Mitglied
- Beitritt
- 03.03.2020
- Beiträge
- 32
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Ein Sterbenswörtchen
Letzte Nacht hat der Sternenhimmel mir die Kehle zugeschnürt, aber ich möchte nicht darüber reden. Ich habe unser Lied gesungen, Mama. Das mit den Krähen. Das mit schwarz sind die Flügel und schwarz ist die Nacht.
Kein Sterbenswörtchen, hat meine Mama gesagt, als ich klein war, kein Wort darüber, wie du dich fühlst. Denn wenn sie es wissen, dann nutzen sie es aus, dann saugen sie dich aus wie die Vampire, und ehe du dich versiehst, bist du einer von ihnen. Kein Sterbenswörtchen, hat meine Mama gesagt, und ich hab mich dran gehalten. Bis jetzt. Aber jetzt ist meine Mama nicht mehr da und ich bin kurz davor, etwas zu sagen.
Wie fühlt sich das an, Mama? Wie fühlt sich das an, da unter der Erde? Bist du traurig, wenn ich etwas sage, Mama? Wirst du dann böse?
Eigentlich sollte ich ein Engel werden, hat Mama gesagt. Eigentlich sollte Papa einen Kleiderhaken heiß machen und ihn um meinen Kopf legen, wie einen Heiligenschein, und einen Engel aus mir machen. Aber Papa ist kein Engelmacher geworden, Papa ist ein nutzloser, arbeitsloser Versager geblieben, genau wie sein Bruder, der sich nicht angeschnallt und von der Fahrbahn abgekommen und durch die Windschutzscheibe geflogen ist. Einer, der den Leuten selbst tot noch Umstände macht, weil sie seine Einzelteile einsammeln und wieder zusammensetzen müssen. Wie ein Puzzle, hab ich gesagt, und vielleicht war der Onkel ja ein Engel, weil er fliegen konnte, hab ich gesagt, aber Mama hat gesagt, nein, und dann hat sie meine Beine blau gemacht, indem sie immer wieder auf die gleiche Stellen geschlagen hat, stundenlang, während sie unser Lied gesungen hat. Bis mir schwarz vor Augen wurde. Blau sind die Beine und schwarz ist die Nacht …
Möchten Sie heute über Ihre Kindheit reden, hat der Psychiater gefragt, und ich habe gesagt, nein, möchte ich nicht. Vielleicht beim nächsten Mal.
»Ich habe das Gefühl, meine Gedanken besser unter Kontrolle zu haben.«
»Das freut mich.«
Ich glaube, dass es ihn wirklich freut. Ich mag den Psychiater. Ich komme gerne her. Meistens sagt er nicht viel. Das meiste sage ich. Was ich mir von ihm erwarte, hat er mich bei unserem ersten Treffen gefragt. Ich musste kurz nachdenken. Ich mochte es, dass er mich nicht beobachtete, während ich nachdachte, er machte auch keine Notizen, er schrieb nicht sie muss kurz nachdenken auf ein Klemmbrett und er trug auch keine Brille, die ihm ständig verrutschte und die er ständig wieder nach oben schieben musste. Er war anders, als ich mir einen Psychiater vorgestellt hatte, deshalb mochte ich ihn.
»Gut. Ich weiß es jetzt.«
»Also?«
»Ich möchte, dass Sie mein Spiegel sind.«
»Warum möchten Sie das?«
»Damit ich mich besser kennenlernen kann. Mich erkennen kann.«
»Gut. Dann möchte ich Ihr Spiegel sein. Was sehen Sie?«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wurde nervös. Er sah mir direkt in die Augen, aber er drang nicht in mich ein. Er blieb geduldig an der Schwelle stehen. Gab mir Zeit, mich zu sortieren.
»Ich sehe … Was sehen Sie denn?«
»Ich sehe nichts. Ich bin ein Spiegel.«
»Hm.«
»Also?«
»Ich sehe einen Menschen.«
»Gut. Was noch?«
»Ich sehe einen Abgrund.«
»Ist er bedrohlich?«
»Ja. Ich denke schon.«
»Was noch?«
»Ich sehe einen Menschen, der vor dem Abgrund steht, und der Mensch hat Angst.«
»Angst wovor?«
»Zu stolpern. Zu fallen.«
»Gut. Dieser Mensch, sind das Sie?«
»Ich denke schon.«
»Und dieser Abgrund … Wie sieht der aus?«
»Schwarz.«
Jetzt war der richtige Zeitpunkt, die verrutschte Brille zu verschieben. In mich einzudringen.
