Was ist neu

Eine neue Zeit

Mitglied
Beitritt
17.08.2004
Beiträge
83
Zuletzt bearbeitet:

Eine neue Zeit

Die Tür flog auf und krachte an das Küchenbord, das notdürftig an der Wand befestigt worden war. Die Gläser mit Eingemachtem wankten bedrohlich, entschieden sich aber dafür, nicht auf den Boden zu fallen.
Hans stand breitbeinig in der Tür und schnaufte schwer. Er war den ganzen Weg gerannt, vom Bruch, durch die von Trümmern übersäte Straße bis hierher. Ein Sonnenstrahl fiel durch das große Loch im Dach und beschien seinen Kopf wie den eines Heiligen.
Erika, Hansens Mutter, fuhr von ihrem Schemel hoch, ließ ihr Stickzeug zu Boden fallen und blickte ihn an.
„Gott, Junge, was ist dir denn?“ Sie blickte in das bleiche Gesicht ihres Sohnes.
„Ich war oben im Bruch – da kommen ganz viele Soldaten die alte Straße hoch!“
„Um Himmels willen. Sind sie schon so weit? Was machen wir denn nun?“ Die grauenhaften Taten, über die berichtet worden waren, kamen ihr in den Sinn und plötzlich hatte sie furchtbare Angst. Nie hätte sie gedacht, dass dieser Tag einmal kommen würde und nun war er einfach da.
„Schnell, hol Vaters Uniform vom Boden. Sie ist in der alten Kiste.“ Mutter öffnete den Ofen und warf eine paar Kohlen hinein.
Hans kletterte die Leiter hinauf und kramte in der Kiste. „Was ist mit den Abzeichen?“ rief er hinunter. „Bring sie auch mit. Bring überhaupt alles mit, was du findest.“
Hans warf den Inhalt der Kiste auf den Boden und begann zu sortierten. Die Abzeichen funkelten in der Sonne, als er sie in die Hand nahm und betrachtete.
Erika nahm ein Buch aus dem Regal, das seit Jahren dort stand, das sie aber noch nie gelesen hatte. Sie schlug es auf blickte kurz auf das Porträt, und begann Seite um Seite herauszureißen und in den Ofen zu werfen.
Hans warf die Uniform und einige andere Dinge hinunter und stieg, die Abzeichen immer in der Hand, die Leiter hinab.
„Geh raus und such Mathilda. Sie soll zum Fluss runter gehen und die Abzeichen reinwerfen. Wir können die nicht verbrennen.“ Hastig riss sie weiter Seiten aus dem Buch und Hans ging zur Tür hinaus.
Als sie die Uniform vom Boden aufhob, fiel ein kleines Bild hinaus. Sie nahm es und blickte es schweigend an.
„Es tut mir leid,“ murmelte sie und warf das Bild mit der Uniform ins Feuer.


„Wie oft muss ich Ihnen denn das noch erklären?“ Chambowsky gestikulierte wild mit den Armen, um seine Aussage zu bestärken.
„Das Papier interessiert mich nicht!“ schrie Haubert zurück. Das war seine Stadt, er und niemand sonst war hier Bürgermeister und keiner konnte ihn zwingen, seine Stadt an diese Halunken zu übergeben. „Da könnte ja jeder kommen. Was meinen Sie denn, was ich tun soll? Sie glauben doch nicht allen Ernstes, ich quartiere sie hier in jedes Haus ein? Sehen sie sich doch um! Hier steht doch kaum noch was. Wir haben keinen Platz für Leute wie sie!“
„Aber wo sollen wir denn hin? Wir können ja wohl kaum zurück.
„Es ist nicht mein Problem, wo sie hinsollen. Wir haben selber genug zu tun, um über die Runden zu kommen. Wir haben auch Kinder, Frauen und Versehrte. Oder glauben sie, hier herrscht Deutschlands Wohlstand, dass wir jede dahergelaufenen Lumpen -“
„Was bilden sie sich ein, Mensch! Wir sind keine Lumpen, wir sind Deutsche, so wie sie – nichts anderes!“
„Deutsche wollt ihr sein? Das ist Ihnen aber anscheinend entfallen, als es darum ging, ihre Dörfer und Städte zu verteidigen, was? Ihre Frauen und Kinder! Flüchtlinge, ha! Feiglinge seid Ihr, nichts anderes – Feiglinge, Feiglinge, Feiglinge.“


