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Eine Art Abschied
Eine Art Abschied
„Alex, Alex.“ Ich hatte seinen Namen schon so oft gerufen, dass es mir so vorkam als würden sich die Buchstaben auflösen und ein sinnloses Etwas bilden, und nicht mehr den Namen meines Bruders. Wie ein einsamer Schmetterling flatterte das Taschenlampenlicht über die finsteren Bäume, über den verschneiten Boden, über die immer noch fallenden Flocken. In dem Taumeln des Lichtes sah ich das Zittern meiner verkrampften Hände. Die Anderen mussten irgendwo sein, nicht zu weit entfernt, aber ich sah und hörte sie nicht. Ich wusste nicht mehr, wie lange wir gesucht hatten. Als wir das Dorf hinter uns gelassen hatten, war es noch hell gewesen. Ich ging weiter in der Hoffnung meinen Bruder zu finden. Ihn oder das, was diese Nacht uns gelassen hatte. Am Anfang war ich mir noch sicher gewesen sein Lächeln wiederzusehen, aber jeder Schritt raubte mir ein Stück dieser Gewissheit, bis es nur noch eine wage Hoffnung war.
„Martha.“ Der weiche Klang einer Stimme direkt hinter mir lässt mich zusammenzucken.
„Alex“, flüstere ich ohne mich umzudrehen.
„Ja, was dachtest du denn?“
Ich wende mich um. Dunkel lehnt seine hohe Gestalt gegen einen der weiß gezuckerten Bäume. Ich richte zögernd das Licht auf sein Gesicht. Er blinzelt gegen die spärliche Helligkeit. Feine Schneeflocken hängen an seinen Wimpern, auch in seinen Haaren haben sich die tanzenden Kristalle verfangen. Unsicher lächelt er mich an. „Ich bin so froh dich zu sehen.“, flüstere ich.
„Ja.“, sagt er nur. „Wir dachten, du wärst…Du hättest dich...“ Ich zögere die bedeutungsschweren Worte auszusprechen. „Du warst so verzweifelt.“, murmele ich stattdessen.
„Verzweifelt? Warum?“, fragt er.
Fassungslos begegne ich seinem Blick. „Wegen Lili, wegen den Kindern.“
Er lächelt nur ein rätselhaftes Lächeln. „Weißt du, Martha, das Leben geht weiter, denk daran. Es geht immer weiter, egal was passieren mag. Ich habe es vergessen, aber du versprich mir, dass du immer daran denkst! Wirst du das tun? Egal, an wessen Grab du stehst, daran musst du immer denken.“ Sein Blick ist so eindringlich, dass ich meine Augen senke.
Ich nicke, und denke an seine Tränen heute auf der Beerdigung. Irgendwo in meiner Tasche klingelt mein Handy. „Warte! Gleich gehen wir nach Hause.“, sage ich zu Alex. Er sieht mich an und nickt wortlos.
„Hi!“, meldete ich mich. Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein unterdrücktes Schluchzen. „Wir haben ihn gefunden.“ Kerstins Stimme war rau vom Weinen und halb erstickt von Tränen.
„Wen?“, fragte ich verständnislos. „Alex. Er hat sich erhängt…“ Kerstin brach ab und ich ließ das Telefon fallen. Es war kalt und ich verschränkte die Arme gegen den Frost. „Alex“, rief ich in die Stille, so, als würde ich hoffen, ich könnte ihn zurückrufen. Die Buchstaben bildeten jetzt wieder einen Namen, aber einen Namen zu dem kein Mensch mehr gehörte, sondern nur noch eine Erinnerung.