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Eine neue Zeit
Die Tür flog auf und krachte an das Küchenbord, das notdürftig an der Wand befestigt worden war. Die Gläser mit Eingemachtem wankten bedrohlich, entschieden sich aber dafür, nicht auf den Boden zu fallen.
Hans stand breitbeinig in der Tür und schnaufte schwer. Er war den ganzen Weg gerannt, vom Bruch, durch die von Trümmern übersäte Straße bis hierher. Ein Sonnenstrahl fiel durch das große Loch im Dach und beschien seinen Kopf wie den eines Heiligen.
Erika, Hansens Mutter, fuhr von ihrem Schemel hoch, ließ ihr Stickzeug zu Boden fallen und blickte ihn an.
„Gott, Junge, was ist dir denn?“ Sie blickte in das bleiche Gesicht ihres Sohnes.
„Ich war oben im Bruch – da kommen ganz viele Soldaten die alte Straße hoch!“
„Um Himmels willen. Sind sie schon so weit? Was machen wir denn nun?“ Die grauenhaften Taten, über die berichtet worden waren, kamen ihr in den Sinn und plötzlich hatte sie furchtbare Angst. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Tag einmal kommen würde und nun war er einfach da.
„Schnell, hol Vaters Uniform vom Boden. Sie ist in der alten Kiste.“ Mutter öffnete den Ofen und warf eine paar Kohlen hinein.
Hans kletterte die Leiter hinauf und kramte in der Kiste. „Was ist mit den Abzeichen?“ rief er hinunter. „Bring sie auch mit. Bring überhaupt alles mit, was du findest.“
Hans warf den Inhalt der Kiste auf den Boden und begann zu sortierten. Die Abzeichen funkelten in der Sonne, als er sie in die Hand nahm und betrachtete.
Erika nahm ein Buch aus dem Regal, das seit Jahren dort stand, das sie aber noch nie gelesen hatte. Sie schlug es auf blickte kurz auf das Porträt, und begann Seite um Seite herauszureißen und in den Ofen zu werfen.
Hans warf die Uniform und einige andere Dinge hinunter und stieg, die Abzeichen immer in der Hand, die Leiter hinab.
„Geh raus und such Mathilda. Sie soll zum Fluss runter gehen und die Abzeichen reinwerfen. Wir können die nicht verbrennen.“ Hastig riss sie weiter Seiten aus dem Buch und Hans ging zur Tür hinaus.
Als sie die Uniform vom Boden aufhob, fiel ein kleines Bild hinaus. Sie nahm es und blickte es schweigend an.
„Es tut mir leid,“ murmelte sie und warf das Bild mit der Uniform ins Feuer.
„Wie oft muss ich Ihnen denn das noch erklären?“ Chambowsky gestikulierte wild mit den Armen, um seine Aussage zu bestärken.
„Das Papier interessiert mich nicht!“ schrie Haubert zurück. Das war seine Stadt, er und niemand sonst war hier Bürgermeister und keiner konnte ihn zwingen, seine Stadt an diese Halunken zu übergeben. „Da könnte ja jeder kommen. Was meinen Sie denn, was ich tun soll? Sie glauben doch nicht allen Ernstes, ich quartiere sie hier in jedes Haus ein? Sehen sie sich doch um! Hier steht doch kaum noch was. Wir haben keinen Platz für Leute wie sie!“
„Aber wo sollen wir denn hin? Wir können ja wohl kaum zurück.
„Es ist nicht mein Problem, wo sie hinsollen. Wir haben selber genug zu tun, um über die Runden zu kommen. Wir haben auch Kinder, Frauen und Versehrte. Oder glauben sie, hier herrscht Deutschlands Wohlstand, dass wir jede dahergelaufenen Lumpen -“
„Was bilden sie sich ein, Mensch! Wir sind keine Lumpen, wir sind Deutsche, so wie sie – nichts anderes!“
„Deutsche wollt ihr sein? Das ist Ihnen aber anscheinend entfallen, als es darum ging, ihre Dörfer und Städte zu verteidigen, was? Ihre Frauen und Kinder! Flüchtlinge, ha! Feiglinge seid Ihr, nichts anderes – Feiglinge, Feiglinge, Feiglinge.“
Annas Rücken schmerzte, als sie die zerstörte Allee entlang ging. In beiden Händen hielt sie Eimer, die mit Eierkohlen gefüllt waren. Sie hatte den ganzen Tag angestanden, um ihre Marken eintauschen zu können.