»Sie haben doch nichts dagegen?«
Er wartete nicht auf meine Antwort, stattdessen stand er auf und öffnete das Fenster. Ich spürte, wie die Frühlingsluft den Raum flutete. Irgendwo schrie ein Kind, irgendwo gurrten Tauben. Ich konnte ihren Flügelschlag hören, als sie davonflogen.
»Was noch?«
Er saß mir wieder gegenüber.
»Sonst nichts.«
»Gut.«
Das war unser erstes Treffen.
»Möchten Sie heute über Ihre Kindheit reden?«
»Ich weiß nicht.«
»Sie haben nicht nein gesagt.«
»Ja.«
»Sonst sagen Sie immer nein.«
»Ja.«
»Also?«
»Ich weiß nicht. Das meiste habe ich verdrängt, glaube ich.«
»Warum?«
»Ich weiß nicht.«
»Die meisten Menschen verdrängen Erinnerungen, die Sie schmerzen.«
»Ja.«
»Schmerzt Sie die Erinnerung an ihre Kindheit?«
»Nein. Oder doch. Ich weiß nicht. Können wir über etwas anderes reden?«
»Worüber möchten Sie reden?«
»Ich weiß nicht.«
»Gut. Wir müssen nicht reden, wenn Sie nicht möchten.«
»Ich möchte ja. Ich weiß nur nicht, wie.«
»Das wie ist ganz egal.«
Das Fenster steht offen. Wieder Taubengurren, wieder Flügelflattern, und auch er scheint es zu hören. Er lächelt, sitzt einfach da und hört dem Frühling zu.
»Ich erinnere mich an ein Lied.«
»Gut. Möchten Sie es vorsingen?«
»Nein. Oder doch. Ich weiß nicht.«
»Worum geht es in dem Lied?«
»Um Krähen. Und die Krähen …«
… sitzen auf den Stromleitungen vor unserem Haus. Ich bin zurück am Ort meiner Kindheit und weiß sofort, dass ich nichts verpasst habe. Was hatte ich erwartet? Kindergelächter, dieselben Kinder von damals, mit denselben aufgeschürften Knien, die sich in den Büschen verstecken? Wahrscheinlich genau das. Aber da sind keine Kinder und auch keine Büsche mehr, alles hier hat jetzt einen Sinn, einen Erwachsenensinn, die Wiesen sind jetzt Parkplätze und die Bäume, auf deren Ästen ich gesessen war, um auf körnerpickende Wackelkopftauben herunterzuspucken, sind leise surrende Strommasten.
Aber zumindest die Klingel ist noch dieselbe. Dieselbe, alte Melodie, die zu sagen scheint Komm raus zum Spielen!, und die meistens dann erklang, wenn wir beim Mittagessen saßen, wenn die Wohnung nach Gulasch roch oder nach Kassler, hauptsache Fleisch, ein Essen ohne Fleisch war kein Essen, man brauchte Fleisch, um groß und stark zu werden, Fleisch als Hauptspeise und, wenn möglich, Fleisch als Beilage. Heute bin ich Vegetarierin.
Die Tür geht auf und ich blicke in einen Spiegel. Einen behaarten, rotäugigen Spiegel.
»Ach was, die Elvi. Und genau pünktlich. Es gibt …«
Gulasch, was sonst. Die ganze verdammte Bude riecht nach Gulasch, und als ich meinen Bruder in den Arm nehme, was mehr einer unbeholfene Andeutung von In-den-Arm-nehmen gleicht, weil wir das bei uns in der Familie eigentlich nicht machen, also alles, was mit Nähe zu tun hat, sei es körperlich oder seelisch, da frage ich mich kurz, ob das wirklich mein Bruder ist oder doch jemand anderes, etwas anderes, das Gulaschwesen vom Gulaschplaneten vielleicht, so, wie der riecht und so, wie der sich anfühlt. So anders, so schwer. Aber dann rieche ich noch mehr. Den süßlichen Grasgeruch, was schon ein ziemlich eindeutiges Zeichen dafür ist, dass es tatsächlich Lago ist, mein kiffender Bruder, der mit Anfang dreißig noch immer zuhause wohnt. Nicht, weil er sein Leben nicht auf die Reihe bekommt, sondern wegen der Kunst, er braucht die Nestwärme, um sich voll und ganz entfalten zu können, hat er mal gesagt, und außerdem braucht er den vollen Kühlschrank und das gespülte Geschirr – das hat er bemerkt, als er mit achtzehn von Zuhause ausgezogen ist und innerhalb eines Jahres so viele Schulden und so viel Schimmel in Tupperschüsseln angehäuft hat, dass er jetzt jeden Tag Gras rauchen muss, um die Gedanken an die Schimmelmonster und die Gläubiger verdrängen zu können. Lago der Schönreder hat Papa ihn immer genannt, wenn Mama ihn nicht gerade Lago den Dummschwätzer nannte. Ich nannte ihn einfach nur Lago, und ich bewunderte ihn dafür, dass er seinen Traum verfolgte. Nur gesagt hab ich ihm das nie.
