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Eine Lausmädchengeschichte
„Oh, nein, nicht schon wieder!“ Mama verzieht das Gesicht. Sie ist zum Kindergarten gefahren, um Lisa abzuholen, und schon auf dem Spielplatz vor dem Haus ist Lisa auf sie zugelaufen und hat gerufen: „Mama, Mama, haben wir eigentlich noch Goldgeist zu Hause?“
Goldgeist ist eine Medizin, die man sich in die Haare reibt, wenn man Läuse hat. Lisa weiß das noch vom letzten Mal, denn im Kindergarten kommt es immer wieder mal vor, daß einem der Kinder diese kleinen Tierchen auf dem Kopf herumkrabbeln. Sie sind so winzig, daß man sie kaum sieht, aber die Kopfhaut juckt dann immer ganz fürchterlich.
Das Dumme ist, daß die Läuse ganz schnell von einem Kind auf das nächste hüpfen – zum Beispiel, wenn man zusammen in ein Bilderbuch guckt und dabei die Köpfe ganz dicht aneinander hält -, und eh’ man sich’s versieht, sind alle Kinder nur noch damit beschäftigt, sich den Kopf zu kratzen.
Für Mama ist diese Läuseplage immer besonders anstrengend. Sie muß dann nicht nur Lisas Kopf mit Goldgeist einreiben, sondern auch ihren eigenen. Sie muß dafür sorgen, daß auch Lisas große Schwester Svenja und natürlich auch Papa sich das Zeug in die Haare schmieren, falls sie sich auch schon mit den Läusen angesteckt haben. Mama muß auch das Bettzeug für die ganze Familie wechseln und alles waschen, worin sich die Läuse eingenistet haben könnten.
Ja, auf Mama kommt jetzt wieder viel Arbeit zu, und deshalb verzieht sie genervt das Gesicht, obwohl sie weiß, daß Lisa ja nichts dafür kann.
Richtig geht der Ärger aber erst los, als Svenja aus der Schule kommt. Sie ist vier Jahre älter als Lisa, und sie gibt ihrer Schwester oft das Gefühl, klein und dumm und peinlich zu sein. Kaum hat sie erfahren, daß im Kindergarten wieder Läuse entdeckt wurden, pöbelt sie schon: „Das darf doch wohl nicht wahr sein! Jetzt muß ich mir wegen Lisa wieder dieses stinkende Zeug in die Haare machen! Wißt ihr eigentlich, wie widerlich das ist?“
„Ich kann doch nichts dafür“, sagt Lisa, aber das will Svenja nicht hören.
„Wofür hat man eigentlich kleine Geschwister? Die machen doch immer nur Ärger! Ich wünschte, ich wäre wieder ein Einzelkind!“ Sie geht in ihr Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu.
Lisa ist traurig. Sie hat ihre Schwester sehr lieb, aber wenn Svenja sich so benimmt, findet Lisa sie doof.
Am Nachmittag kommen zwei von Svenjas Freundinnen zum Spielen. Lisa fragt, ob sie mitspielen darf, aber Svenja antwortet nur mit einem knappen „Nein!“ und verschwindet mit Nadine und Xenia gleich wieder in ihrem Zimmer.
Lisa verbringt einen langweiligen Nachmittag in ihrem eigenen Kinderzimmer. Sie läßt die Tür offenstehen und horcht von Zeit zu Zeit auf das Lachen und die Stimmen, die aus Svenjas Zimmer dringen. Wie gerne wäre sie da drüben und hätte mit den großen Mädchen Spaß!
Als sie abends im Bett liegt, stellt sie sich noch lange vor, sie und Svenja wären nicht einfach bloß Schwestern, sondern auch ganz dicke Freunde. Das wäre toll! Mit diesem Gedanken schläft sie glücklich ein.
Am nächsten Morgen ist Svenja aufgeregt, weil nachmittags ein Schulfest stattfindet. Mama hat Knabberkram und Getränke dafür besorgt. Da sie die Sachen sowieso in die Schule bringen muß, fährt sie Svenja heute mit dem Auto hin. Lisa fährt mit, damit Mama sie anschließend gleich im Kindergarten absetzen kann. Sie läßt es sich nicht nehmen, beim Ausladen zu helfen, und trägt eine Plastiktüte in Svenjas Klassenraum.
