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Ein Versprechen
Mit gesenktem Kopf stapfte das Mädchen durch den Schnee. Es fiel nicht auf, es wurde nicht beachtet, doch es machte ihr nichts aus. Es war es gewohnt, nicht bemerkt zu werden. Es wurde langsam dunkel und die Straßen wurden leer. Doch das Mädchen bemerkte es gar nicht. Es hatte jegliches Zeitgefühl schon lange verloren. Mit einer Hand hielt es eine Kette, die sie um den Hals trug, fest umschlossen. Auf der Kette war der Name ,Lilliane' eingraviert. Lilliane roch an dem Schal, er roch nach ihm. In ihrer Jackentasche ertastete sie einen Zettel und eine Träne rollte ihr die Wange hinunter.
Ihre Augen waren ausdruckslos und völlig ziellos irrte sie herum. Immer wieder stellte sie sich dieselben Fragen: Wieso musste es passieren? Wieso ausgerechnet er? Wieso ausgerechnet jetzt? Wieso ...?
Irgendwann konnten Lillians Beine sie nicht mehr tragen, sie waren steif vor Kälte und Lilliane ließ sich auf eine kleine Mauer sinken. Sie versuchte nicht daran zu denken, doch die Erinnerung kam zurück, sie konnte sich nicht wehren...
Kevin war auf dem Weg zu Lilliane. Es war bald Weihnachten und er schenkte ihr eine Kette mit ihrem Namen, zusammen mit einem Schal, den sie jetzt, wo es kalt wurde, gut gebrauchen konnte. Eigentlich dauerte es noch einige Tage, bis es soweit war, doch fuhr Kevin mit seinem Vater weg, und so wollte er Lilliane wenigstens eine kleine Freude bereiten. Gut gelaunt schlenderte er durch die Straßen und blieb schließlich vor dem schon seht alten Haus seiner Freundin stehen.
Lilliane öffnete ihm die Tür und Kevin überbrachte ihr sein Geschenk.
,Nicht vor Weihnachten öffen', warnte er sie Augen zwinkernd, denn er hatte eine leise Ahnung, dass Lilliane es nicht bis Weihnachten aushalten würde. Gut, sie war schon fast erwachsen, doch war sie manchmal immer noch wie ein kleines Kind.
Schließlich machte Kevin sich auf den Weg nach Hause. Es bemerkte nicht, wie Lilliane ihm folgte. Sie hatte das Geschenk schon ausgepackt und sich die Kette umgehängt. Den teueren Schal hatte sie um den hals gewickelt.
Dort, vor Kevins Haus, stand ein Krankenwagen und ein junger Arzt kam auf Kevin zu. ,Ist meiner Großmutter etwas passiert?', fragte Kevin und wunderte sich nicht allzu sehr. Seine Großmutter kam alle zwei Wochen wegen Kleinigkeiten wie Schnupfen ins Krankenhaus, weil sie sich so große Sorgen machte, es könne etwas Schlimmes sein.
Sie wohnte zwar nicht in Kevins Haus, kam aber oft zu Besuch.
Der Arzt schüttelte den Kopf. Es schien ihm schwer zu fallen, als er sagte: ,Es ist dein Vater, er ist an Herzversagen gestorben.'
Kevin schrie, wollte zu seinem Vater, glaubte nicht, dass dieser tot war. Doch einer der Ärzte hielt ihn zurück und redtete auf ihn ein. Schließlich wurde Kevin von einem älteren Mann ins Haus gebracht.
Lilliane wartete, bis der Krankenwagen weggefahren war, dann machte sie sich auf den Weg in Kevins Haus, in dem es wie immer ziemlich warm war.
Lilliane ging direkt die Treppe hinauf, denn sie wusste, dass Kevin in seinem Zimmer war. Als sie die Zimmertür geöffnet hatte, blieb ihr Herz fast stehen: Auf dem Boden lag Kevin, die Hauptschlagader durchgetrennt. Neben ihm ein Brief, auf dem ,ich habe das richtige getan!' stand, und als Lilliane sich schreiend zu ihm beugte, flüsterte er ihr zu: ,Ich komme wieder, Lil...ich...ich...'