Annas Rücken schmerzte, als sie die zerstörte Allee entlang ging. In beiden Händen hielt sie Eimer, die mit Eierkohlen gefüllt waren. Sie hatte den ganzen Tag angestanden, um ihre Marken eintauschen zu können.
Sie bahnte sich einen Weg durch die Trümmer. Wie gerne hätte sie die Stadt verlassen. Einfach in den Zug steigen, wegfahren und irgendwo aussteigen, wo keine rauchenden Ruinen den Weg versperrten, wo sie nicht zehn Stunden am Tag anstehen musste, um nicht zu verhungern. Aber sie wusste, dass es wohl keine deutsche Stadt mehr gab, die nicht zerstört war und Züge fuhren sowieso nicht mehr. Sie musste nun mal Abschied nehmen von ihrem alten Leben. Es war unwiederbringlich vorbei.
Ein junger Mann kam ihr entgegen. Er ging an einer Krücke. Sie sah an ihm hinunter und blickte auf einen Beinstumpf. Ihm fehlte ein Fuß.
„An der Elbe,“ sagte er, als er an ihr vorbeikam und blieb schließlich stehen.
„Wie?“ Anna blickte auf.
„Mein Fuß. Verloren an der Elbe. Russische Granate – zack – einfach ab. Na ja, hatte noch Glück, glaub’ ich.“ Er lächelte, aber Anna blickte beschämt zu Boden, weil sie so offensichtlich auf seine Kriegsverletzung gestarrt hatte.
„Haben Sie es noch weit bis nach Hause?“ fragte er und lehnte sich an eine Hauswand. Mit der Krücke zeigte er auf einen der Kohleneimer in Annas Hand. „Sieht schwer aus. Geben Sie mir doch einen davon, ich habe ja noch einen Arm frei.“
Anna blickte misstrauisch auf den jungen Mann. „Danke, ich schaffe das auch alleine. Ich habe nicht mehr weit bis nach Hause.“
Doch der junge Mann war schon neben ihr und nahm ihr einen Eimer aus der Hand. „Na, selbst ich muss doch noch zu irgendetwas nutze sein, meinen Sie nicht?“ Er grinste und humpelte langsam vorwärts.
Anna blickte ihn von der Seite an und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag.


Er erkannte die Stadt nicht mehr wieder, als er den Zug verließ. Sechs Jahre war er nicht mehr hier gewesen. Der Bahnhof war provisorisch eingerichtet worden, das alte Gebäude war verschwunden. Er nahm seine Tasche, in der er seine Habseligkeiten verwahrt hatte, die er noch besaß – einige wenige Fotos, einen Brief, alte Kleidung. Er ging die Straße hinunter und versuchte sich zu orientieren. Natürlich hat er von den Zerstörungen gehört, aber das Bild der Stadt, das ihn erwartete, versetzte ihm einen Schlag in den Magen. Kaum ein Haus stand mehr da, wo es einst gewesen war. Zahlreiche Ruinen säumten die Straßen und Menschen waren kaum unterwegs.
Sein Blick wanderte zwischen einem kleinen Zettel und den Straßenschildern hin und her. Nach einer kurzen Weile gab er es auf, er hatte die Orientierung vollständig verloren. Nichts war mehr so, wie es war.
Man hatte ihn an der neuen deutschen Grenze abgesetzt und gesagt, er kann nun gehen, wohin er will. Er sei nun kein Gefangener der russischen Armee mehr.
Sein erster Gedanke war natürlich hierher zufahren, zu Margot. Jeden Tag hatte er an sie gedacht und den Tag herbeigesehnt, an dem er sie wiedersehen würde. Nie hätte er geglaubt, dass er erst drei Jahre nach dem Kriegsende Deutschland wiedersehen würde.
Er lief eine breite Straße hinab und erkannte plötzlich ein Gebäude auf der rechten Seite wieder. Eine Gaststätte war früher dort untergebracht worden, in der oft mit Werner, Friedrich und Volker gesessen hatte. Er blieb stehen und schloss kurz die Augen. Nur er war übrig geblieben.
Langsam ging er weiter, fragte sich durch und stand schließlich vor seinem Haus. Die Hausnummer war das einzige, was er noch erkennen konnte. Das Haus war neu aufgebaut worden.
Endlich war er zu Hause, Gefühle der Erleichterung, der Einsamkeit und der Angst überschlugen sich in ihm. Er klingelte. Ein Mann öffnete die Tür und blickte ihn an. „Was kann ich für Sie tun?“