Ich gehe den Flur entlang. Ich spüre meinen Bruder im Rücken und den Druck, den das auf mich ausübt. Als würde er mich stoßen, auf die große Bühne, um die große Rede zu halten, und obwohl jeder der Anwesenden weiß, dass es jetzt keine richtigen Worte gibt, müssen es genau die jetzt sein.
Ich versuche ihn auszublenden, meinen Bruder, und den Gedanken an die Rede und an das Publikum und an alles andere auch, und folge weiter dem Geruch.
Und da steht er also, der Rest der Familie, und fast kommen mir die Tränen, als ich das denke, vielleicht, weil er Mamas Schürze trägt, vielleicht auch, weil er so alt aussieht, und weil er, als er sich umdreht und mich hinter seiner beschlagenen Brille ansieht, strahlt und gleichzeitig weint. Ich weiß gar nicht, wie das geht, aber es geht, und dann nimmt er mich in den Arm und sagt Gott sei Dank bist du da, Elvi, und jetzt kommen mir wirklich die Tränen und jetzt weiß ich auch wieder, warum das nie mein Ding war, das mit der Nähe. Ich kann das nicht und ich will das nicht, aber ich spüre, dass ich das jetzt muss, und dass wir das, wenn überhaupt, nur gemeinsam überstehen. Und ich denke ja, Gott sei Dank bin ich da. Und frage mich, wo ich eigentlich die letzten Jahre war.
Hier und da. Und was ich da so gemacht habe? Dies und das. Mehr war nicht aus mir rauszuholen, und glücklicherweise kam es nicht oft vor, dass überhaupt jemand danach fragte. Ich hatte mich Schritt für Schritt aus der Welt geghostet. Nur selten traf ich noch Bekannte von damals auf der Straße oder beim Einkaufen, und sie waren tatsächlich überrascht, dass ich noch am Leben war – Elvi? Was machst du denn hier! Ich dachte, du … Mensch, geht's dir gut? Und mittlerweile war ich recht passabel darin, in diesen Gesprächen eine gute Figur abzuliefern, man merkte mir kaum noch an, wie unwohl ich mich dabei fühlte. Ich brachte sie dazu, über ihre Beziehungen zu reden, ihren Job, die Serie, die sie gerade auf Netflix sahen und über das, was sie planten, heute zu Mittag zu essen … Und dann war ihre Zeit für mich auch schon wieder aufgebraucht. War toll, dich gesehen zu haben! Hast du noch deine alte Nummer? Nein, hab ich nicht, denn als ich sie noch hatte, hatte ich ständig Angst, dass mir jemand schreibt, jemand wie du, irgendjemand, der mich aus meiner Routine reißt, aus meinem Dies und Das, das ich mir in mühevoller Arbeit aufgebaut hatte.
»Sie öffnen sich. Wie fühlt sich das an?«
»Richtig. Und falsch. Ich weiß nicht. Wie …«
... Papas Gulasch. Eine klasse Vegetarierin bin ich. Es gibt so viel zu sagen. Hatte sie Schmerzen? War jemand bei ihr? Ich weiß gar nicht, ob ich das alles wissen will und ich weiß gar nicht, wohin mit meinen Gefühlen und meinen Gedanken, vielleicht stehe ich nach dem Essen auf, als wäre nichts gewesen, verabschiede mich und fahre wieder nach Hause. War ich nicht gerade noch froh, hier zu sein? Und jetzt erdrückt mich die Stille und das Geschlürfe und das Geklimper des Bestecks, ich überlege kurz, ob ich mir die Haare herausreißen soll, ob das eine der Situation angemessene Reaktion wäre oder doch zu hysterisch.
Lago lächelt mich an.