Auf dem Rückweg zum Auto sieht sie Svenja mit einer Gruppe größerer Schüler hinter einem Gebüsch stehen. Neugierig schleicht sie sich an und belauscht die Großen.
„Also, daß das klar ist“, sagt gerade einer der großen Jungs zu Svenja, „du bringst heute nachmittag zehn Euro mit, sonst setzt es was!“
„Und du weißt ja“, fügt ein anderer Junge hinzu, „Marco meint es ernst: Geld oder Prügel.“
„Du kannst es dir aussuchen“, sagt ein großes Mädchen, und dann lachen alle drei fiese.
„Übrigens, findest du nicht“, fragt Marco noch, „daß der Schal Mareike viel besser steht als dir?“ Die drei lachen noch lauter als vorher.
Jetzt fällt Lisa auf, daß das große Mädchen tatsächlich einen Schal trägt. Und nicht irgendeinen Schal. Nein, das ist doch der Schal, den Svenja letzte Woche verloren hat! Der rotgelbe, den Mama selbst gestrickt hat! Oder hat Svenja ihn etwa gar nicht verloren? Hat sie das vielleicht nur erzählt, weil die Großen ihn ihr weggenommen haben? Lisa weiß noch, wie traurig Mama war, als der Schal nicht mehr da war.
Die drei Jugendlichen gehen weg und lassen Svenja stehen. Lisa wartet noch einen Moment, dann geht sie um das Gebüsch herum, so daß Svenja sie sehen kann.
Svenja guckt sie erschrocken an. In ihren Augen glänzen Tränen. „Was machst du denn hier?“ fährt sie Lisa wütend an.
„Ich habe gehört, was die Großen gesagt haben. Daß sie dich verhauen wollen, wenn du ihnen kein Geld mitbringst. Und ich weiß auch, daß diese Mareike deinen Schal weggenommen hat. Komm, wir gehen zu Mama und erzählen ihr alles.“
„Spinnst du?“ Svenja schreit fast. Dann sagt sie leiser: „Die sind aus der siebten Klasse. Wenn wir irgend jemandem was sagen, verhauen die mich richtig. Wag es ja nicht, Mama zu erzählen, was du gehört hast.“
Lisa kann nicht verstehen, warum sie Mama nichts sagen soll, doch sie sieht Svenja an, daß sie es ernst meint. Also wird sie den Mund halten. Aber Svenja sieht so traurig und so ängstlich aus, und Lisa möchte ihr doch so gerne helfen!
„Ohne eine kleine, verlauste Schwester hätte ich schon genug Probleme“, schluchzt Svenja und geht weg.
Lisa kehrt zum Auto zurück, und Mama fährt sie in den Kindergarten, ohne zu ahnen, was sich hinter dem Gebüsch abgespielt hat.
Den ganzen Vormittag über muß Lisa an Svenja denken, daran, wie traurig und ängstlich sie ausgesehen hat, wie schlimm es für sie sein muß, von den Großen erpreßt zu werden, und wie weh es Lisa getan hat, was Svenja zum Schluß wieder über ihre kleine Schwester gesagt hat.
Ihre kleine, verlauste Schwester.
Immer wieder hört Lisa in ihrer Erinnerung, wie Svenja das zu ihr sagt. Sie denkt während des Stuhlkreises daran, während sie in der Hängematte schaukelt, während sie mit ihren Freundinnen draußen in der Sandkiste spielt. Sie denkt immer noch daran, als sie in ihrem Mittagessen herumstochert – es gibt Nudeln mit Tomatensoße, sonst mag sie das immer super gerne, aber heute hat sie einfach keinen Appetit.
Kleine, verlauste Schwester.
