über deren Charakter sicher war. Solche Menschen waren blauäugige Romantikerinnen oder Romantiker und er selbst zählte sich nicht zu diesen. Und doch konnte er den Blick nicht abwenden. Die junge Frau trug einen dunkelroten Overall und auf dem Sitz neben ihr stand ein großvolumiger Wanderrucksack. Doch diese Einzelheiten nahm Lucas nur noch am Rande wahr. Dieser Blick, gespiegelt durch eine dreckige Fensterscheibe, hielt ihn gefangen, ohne, dass er es als Gefangenschaft empfunden hätte. Irgendwann war er sich nicht einmal mehr bewusst, dass er die ganze Zeit der jungen Frau in die Augen schaute. So verstrich seine, ihm vorhin noch so lang erschienene Zugreise. Mit einem Mal erklang jedoch eine verzerrte Stimme aus dem Lautsprecher über ihm. Sie riss ihn aus seinen Träumereien und es fühlte sich an, als hätte ihm jemand eine wunderbar warme Decke plötzlich weggezogen, sodass ihn ein heftiger Schauer überlief und er aufschreckte aus der wohligen Behaglichkeit.
„Bahnhof Berlin Ostkreuz – Ausstieg in Fahrtrichtung links“
Ja, richtig! - er musste aussteigen. Lucas sprang auf, packte seine Reisetasche und seinen Hut und hastete den Gang entlang davon. Nach einigem Gedränge in der aus dem Zug herausströmenden Menge stand Lucas auf dem Bahnhof. Ihm fror, auf dem Bahnhof war es windig. Die Leute um ihn herum machten sich eilig auf zum Ausgang des Bahnhofes, doch während Lucas sich ebenfalls gen der Treppen in Bewegung setzte, die hinunter in die Bahnhofshalle führten, suchte ihn plötzlich das Gefühl heim, etwas vergessen und im Zug gelassen zu haben. Er kam sich unvollständig vor. Seine Reisetasche? - dort, sie stand neben ihm auf dem Bahnsteig, der sich langsam leerte. Sein Hut? - er hatte ihn noch immer in der Hand. Lucas sah zurück zum Zug, den er eben verlassen hatte, als könne der ihm sagen, was er ihm so heimtückisch gestohlen hatte. Ein Gesicht blickte durch eine der Scheiben zu ihm hinaus. Ein Blick, der ihn sofort mit Wärme füllte, ein stolzes Kinn, ein roter Overall. Lucas stand regungslos auf dem Bahnsteig und starrte in dieses ihm fremde und doch, durch eine seltsame Bekanntschaft in einer Fensterscheibe, vertraute Gesicht. Ein Pfiff gellte kalt den Bahnsteig entlang, doch Lucas hörte ihn wie durch warme Ohrenschützer, gedämpft und weit, weit weg. Vor allem aber: uninteressant für ihn. Der Zug setzte sich in Bewegung. Lucas folgte mit den Blick dem Augenpaar, das ihn weiterhin ansah. Und plötzlich brach der Bann, wieder erwachte Lucas mit einem Frösteln aus seinem Traum. Und er stand da, alleine und verloren, sah dem Zug hinterher, der langsam Fahrt aufnahm und drehte unsicher und aufgeregt den Hut in den Händen. Seinem Gesicht sah man an, dass in seinem Kopf Gedanken rasten und sich gegenseitig auszuspielen suchten. Ein kalter Wind fuhr Lucas in die Jacke und ihm wurde bewusst wie allein er hier stand, wie einsam er war. Und dann begann er zu rennen, seine Reisetasche auf dem Bahnsteig zurücklassend. Er sprintete das Gleis entlang, den roten Rücklichtern des Zuges hinterher. Noch war der Zug nicht aus dem Bahnhof heraus, noch konnte Lucas es schaffen. Die kalte Luft stach ihm in der Kehle, doch er merkte es nicht. Ebenso wenig, wie er merkte, wie seltsam er sich benahm. Er rannte einem Paar Augen hinterher, die er für eine Bekanntschaft, eine Liebschaft hielt, weil er sie einige Zeit im Spiegelbild betrachtet hatte. Lucas wurde beherrscht von einem unermesslichen Wunsch. Dem Wunsch, nicht mehr alleine, nie wieder einsam zu sein.
Der Zug wurde immer schneller, doch noch holte Lucas auf. Er war nun nur noch wenige Meter hinter dem Ende des Zuges hinterher. Er sammelte seine letzten Energiereserven auf und beschleunigte ein letztes Mal zu einer (in geschlossenen Ortschaften mit Sicherheit verbotenen) Geschwindigkeit. Und nun er war gleichauf mit dem Ende des Zuges. Er sah das schaukelnde Trittbrett, auf das er springen musste, setzte zum Sprung an und flog seiner ungewissen Zukunft entgegen. Sie konnte im Krankenhaus oder in einem Rondevouz enden. Wer wusste das schon? Das Schicksal ist mitunter launischer als ein alter Esel.