Sie bahnte sich einen Weg durch die Trümmer. Wie gerne hätte sie die Stadt verlassen. Einfach in den Zug steigen, wegfahren und irgendwo aussteigen, wo keine rauchenden Ruinen den Weg versperrten, wo sie nicht zehn Stunden am Tag anstehen musste, um nicht zu verhungern. Aber sie wusste, dass es wohl keine deutsche Stadt mehr gab, die nicht zerstört war und Züge fuhren sowieso nicht mehr. Sie musste nun mal Abschied nehmen von ihrem alten Leben. Es war unwiederbringlich vorbei.
Ein junger Mann kam ihr entgegen. Er ging an einer Krücke. Sie sah an ihm hinunter und blickte auf einen Beinstumpf. Ihm fehlte ein Fuß.
„An der Elbe,“ sagte er, als er an ihr vorbeikam und blieb schließlich stehen.
„Wie?“ Anna blickte auf.
„Mein Fuß. Verloren an der Elbe. Russische Granate – zack – einfach ab. Na ja, hatte noch Glück, glaub’ ich.“ Er lächelte, aber Anna blickte beschämt zu Boden, weil sie so offensichtlich auf seine Kriegsverletzung gestarrt hatte.
„Haben Sie es noch weit bis nach Hause?“ fragte er und lehnte sich an eine Hauswand. Mit der Krücke zeigte er auf einen der Kohleneimer in Annas Hand. „Sieht schwer aus. Geben Sie mir doch einen davon, ich habe ja noch einen Arm frei.“
Anna blickte misstrauisch auf den jungen Mann. „Danke, ich schaffe das auch alleine. Ich habe nicht mehr weit bis nach Hause.“
Doch der junge Mann war schon neben ihr und nahm ihr einen Eimer aus der Hand. „Na, selbst ich muss doch noch zu irgendetwas nutze sein, meinen Sie nicht?“ Er grinste und humpelte langsam vorwärts.
Anna blickte ihn von der Seite an und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.
Er erkannte die Stadt nicht mehr wieder, als er den Zug verließ. Sechs Jahre war er nicht mehr hier gewesen. Der Bahnhof war provisorisch eingerichtet worden, das alte Gebäude war verschwunden. Er nahm seine Tasche, in der er seine Habseligkeiten verwahrt hatte, die er noch besaß – einige wenige Fotos, einen Brief, alte Kleidung. Er ging die Straße hinunter und versuchte sich zu orientieren. Natürlich hat er von den Zerstörungen gehört, aber das Bild der Stadt, das ihn erwartete, versetzte ihm einen Schlag in den Magen. Kaum ein Haus stand mehr da, wo es einst gewesen war. Zahlreiche Ruinen säumten die Straßen und Menschen waren kaum unterwegs.
Sein Blick wanderte zwischen einem kleinen Zettel und den Straßenschildern hin und her. Nach einer kurzen Weile gab er es auf, er hatte die Orientierung vollständig verloren. Nichts war mehr so, wie es war.
Man hatte ihn an der neuen deutschen Grenze abgesetzt und gesagt, er kann nun gehen, wohin er will. Er sei nun kein Gefangener der russischen Armee mehr.
Sein erster Gedanke war natürlich hierher zufahren, zu Margot. Jeden Tag hatte er an sie gedacht und den Tag herbeigesehnt, an dem er sie wiedersehen würde. Nie hätte er geglaubt, dass er erst drei Jahre nach dem Kriegsende Deutschland wiedersehen würde.
Er lief eine breite Straße hinab und erkannte plötzlich ein Gebäude auf der rechten Seite wieder. Eine Gaststätte war früher dort untergebracht worden, in der oft mit Werner, Friedrich und Volker gesessen hatte. Er blieb stehen und schloss kurz die Augen. Nur er war übrig geblieben.
Langsam ging er weiter, fragte sich durch und stand schließlich vor seinem Haus. Die Hausnummer war das einzige, was er noch erkennen konnte. Das Haus war neu aufgebaut worden.
Endlich war er zu Hause, Gefühle der Erleichterung, der Einsamkeit und der Angst überschlugen sich in ihm. Er klingelte. Ein Mann öffnete die Tür und blickte ihn an. „Was kann ich für Sie tun?“