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Eine Frage der Perspektive
Lennard deVinter lebte in einem festen Korsett von Regeln. Viele dieser Regeln waren einleuchtend, fast möchte man sagen: Normal. Niemals gegen jemanden Karten oder Pool spielen, dessen Name wie der einer Stadt klingt. Niemals eine verheiratete Frau in deren Haus beglücken, keinen gelben Schnee essen und nichts Schweres nach zehn Uhr, sich von minderwertigen russischen Waffen fernhalten und auch von verhärmten Prostituierten. Seine neun Millimeter halbjährlich zur Inspektion geben und seine dreiundzwanzig Zentimeter vierteljährlich. Die Liebe aus der Gleichung nehmen und auch den eigenen Stolz, keine Eitelkeit zulassen und erst recht keine Freude. Ruhig bleiben, auch wenn es schwer fällt. Und sich aus allem raushalten, was nichts einbringt - außer Scherereien.
Doch leider sah Lennard deVinter seine eigenen Regeln viel zu oft eher als unverbindliche Handlungsempfehlungen an. Wenn er sie immer befolgt hätte, seine Regeln, dann wäre ihm das jämmerliche Ende erspart geblieben, das ihn drei Jahre nach dieser Nacht ereilen sollte, als er mit einem Schmetterlingsmesser im linken Lungenflügel und mit Tripper am Schwanz elendig in einer Seitenstraße Bangkoks krepierte.
In der rauchgeschwängerten Luft war die Uhr kaum zu erkennen. Man musste schon die Augen zusammenkneifen, um sie dort hängen zu sehen. Und wenn man die Augen noch etwas fester zusammenkniff und das Beißen des Rauchs in ihnen ignorierte, dann konnte man die Uhr auch lesen und feststellen, dass sich Lenny verspätet hatte. Eigentlich sollte er schon hier sein. Seine Verabredung wartete auf ihn. Dort saß sie. Eine Göttin in Weiß. Haare so schwarz wie der Lauf einer Magnum. Das Kleid – eine Versuchung. Die Augen – ein Versprechen. Und jetzt starrte sie nach oben auf den Spiegel, der Willy’s Diner zu einer Attraktion machte. Man musste nur den Kopf heben und konnte alles sehen, alles und auch sich selbst. Aber in gnädigem Licht. Wobei sie, Lennys Verabredung, natürlich kein gnädiges Licht benötigte, so wie sie da saß, an ihrem runden Tisch, von dem ein weißes Tuch fast bis zum Boden floss. Und auf dem eine einzelne Kerze darauf wartete, Licht und Trost und Vergessen zu spenden.
Hinter der Bar stand Big Willy LaBeau und polierte Gläser. Auch er hatte ein Auge auf die Göttin in Weiß geworfen. Doch die Jahre, als sie in Reichweite gewesen war oder wenigstens als Streifen am Horizont erkennbar, diese Jahre waren schon lange außer Sicht. Jetzt war er hier und polierte Gläser – zumindest in seiner Bar und nicht in der eines anderen. Und hinter ihm, da standen die Flaschen mit flüssigem Glück. Und er sah auf die Göttin in Weiß und lauschte der Göttin in Schwarz am Piano.
Still! Er kommt!
Ich hör ihn denken.
Lenny schob sich in die Bar, in seinem Mundwinkel glimmte eine Zigarette. Sie spielte heute Abend. Sie spielte jeden Abend. Schon lange gab es eine Regel dagegen.
Lenny stand still und lauschte der Göttin in Schwarz am Piano. Ihre Haare waren kurz geschnitten und so rot wie die Flamme eines Feuerzeugs. Und sie spielte Lieder so traurig und klamm wie die Beerdigung eines guten Freundes.
Lenny schüttelte die Gedanken von sich, ließ den Blick über die Tische schweifen und sah dann die Kerze und auch die Frau hinter der Kerze. Sie hatte den Mund halb geöffnet, Lenny konnte ihre Zähne sehen, und sie schaute ihn an. Als er einen Schritt auf sie zumachte, senkte sie ihren Blick.
