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Eine kleine Blume
Es ist eine kleine Wohnung, die Siegmund besitzt. Sie umfasst ganze drei Zimmer, die aber zusammen genommen kaum genug Platz für zwei erwachsene Menschen bieten. Das ist auch nicht nötig, denn Siegmund lebt alleine.
Da wäre zum einen das Schlafzimmer, das Siegmund schon lange nicht mehr zum Schlafen benutzt. In diesem Schlafzimmer befindet sich nur ein Bett. Und eine vertrocknete Blume. Das Bett hatte er von seiner Mutter bekommen. Es war das alte Ehebett, das Siegmund irgendwie hasste. Er wollte es gar nicht annehmen, aber noch mehr wollte er seine Mutter nicht verärgern. Nach kurzer Zeit kaufte er sich die Blume, die er auf das Fensterbrett stellte und vor dem Schlafengehen lange ansah. Siegmunds Schlafzimmer besaß weder Gardinen noch einen Rollladen, denn es war immer dunkel und niemand konnte hineinsehen. Wenn Siegmund morgens aufwachte, sah er die Sonne durch das kleine Fensterchen scheinen, aber das Zimmer blieb davon unberührt. Es wurde auch nie warm, egal ob im Sommer oder im Winter. So lag er jahrelang da, eingekreist von Dunkelheit und Kälte. Das alles schien der Blume nichts auszumachen. Sie blieb die gesamte Zeit über grün und nahm Siegmund die Angst vor dem Bett. Manchmal holte er sie zu sich und umarmte sie, bis er einschlief. So ging das immer weiter, bis zu dem Tag, als Siegmunds Mutter starb. An jenem Tag vertrocknete die Blume und er hörte auf, in dem alten Ehebett zu schlafen. Sie liegt immer noch auf dem Fensterbrett. Manchmal, da sieht sie einfach nur tot aus. In anderen Augenblicken wirkt sie aber irgendwie traurig.
Er hat Angst, das Schlafzimmer zu betreten, denn er stellt sich vor, seine Mutter hätte ihm aus der Hölle eine Armee winziger Pilze geschickt, die durch die Luft fliegen und nur darauf warten, seine Lungen zu vergiften. Einmal die Woche betritt er es aber doch, denn er hat dann eine neue Blume dabei, die ihm seine Angst nimmt.
Siegmund schläft in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa. Manchmal macht er sich einen Spaß daraus sich vorzustellen, er sei von seiner Mutter dorthin verbannt worden. Dann zieht er sich immer Frauenkleider an und schreit sich vor dem Spiegel an. Wenn er Lust darauf hat, schlägt er sich sogar.
Das dritte Zimmer ist sein Bad. Er benutzt es auch als Küche. Es ist das größte Zimmer; da sein Wohnzimmer zum bersten voll mit Sofa, Schrank und Fernseher ist, hatte er den Esstisch eben neben der Badewanne aufgestellt. So kann er jeden Morgen gemütlich baden und dabei Zeitung und Kaffe genießen.
Ob es andere Leute nicht seltsam finden, wie Siegmund lebt? Diese Frage kann mit einem ‚Nein’ beantwortet werden. Wieso? Na, weil ihn kaum jemand besucht und die, die es tun, nicht viel von der Wohnung mitbekommen. Siegmund hat keine Freunde, und er will auch keine. Sicher gibt es Menschen in seinem Leben, die er näher kennt, aber er würde sie nicht als Freunde bezeichnen. Die meisten von ihnen sind Arbeitskollegen. Ein Pfarrer ist auch dabei; Siegmund geht nämlich oft und gerne in die Kirche.
Und da wäre noch der freundliche Mann aus dem kleinen Laden, den Siegmund manchmal besucht. Der hat ihm schon oft viele nette Dinge besorgt. Diese Dinge sind meistens blond und zierlich. Siegmund nimmt sie für ein oder zwei Stunden mit zu sich nach Hause und legt sie langsam auf das alte Ehebett. Sie können nicht so gut sprechen. Das ist aber nicht schlimm, denn sie verstehen Körpersprache. Und wenn sie ihre Arbeit gut machen, schenkt Siegmund ihnen oft einen Teddybären.