»Schmeckt's?«
»Ja. Danke.«
»Mama hat sich eine Baumbestattung gewünscht. Ganz anonym.«
»Müssen wir jetzt darüber reden?«
»Wir dachten nur …«
»Ja, ich weiß. Schon gut.«
»Elvi, du kannst …«
»Bitte. Nicht jetzt.«
Wir sind komplett unfähig, zu kommunizieren.
»Ich bin komplett unfähig, zu kommunizieren. Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Sie machen das gut.«
Abends liege ich im Bett meiner Eltern. Papa hat mir angeboten, auf der Couch zu schlafen, und ich habe nein gesagt, habe gesagt, denk an deinen Rücken, Papa, aber er hat mir einen Kuss auf die Stirn gegeben und gesagt, es gibt jetzt andere Sachen, an die er denken muss. Und dass er dort sowieso nicht einschlafen kann, alleine.
Ich frage mich, was er an ihr vermisst. Ob er sie wirklich vermisst oder ob es nur die Gewohnheit ist, die er vermisst, die Routine. Sein Dies und Das. Und ich frage mich, ob man sich solche Fragen stellen darf.
Ich kann dich riechen, Mama. Der Mond scheint durch das Fenster und ich kann dich riechen, ich wälze mich hin und her, die Matratze ist viel zu weich, das Kissen hat keine Füllung, ist ein Sack voller Luft, der mich wahnsinnig macht, genau wie dein Geruch. Ich checke mein Handy, checke mein leeres Postfach, starre die Googlestartseite an, scrolle durch die Einstellungen, sehe mir die letzten eingegangen Anrufe an. Papa. Lago. Mama. Mama Mama Mama Mama … Ich beiße in den Luftsack und zerkratze die zu weiche Matratze und strample die Decke von mir wie ein eingeschnapptes, bescheuertes Kleinkind und überlege noch mal, ob das mit dem Haarerausreißen vielleicht doch keine so blöde Idee ist, und ob ich mir vielleicht zusätzlich noch die Zähne herausreißen soll, und ob irgendetwas davon irgendwas bringt und ob überhaupt irgendetwas irgendwas bringt und denke nein, eigentlich nicht, das alles hier ist so dermaßen unnötig und dumm und mir geht es besser, wenn ich alleine bin, und helfen kann ich so, wie ich bin, sowieso niemandem.
Ich schleiche aus dem Zimmer meiner Eltern, vorbei an Papa, der auf der Couch liegt, beleuchtet vom blauen Flackern des Fernsehers, vorbei am Zimmer meines Bruders, aus dem leise Musik dringt, seine eigene Musik, die mir immer zu melancholisch war, die mir immer zu viel preisgegeben hat von ihm und von uns. Ich trete hinaus vor die Tür und stehe im Mondschein und schaue hinauf zu den Sternen und ich spüre, wie sich mir die Kehle zuschnürt, wie ich taumle. Ich muss mich festhalten am Strommast und höre das Surren der Leitung, als wäre es tief in meinem Kopf, und ich kann dich hören Mama, und mein Kopf droht zu platzen. Ich muss hier weg. Ich steige in mein Auto und fahre weg, weit weg von dir und von dem Ort meiner Kindheit, einer Kindheit, die ich nie hatte. Wegen dir, Mama. Weil du gesagt hast, dass ein Fluch auf mir lastet. Ein Familienfluch, ein Versagerfluch, du hast gesagt, dass niemals etwas aus mir werden wird und dass du mich bestrafen musst, dass das die einzige Möglichkeit ist. Du warst wahnsinnig, Mama, verrückt, übergeschnappt, hysterisch und manisch und plem-plem und bekloppt, und ich bin froh, dass du tot bist, du Miststück, du Biest, du Lebensaussaugerin, du verdammter, gestörter Vampir. Ich fahre viel zu schnell und es ist mir egal, du hast mir nichts mehr zu sagen, ich reiße die Fenster auf und singe unser Lied und spüre die Nachtluft in meinen Haaren, schwarz sind die Flügel und schwarz ist die Nacht, und wenn ich gegen einen Baum krache und durch die Windschutzscheibe fliege, dann fliege ich einfach weiter, Mama, weil ich ein Engel bin, Mama, weiß sind die Flügel und weiß ist das Licht und ich bin froh, dass du tot bist, ich brauche dich nicht!
Was ich brauche, ist Hilfe.
Jetzt hab ich's gesagt.