Lenny ging auf sie zu, als er plötzlich in seinem Nacken Blicke wie Dolche fühlte. Er drehte sich um, zu der Frau am Piano, doch die spielte weiter, starrte immer noch auf die Tasten. Und auch sonst beachtete ihn niemand. Alle waren in ihren Gesprächen oder in ihren Drinks versunken.
Lenny setzte sich zu der Frau: „DeVinter. Wir waren verabredet.“
Die Frau kramte in ihrer weißen Handtasche. Lenny sah, dass sie ihre Nägel bordeauxrot lackiert hatte. Ihre Hände kamen mit einem Bündel Scheine aus der Tasche hervor. Lenny drückte die Zigarette in den Aschenbecher, fuhr dann mit der Hand zu ihrer hin, zu der Hand, die das Geld – es war ein Haufen Geld – hielt und sagte: „Vorsicht. Hier sind genug Leute, die uns für die Hälfte davon massakrieren würden.“
Die Hand der Frau in Weiß zitterte. Eine einzelne Schweißperle bildete sich auf ihrer Stirn und trat den beneidenswerten Weg abwärts an. Lenny strich über die Hand der Frau. Sie fühlte sich kalt und glatt wie Marmor an.
Dabei nahm er das Geld mit einer fließenden Bewegung an sich und verstaute es in der Tasche seiner Jacke, nahm dann, um Beobachter zu täuschen – und weiß Gott, Lenny wusste, dass man ihn beobachtete – eine Zigarette heraus und zündete sie an.
„Sie übernehmen –“, die Frau räusperte sich, „den Auftrag, ja?“
„Glauben Sie mir“, sagte Lenny. „Ich werde ihre Schwester finden. Ich bin der Beste.“
„Ja? Sind Sie das?“
Lenny nickte. „Gehen Sie. Das hier ist keine Gegend für eine Dame wie Sie.“
Sie schloss ihre Handtasche, erhob sich und verflog wie ein Traum. Lenny sah ihr nicht nach.
„Du hast mir gesagt, wenn ich dich je hier sehe, wenn sie spielt, soll ich dich erschießen.“
Lenny hörte den brummigen Bass Big Willys und starrte weiter auf die Kerze.
„Warum tust du dir das nur an?“
Lenny zog seine neun Millimeter aus der Jackentasche, legte sie vor sich auf den Tisch und sagte: „Hier. Ich will nicht, dass du ein Versprechen brechen musst.“
Big Willy schnaufte, dass es einem Riesen aus den alten Tagen alle Ehre gemacht hätte. „Geh. Tu dir selbst einen Gefallen und geh. Und komm nicht wieder.“
„Hast du keinen weißen Russen für einen alten Freund?“
„Für dich gibt es hier nichts“, sagte Big Willy und legte ihm eine Pranke auf die Schulter. „Für dich gibt es hier gar nichts - mein alter Freund.“
Lenny stand auf und ging zu der Frau am Piano. Es gab Regeln dagegen. Mehr als eine, mehr als für irgendwas sonst. Aber Lenny war nicht der Typ, der nach Regeln spielte. Nun stand er hinter ihr, eine Armlänge entfernt. Und sie spielte wie nur Engel spielen können.
Lennys Augen wurden feucht. Sein Hals eng. Und seine Knie, die wurden weich. Das Lied: Es ging nicht zu Ende. Die Töne schwebten immerzu fort, teilten den Rauch und ließen das Geschnatter der anderen verstummen. Überlagerten alles, überlappten sich, verwoben miteinander, verschmolzen und vergingen schlussendlich.
Sie drehte sich nicht um, als sie fragte: „Was willst du?“ Fragte es mit Grabesstimme, so kalt wie eine Träne am Nordpol.