Und er schloss die Augen zum letzen Mal. eine kleine Blutlache machte sich um seinem Arm breit. Es war das letzte, was Lilliane von ihm gesehen hatte, denn vor ihren Augen verschwamm alles und sie war weinend aus dem Haus gerannt. Sie hatte nicht vor, den Krankenwagen zu rufen. Sie wollte weg, einfach weg.
Jemand legte Lilliane die Hand auf die Schulter. Sie sah weder auf, noch wollte sie mit diesem Jemand reden.
„Hübsche Kette, gefällt mir", sagte eine männliche Stimme, und Lilliane würde sagen, dass sie von einem jungen Mann stamm.
Lilliane antwortete nicht, sah den Boden nur völlig verschwommen und machte Abdürcke mit dem Schuh in den Schnee. Sie wollte keine Gesellschaft, war es denn so schwer zu verstehen? Schon an der Art, wie sie guckte, musste er merken, dass nicht alles so glatt lief und er verschwinden sollte.
„Lilliane...", sagte dann dieser Mann und ließ das Mädchen zum ersten Mal aufhorchen. Hatte er gerade ihren Namen gesagt? Sie hielt die Kette immer noch fest mit der Hand umschlossen.
Der Mann lachte leise.
„Ach Lil... ich werde nie verstehen, wieso du mir nicht vertraut hast... sagte ich nicht, ich werde wiederkommen?"
Lilliane sah den Mann nun zum ersten Mal an, er sah gut aus, doch war er schon um die fünfundzwanzig, und mit zitternder Stimme flüsterte sie heiser: „Kevin...?"
Kevin lachte und schlug die Hände in die Luft.
„Sie hat mich erkannt!", rief er und grinste sie an.
Lilliane rollte eine Träne nach der anderen die Wangen hniunter. Ihr blieb die Luft weg, völlig erstarrt sah sie den Mann an, konnte einfach nicht glauben, was sie sah.
„Ich verstehe nicht... du bist doch... wieso siehst du so...", brachte sie mit Mühe heraus und ihre wässrigen blauen Augen sahen ihn traurig und fragend zugleich an.
Der Mann nahm Lillianes Geischt in die Hände und wischte ihr eine Träne weg.
„Ich habe versprochen, wiederzukommen, Lil. Und das habe ich getan. Und nun muss ich gehen... wir sehen uns..."
„Nein, warte! Kevin!", rief Lilliane verzweifelt und wollte nach dem Ärmel des jungen Mannes greifen, doch da hatte er sich schon in Luft aufgelöst.
Was hatte er gesagt? ...wir sehen uns...
Lilliane ließ sich in den Schnee fallen und fing wieder an zu weinen.
7 Jahre später
„Sie bekommen einen neuen Partner", sagte Lillianes Chef und warf eine Akte auf ihren Schreibtisch. Lilliane arbeitete bei der Kriminalpolizei und vor kurzem war ihr Partner erschossen worden. Kein toller Anblick, doch Lilliane hatte seit Jahren nicht mehr um einen Menschen weinen müssen, seit sieben Jahren nicht mehr, sie war Pistolen, Blut und Schreie gewöhnt, sie waren etwas Alltägliches geworden. Lilliane dachte manchmal sogar selbst, dass sie vielleicht herzlos geworden war. Als hätte sich, als sie das letzte Mal geweint hatte, ihr Herz in Wasser aufgelöst, und mit den Tränen im Schnee versickert.„Gut", sagte Lilliane und rührte in ihrem Kaffee. „Sobald er da ist, schicken Sie ihn bitte zu mir."
Lillianes Chef verschwand wieder und sie wandte sich ihrem neuen Fall zu. Mysteriöser Mord am Sohn des reichen Sir Corsten... Schon wieder so etwas... Lilliane seufzte. Sie hatte solche Aufträge. Am Ende würde sich dann rausstellen, dass es jemand aus dem engsten Verwandtenkreis war, weil er scharf auf die Kohle war. Wie immer. Lilliane schüttelte ihren rotblonden Kopf leicht lächelnd und nahm einen Schluck auf ihrer Kaffeetasse.
„Hübsche Kette, gefällt mir."
Jemand stand in der Tür. Lilliane verschluckte sich am ihren Kaffee, spuckte ihn aus Versehen auf die Akte und starrte den Mann an. Der grinste nur und sagte: „Ich habe versprochen, wiederzukommen, Lil."