Und dann, ganz plötzlich, weiß sie, was sie zu tun hat. Sofort ist sie ganz aufgeregt, und sie hat auch wieder Appetit auf die leckeren Spaghetti! Gerade, als die anderen Kinder beginnen, die Teller abzuräumen, fängt sie an, so richtig reinzuhauen. Und sie grinst dabei, weil sie sich auf den Nachmittag freut, wenn sie mit Mama auf Svenjas Schulfest geht. Sie muß nur noch mit Jennifer und einem der anderen Mädchen reden, am besten mit Nathalie, das ist ihre zweitbeste Freundin. Die beiden haben bestimmt Lust, heute nachmittag mitzukommen! Ach ja, und bevor Mama sie abholt, muß sie noch in der Kiste mit den liegengebliebenen Sachen nachsehen. Da findet sie bestimmt, was sie braucht.
Dann ist auch schon Mama da und holt Lisa ab. Als ihre Schwester aus der Schule kommt, wirft sie ihr gleich einen merkwürdigen Blick zu. Lisa tut so, als würde sie ihren Mund mit einem Reißverschluß zuziehen, und Svenja scheint zufrieden.
Als Svenja gegessen hat, macht sie sich sofort wieder auf den Weg in die Schule, um bei den letzten Vorbereitungen für das Fest zu helfen. Lisa hat gesehen, daß sie vorher Geld aus ihrer Spardose genommen hat. Dabei hat sie ein bißchen geweint; bestimmt, weil sie sich von dem Geld eigentlich einen von diesen Kreiseln kaufen wollte, mit denen die Jungs im Moment immer spielen.
Um drei Uhr ist es endlich soweit: Auch Mama und Lisa fahren in die Schule. Als sie dort ankommen, warten Jennifer und Nathalie schon auf Lisa. Beide wohnen in der Nähe der Schule und sind ohne ihre Eltern gekommen. Jennifer hat einen Stoffbeutel dabei.
„Ich geh ein bißchen mit Jennifer und Nathalie herum, Mama“, sagt Lisa, und Mama antwortet: „Okay. Aber bleibt auf dem Schulgelände.“
Die Mädchen verschwinden hinter der nächsten Hausecke. Dort verteilt Jennifer schnell die Sachen, die sie in ihrem Beutel mitgebracht hat. Die drei haben sie im Kindergarten aus der Kiste mit den Fundsachen gesucht. Extra für Lisas Plan.
„Ich freu mich schon darauf, diesen fiesen Großen eins auszuwischen“, sagt Nathalie.
„Und ich erst!“ rufen Lisa und Jennifer fast gleichzeitig.
Dann machen sie sich auf die Suche nach Svenja. Die baut gerade in einer Ecke des Schulhofes eine Slalombahn für Roller auf. Lisa und ihre Freundinnen kommen keinen Augenblick zu früh: Schon stolzieren von der anderen Seite her die drei Erpresser aus der siebten Klasse heran.
„Na, hast du’s dabei?“ fragt Marco, der ihr Anführer zu sein scheint.
Svenja nickt und holt zwei Fünf-Euro-Scheine aus der Hosentasche.
„Die willst du diesem Mistkerl doch wohl nicht geben!“ ruft Lisa ganz empört. Sofort drehen sich die Großen zu ihr um. Das ist genau das, was Lisa wollte.
„Wenn du ihm das Geld gibst“, sagt sie ruhig zu ihrer Schwester, „dann hört er doch nie auf, dich zu erpressen. Und andere Kinder bestiehlt er dann auch!“ Sie hat sich die Worte genau überlegt. Sie spricht so, wie es vielleicht die Heldin in einer der Zeichentrickserien tun würde, die sie so gern sieht. „Stell dir vor, er würde als nächstes meine wunderschöne Strickmütze haben wollen. Denkst du etwa, die würde ich ihm geben?“
Sie hält die Strickmütze hoch, die sie in der Hand hält, damit Svenja – und die Großen – sie besser sehen können. Es ist wirklich eine hübsche Mütze, rosa, mit kleinen, roten Sternen darauf, und noch fast neu. Lisa hofft nur, daß Svenja jetzt nichts falsches sagt, aber die ist so überrascht, daß sie ihre Schwester nur stumm anblickt.