„Nichts“, sagte Lenny. Das Wort sank zu Boden, von einer Zentnerlast gezogen. „Dich!“ Das Wort stand im Raum und schnell ergänzte Lenny: „Vielleicht.“
Sie drehte sich nicht um. „Geh, es ist besser für uns beide. Du weißt es, wenn wir zusammen sind, dann geschehen schlimme Dinge.“
„Ja“, sagte Lenny mit erstickter Stimme. „Aber es ist es wert, oder?“
„Wenn du fragen musst, dann nein“, sagte sie.
Lenny nickte. „Ich liebe dich.“
„Ich dich auch“, sagte sie. „Deshalb geh jetzt.“ Sie setzte an und schlug ihre Hände auf die Tasten des Pianos. Lenny stand wieder still und starr. Stand eine halbe Ewigkeit und dann noch weiter. Riss sich plötzlich los, überwand die Armlänge und schlug, noch bevor der Mut ihn verließ, mit einer Hand auf den Kasten des Pianos: Ein dumpfer Schlag, der das vollkommene Spiel für ein oder zwei Wimpernschläge zerstörte.
Auf seinem Weg hinaus fühlte sich Lenny, als stünde er unter einem Lavafall. Die Stelle auf seinem Kopf, ganz oben, brannte lichterloh. Lenny sah hoch, in den riesigen Deckenspiegel, sah alles um sich herum, die Gäste, die Frau am Piano, aber nur ihren Rücken, und er sah sich selbst, wie er da stand und mit matt glimmenden Augen in den Spiegel sah.
Eine dumme, dumme, dumme Aktion. Etwas, das man nicht tut. Etwas, wogegen es eindeutig Regeln geben sollte, einfach so in einen Spiegel zu schauen, das gehört sich wirklich nicht.
Und nun gleiten seine Augen auch noch durch die Gegend wie wild, verfolgen den kleinen schimmernden –vermeintlichen! – Fleck, das winzige … Schmutz … Fata-Morgana dort. Hetzen es über den ganzen Spiegel, diese Illusion, und verlieren es endlich, endlich, endlich, als es sich in der untersten linken Ecke des Spiegels chamäleongleich verkriecht.
Lenny reibt über seine Augen. Zieht an der Zigarette und stapft auf die Tür zu. Er öffnet sie, kalte Luft wirbelt hinein. Lenny schaut über die Schulter, lässt die Augen dabei aber geschlossen. Kaum hat er die Straße betreten, beginnt es zu regnen. Erst ein paar Tröpfchen, dann ein Wolkenbruch. Es trätscht hinunter, so als hätten alle Engel im Himmel beschlossen, gemeinsam aufs Klo zu gehen. Lenny zieht an seiner Zigarette, klappt den Kragen seines Mantels hoch und geht los.
In einer Stadt wie dieser passiert nie nichts. Auf der Hauptstraße flanieren Limousinen entlang, zu jeder Tages- und Nachtzeit, und mehr als eine von ihnen hat eine Leiche im Kofferraum. Dort jetzt: Der schwarze BMW. Am Steuer sitzt Bob Saccamano, Stadtrat für Sport und Vergnügen, und er hat heute Nacht sicher noch beides, denn neben ihm flegelt sich eine blutjunge Schauspielerin in den Sitz, die ihre Rollen nicht gerade ihrem Talent zu verdanken hat.
Und dort schiebt eine alte Frau ihren Einkaufswagen vor sich her, vollgeladen mit dem Schrott anderer Leben, aber für sie wichtig genug, um ihn mit sich zu führen, wohin sie auch geht.
Ein roter Porsche hält vor der Ampel an. Der Mann darin schaut müde hoch, in das Rubinrot der Leuchtanzeige. Er kratzt sich über den kahlen Schädel und fasst sich ans Herz. Er spürt, dass er eins hat. Ein unangenehmes Gefühl. Es zwickt dort und zwackt. Er weiß jetzt genau, wo es schlägt, denn dort sind die Schmerzen. Die Ampel schaltet auf Grün und er gibt Gas. Vielleicht reicht es, wenn er nur schnell genug fährt.
