- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Ein Vogel
Ein Vogel
Er nahm das Brötchen, welches er am Vortag aus der Kantine mitgenommen hatte in die Hand und bröselte kleine Krumen ab. Die Krumen legte er, wie all die ganzen Jahre vorher schon auf ihren Platz.
Wie auf Kommando kam schon der erste Vogel und pickte nach den Krumen. Dann ein zweiter, ein dritter und tatsächlich noch ein vierter.
„Sind diese Tiere nicht wunderschön..“ dachte er sich „..sie können tun und lassen was sie wollen. Keine Grenzen, kein Aufhalten, keiner der ihnen vorschreibt was zu tun ist“.
Sehnsüchtig schaute er in den Himmel und seine Gedanken schweiften in vergangenen Zeiten. Er, der immer zur See war. Er, dem die ganze Welt zu Füßen gelegen hatte – Genau er musste sich jetzt mit dem zufrieden geben was er noch hatte.
„Wieso musste es denn so weit kommen…“ fragte er sich. „Warum bin ich nicht nach Hause gegangen?“
Eine kleine Träne kullerte ihm die Wange herunter, die er aber schnell wieder mit seiner rauen, vom Wind und Salzwasser zerfressenen Hand weg wischte.
„Männer heulen nicht!“ hatte ihm immer sein Vater gesagt. Daran musste er sich jetzt erinnern. Die Schläge seiner Kindheit hatte er schon lange verdrängt.
Vom zwitschern der Vögel erwachte er aus seiner Lethargie und bemerkte das die Krumen schon alle weg waren. Er nahm das Brötchen, bröselte den Rest auch noch auf die Fensterbank und schaute sich das Picken und Treiben der Vögel an.
„Wie schön doch diese Tiere sind..“ ging es ihm wieder durch den Kopf.
Wie gerne würde er sich jetzt in die Lüfte schwingen, alles hinter sich stehen und liegen lassen und nie wieder zurückkommen.
Sein Blick streifte durch den Raum. Sein Reich. Sein alles. Fünf Jahre jetzt schon.
Klack – Klack – der schwere Schlüssel drehte sich im Schloss und der Wärter stand vor ihm.
„Zellenkontrolle! Du weißt was zu tun ist!“ befahl eine herrische Stimme.
Bevor er aus seiner Zelle trat, drehte er sich noch einmal zum Fenster, schaute auf die Fensterbank und dachte nur „Ein Vogel wäre ich gerne – ein Vogel“.