„Oder meinen schönen Schal“, fragt jetzt Nathalie, „meinst du, den würde ich diesen Erpressern geben?“ Sie streckt ihre Hände mit dem weichen, schwarzen Schal mit den langen Fransen an den Enden aus, damit Svenja auch den genau sehen kann.
„So weit kommt es noch!“ Jennifers Stimme ist die Empörung deutlich anzuhören. „Soll ich denen dann etwa auch meine neuen Zopfbänder geben? Das kommt ja gar nicht in Frage!“ Sie öffnet ihre rechte Hand, in der zwei Zopfbänder liegen.
„Und was wollt ihr Zwerge genau machen, um uns daran zu hindern, wenn wir uns die Sachen einfach nehmen?“ Marco lacht. Still und leise haben die drei Großen sich um die kleinen Mädchen herum aufgestellt, während die ihre Sachen gezeigt haben.
„Oh, Lisa“, ruft Svenja, „du bist wirklich soooo dumm! Warum zeigt ihr ihnen denn, was ihr habt? Jetzt nehmen sie es euch ganz bestimmt weg! Erwarte bloß nicht, daß ich dir helfe und mich verhauen lasse!“ Aber sie hat wohl auch Angst um Lisa, denn in ihren Augen sieht Lisa schon wieder Tränen. Das freut Lisa; nicht, daß Svenja traurig ist, aber daß Lisa ihrer Schwester nicht egal ist. Am liebsten würde sie Svenja verraten, was sie und ihre Freundinnen vorhaben – nur, damit Svenja sich keine Sorgen mehr macht -, aber die Großen dürfen auf keinen Fall etwas merken.
„Los, Raoul, nimm ihnen die Sachen ab.“ Es ist wieder Marco, der spricht. Der andere Junge macht sofort einen Schritt auf Lisa zu und zerrt an der Strickmütze, die sie immer noch in der Hand hält.
Jetzt bloß nicht zu fest halten, denkt Lisa. Aber echt aussehen soll es ja schon. Sie hält die Mütze einen Augenblick fest; Raoul zieht noch einmal, und Lisa läßt los.
„Guck mal, Marco, steht mir die nicht gut?“ Raoul grinst und zieht sich die Strickmütze, die viel zu klein für ihn ist, mit Gewalt über den Kopf. Es sieht albern aus, aber Lisa fängt an zu weinen. Ja, sie fängt tatsächlich an zu weinen, obwohl ihr eigentlich zum Lachen zumute ist. Zum Glück sind kleine Schwestern ziemlich gut darin, zu weinen, wenn es nötig ist.
„Gib ihr die Mütze zurück!“ schreit Svenja, und obwohl sie sich nicht traut, auf Raoul loszugehen, ballt sie doch die Fäuste.
„Was passiert sonst?“ fragt Marco, und ehe die Kleinen es sich versehen, packt er Nathalie bei den Handgelenken, entwindet ihr den Schal und wickelt ihn sich um den Hals. Der Schal ist natürlich viel zu kurz für den großen Jungen, aber er ist sehr breit, so daß er einen Teil von Marcos Kinn verdeckt, und auch einen Teil seiner Haare im Nacken.
„Was seid ihr überhaupt für Babys?“ will Marco wissen. „Kaum ist es mal ein bißchen windig, lauft ihr gleich mit Schal und Mütze herum.“
„Stimmt“, sagt nun Mareike, das große Mädchen, und vergißt ganz, daß sie heute vormittag selbst einen Schal getragen hat. „Dafür ist es eigentlich zu warm. Aber schöne Zopfbänder, die kann man immer gebrauchen. Und man kann nie genug davon haben. Wie gut, daß ich schon wieder zwei neue geschenkt bekomme.“ Lachend zerrt sie Jennifer die Zopfbänder aus der Hand.
Während sie sich selbst nur zum Spaß – und um die kleineren Mädchen zu ärgern – Pippi-Langstrumpf-Zöpfe dreht und die Haarbänder von Jennifer darum wickelt, hört Lisa auf zu weinen. Auch Nathalie und Jennifer sehen nun gar nicht mehr so ängstlich aus. Aber das scheinen die Großen nicht zu bemerken.