Und da ist auch Lenny. Trottet die Straße entlang in strömendem Regen. Hat beide Hände in seinen Taschen vergraben und seine Hoffnungen tief in sich. Doch halt: Was tut er nun? Er starrt auf die rote Anzeige der Ampel hoch über ihm?
Hat er denn jetzt völlig sein kleines bisschen Verstand verloren? Dieser kleine Bastard. Er greift in seine Manteltasche und ballert um sich. Kugeln schießen durch die Luft, künden von Verderben. Luft segelt vorbei, bildet kleine Spiralen – wie aufsteigende Luftbläschen, nur umgekehrt. Er verfolgt wieder, dieses Musterbeispiel eines Hurensohns, irgendeine Illusion, ballert in der Gegend rum, durchlöchert die Alu-Aufhängung der Ampel, verfolgt das arme, kleine Ding immer weiter, bis es sich schließlich nicht mehr anders zu helfen weiß, als auszubrechen aus dem schützenden Metall, bis es durch die Luft segelt, auf den Asphalt zu, auf ihn zu, auf Lenny zu - in ihn hinein.
Lenny schlägt sich mit einer Hand gegen das Ohr, so als hätte sich dort Wasser eingenistet. Aber es ist kein Wasser. Lenny weiß das. Es ist dieses Viech. Schon lange wusste er es. Er war nicht verrückt. Er wurde beobachtet. Das erste Mal hatte er es vor sieben Jahren gesehen. Als sein Leben anfing, den Bach runterzugehen. Als ihm ständig das Schlimmste zustieß. Als er wusste, sobald er mit einer Frau schlief, war sie des Todes. Sobald er einem Freund die Hand reichte, konnte er gleich Blumen für dessen Beerdigung ordern.
Damals, als er begann, Regeln aufzustellen, hatte er es geahnt, vor sieben Jahren. Es hatte sich versteckt, in einer Fluse an der Decke seines Hotelzimmers. Und auch später – er hatte es oft genug geahnt. Und heute hatte er es gesehen. Ein unterarmlanges Fleischding, mit einem riesigen Auge am oberen Ende. Und jetzt ist es in ihm. Eben hineingeschlüpft, durch sein Ohr.
Lenny pickt mit spitzen Fingern in seinem Ohr herum, kommt aber einfach nicht rein. Dafür sind seine Finger zu fleischig. In seinem Magen rumort es. Lenny schnaubt zweimal, vielleicht kann er es rausniesen. Gott, das Viech war so lang wie ein Unterarm. Es pocht gegen seine Gedärme, will sich ganz klein machen und verstecken, aber ist ungeschickt, wahrscheinlich wegen der Aufregung, es stößt irgendwo in Lenny an, vielleicht gegen eine Drüse. Lennys Puls rast. Er greift sich an die Haare, fieberhaft. Kein Auto mehr in Sicht, die Ampel ist auch abgeschaltet.
Lenny steckt sich einen Finger in den Hals, tief rein, bis hinab zum Gaumen. Und er würgt.
Es ist alles eine Frage der Perspektive. Wenn man auf Asphalt liegt, umgeben von Magensäure und Schleim, dann kommt einem alles irgendwie größer vor. Auch der Stiefel eines Mannes. Die Zeit läuft langsamer ab. Man nimmt alles wahr. Natürlich nicht den Quatsch, den wir seit Jahren erzählen. Diesen Mist, von wegen, dass man das Leben vor sich ablaufen sähe. Nein, man sieht alles durch eine Lupe. Ich kann jetzt zum Beispiel ganz genau das Profil von Lennard deVinters rechtem Stiefel sehen.
Aber abseits meines persönlichen, tragischen, tragischen, tragischen Schicksals wurmt mich am meisten, dass meine treue Leserschaft nun nie Lennys Tod in Bangkok miterleben wird.