Marco wendet sich wieder Svenja zu. „Und du rückst jetzt endlich die Kohle raus.“ Er blickt auf Svenjas geballte Fäuste und grinst wieder sein fieses Grinsen. „Oder möchtest du dich erst noch ein bißchen verprügeln lassen, bevor ich dir das Geld wegnehme?“
Auf einmal kann Lisa nicht mehr an sich halten. Laut bricht das Lachen aus ihr heraus. Nathalie und Jennifer lassen sich sofort anstecken und prusten ebenfalls herzhaft los.
Die drei Großen und auch Svenja blicken sie verwirrt an.
„Spinnt ihr völlig?“ fragt Mareike unsicher. „Los, Marco, sag ihnen, daß sie aufhören sollen! Raoul, hau ihnen eine runter!“
Doch Marco und Raoul sind zu verblüfft, um etwas zu machen.
„Habt ihr wirklich gedacht, das sind unsere Sachen?“ fragt Lisa. „Mann, seid ihr doooof! Wir lassen euch doch nicht unsere eigenen Sachen klauen!“ Schon wird sie wieder von einem Lachkrampf geschüttelt.
„Nein“, erklärt Jennifer, als sie bei all dem Kichern gerade mal Luft holen kann, „das ist nämlich so: Bei uns im Kindergarten gibt es eine große Kiste. Da kommen immer die Sachen rein, die die Erzieher oder die Putzfrauen unter der Bank oder im Garten oder so gefunden haben.“
„Ja, Sachen, die irgendjemand verloren oder vergessen hat.“ Jetzt ist es Nathalie, die sich vor Vergnügen kaum einkriegen kann. „Und aus der Kiste haben wir die Sachen rausgesucht, damit ihr sie uns klaut!“
Alle drei brüllen vor Lachen wieder laut los.
„Mann, seid ihr bescheuert!“ Marco klingt jetzt richtig wütend. „Ist uns doch egal, wem die Sachen gehören – jetzt sind es jedenfalls unsere.“
„Na, dann viel Spaß damit“, sagt Nathalie und versucht, mit dem Lachen aufzuhören.
„Aber vergeßt nicht, die Sachen gründlich zu waschen“, meint Jennifer. „Man weiß ja nie, wer die vorher getragen hat.“ Sie findet, sie hört sich gerade wie ihre eigene Mutter an, und das macht alles noch viel komischer.
Und genau in diesem Augenblick fängt auch Svenja an zu lachen, und – Lisa kann es kaum glauben – sie wirft sich auf den Boden! „Mensch, Lisa, ihr seid genial!“ brüllt sie, und Lisa ist so stolz wie vielleicht nie zuvor in ihrem Leben.
„Wie gut“, ruft Svenja, „daß ich meine kleine Schwester habe. Meine kleine, verlauste Schwester!“
Mit einem Anflug von Panik im Gesicht fragt Raoul: „Was meinst du mit verlaust, verdammt noch mal?“
„Weißt du das denn nicht? Ihr Siebtklässler seid aber dumm!“ Jennifer tut so, als sei sie ganz überrascht. „Verlaust heißt, daß man so kleine Tiere in den Haaren hat und einem den ganzen Tag der Kopf juckt.“
„Wir wissen das natürlich auch nur, weil wir im Kindergarten gerade Läuse haben.“ Lisa versucht, ernst auszusehen und nicht allzu sehr zu grinsen. „Deswegen mußten wir ja auch unsere ganzen Sachen so gründlich waschen. Und das solltet ihr mit den Sachen aus der Fundkiste lieber auch tun.“
„Wär natürlich besser gewesen“, meint Nathalie, „ihr hättet das gemacht, bevor ihr euch die Sachen in die Haare wickelt und euch mit den Läusen ansteckt.“
„Iiiiiih!“ Mareike stößt einen wirklich schrillen Schrei aus, wie Lisa ihn einem Mädchen aus der siebten Klasse gar nicht zugetraut hätte. Sie zerrt die Zopfbänder so schnell von ihrem Kopf, daß sie sich gleich zwei Büschel Haare mit ausreißt.
Marco und Raoul sind etwas langsamer von Begriff, aber endlich schütteln auch sie sich vor Ekel, und der Schal und die Strickmütze fliegen auf den Boden. Dann fangen die drei auch schon an, sich die Köpfe zu kratzen, und im nächsten Augenblick laufen sie schreiend weg.
„Ich freue mich schon auf nächstes Jahr“, schreit Svenja ihnen hinterher, „dann geht meine Schwester nämlich auch hier auf die Schule! Die rufe ich dann, wenn ihr mich wieder ärgert!“
„Ach, das trauen die sich jetzt sowieso nicht mehr“, sagt Lisa.
Svenja sieht sie lange an, ohne noch etwas zu sagen. Dann kommt sie auf Lisa zu, nimmt sie in die Arme und drückt sie ganz fest. „Ich bin froh, daß ich dich habe“, flüstert sie ihr ins Ohr, und dann noch: „Danke.“
„Was ist denn hier los?“ Die Mädchen sehen auf. Mama steht vor ihnen. „Was habt ihr denn mit den Großen gemacht, daß sie schreien und wegrennen? Wolltet ihr sie etwa überreden, mit dem Roller zu fahren wie die Kleinen?“
Lisa erzählt von dem Zeug aus der Fundkiste und davon, wie die Großen die Sachen geklaut und sich aufgesetzt und dann erfahren haben, daß sie jetzt ebenfalls Läuse haben.
„Geschieht ihnen recht“, sagt Mama. „Die werde ich mir später noch vorknöpfen. Einfach den Kleinen was wegzunehmen! Aber warum habt ihr die Mütze und den Schal und die Zopfbänder denn überhaupt mitgebracht?“
Lisa weiß nicht, was sie darauf sagen soll, aber schließlich faßt sich Svenja ein Herz. „Das haben sie nur für mich gemacht, Mama. Weil die Großen mich erpreßt haben. Sogar schon wochenlang.“ Jetzt, wo Mama es endlich weiß, fühlt Svenja sich richtig erleichtert. „Und nicht nur mich, auch andere aus meiner Klasse.“
Mama mag gar nicht glauben, was sie da hört.
„Donnerwetter“, meint sie, „da kannst du ja von Glück sagen, daß deine Schwester und ihre Freundinnen so auf Zack sind.“
„Ja“, lacht Svenja, „man könnte sagen, das ist eine richtige Lausbubenbande.“
„Wieso Buben?“ fragt Jennifer. „Wir sind doch Mädchen.“
„Na, dann eben eine Lausmädchenbande“, räumt Svenja ein, „im wahrsten Sinne des Wortes.“
Von Marco, Raoul und Mareike ist an diesem Nachmittag nichts mehr zu sehen, und die Mädchen genießen ein tolles Schulfest.
Am nächsten Tag telefonieren Mama und Papa mit den anderen Eltern aus der Klasse, und sie finden heraus, daß die Großen tatsächlich eine ganze Reihe von Kindern erpreßt haben. Sie informieren den Schuldirektor darüber, aber zur Sicherheit gehen sie auch zur Polizei. Die redet mit den Erpressern, die vor lauter Schreck auch alles zugeben. Die Polizisten machen den Jugendlichen klar, daß sie beim nächsten Mal richtig Ärger bekommen können.
Aber die drei haben ohnehin die Lust daran verloren, ihre Mitschüler zu bestehlen. Als sie endlich die Läuse los sind, sehen sie nur noch zu, daß sie immer einen großen Bogen um die Kleinen machen.
Und für Lisa wird ein Traum wahr: Seit dem Schulfest sind Svenja und sie die allerbesten Freunde. Weil sich die Geschichte mit den Läusen in der Schule herumgesprochen hat, haben auch Svenjas Freundinnen nichts mehr dagegen, wenn Lisa mit ihnen zusammen ist. Auch Nathalie und Jennifer dürfen sich manchmal dazugesellen.
Im Grunde sind die großen Mädchen sogar stolz darauf, mit der berühmten Lausmädchenbande befreundet zu sein.