 

Hallo Malachy,

du hast die verschiedenen Szenen sehr lebendig und einfühlsam beschrieben, das gefiel mir. Allerdings ist es keine Geschichte in dem Sinne, sondern nur eine Aneinnanderreihung verschiedener Momentaufnahmen. Insofern ist dies hier das falsche Forum für den Text. Auch ist die Rubrik "Alltag" in meinen Augen nicht ganz passend (zum Glück ...), "Historik" träfe es eher.

Erika nahm ein Buch aus dem Regal, dass seit Jahren dort stand, dass sie aber noch nie gelesen

Beide Male "das" statt "dass".

Hans warf die Uniform und einige andere Dinge hinunter

Solche unkonkreten Beschreibungen "einige andere Dinge" klingen immer etwas schwächlich. Schreibe lieber konkret, was er noch hinunterwirft.

Das war seine Stadt, er war hier Bürgermeister und niemand sonst und keiner konnte ihn zwingen,

Etwas verwirrend. Schreibe lieber: "Er und niemand sonst war hier Bürgermeister, und keiner ..."

Die Dialoge gefielen mir gut. Auch so ist dein Stil lebendig ohne Meldodramatik, weswegen einem die Szenen nahegehen.

Viele Grüße
Pischa

 

Hallo Malachy,

ich finde, dass du hier vier eigene Geschichten erzählst, die vielleicht nur eines gemeinsam haben, nämlich, dass sie eventuell in ein und derselben Stadt spielen.
Die einzelnen Schicksale sind meiner Meinung nach sehr gut geschildert.

Aber ich muss mich in dem Punkt "Rubrik" der Meinung von pischa anschließen. Auch ich glaube, dass die Abteilung "Historik" hier besser geeignet wäre, obwohl es sich ja um Alltagsgeschichten in der Nachkriegszeit handelt.

Viele Grüße

bambu

 

Hallo Malachy,

irgendwie läßt mich das unzufrieden zurück, diese short cuts. Deine Schreibe gefällt mir, aber ich hätte lieber eine der Geschichten detaillierter ausgebaut gelesen als die vier, weil ich schnell in den Geschichten war und gerne jeweils mehr darüber gelesen hätte.

Die Rubrik ist wirklich nicht optimal, ich hätte sie unter Sonstige oder eben Historik gestellt.

Lieber Gruß
ber

 

Hi ihr drei :)

erstmal danke dafür, dass ihr die Geschichte(n) gelesen habt.
Ich habe selber lange überlegt, ob ich sie in Alltag oder in Historik stelle (Sonstiges finde ich eher unpassend), und mich für Alltag entschieden, weil für die Personen, die in den kleinen Abschnitten auftreten, plötzlich alles Alltag ist. Das war vorher war, zählt nichts mehr - es ist Alltag, dass eine Frau die letzten Dinge verbrennen muss, die ihr noch von ihrem Ehemann geblieben sind. Alltag ist auch, dass Anna in den toten Trümmern ihrer Stadt doch wieder Liebe findet, die sie schon ent(d?)gültig verloren glaubte usw.

Ich las vorher einige Geschichte in der Rubrik "Historik" und fand meine nicht recht passend dazu - zumindest nicht so stark wie hierher. Aber ich kann auch eure Argumente verstehen, vielleicht empfindet der Leser das ganz anders. Ich habe nichts dagegen, wenn es ein Moderator verschieben will. Ich wollte nur erklären, dass ich es bewusst hier in dieser Rubrik gepostet habe.

@ bernadette:
Das dich meine Geschichtchen unbefriedigt zurücklassen, fasse ich als Lob auf :)
Ich wollte die Geschichten gar nicht detaillierter ausbauen. Ursprünglich bestand die Geschichte nur aus dem Abschnitt mit Hans (der war insgesamt auch viel länger). Dann habe ich mich doch für die kurzen Momentaufnahmen entschieden. Wie die Geschichten nun ausgehen (Erwischt man Hans Mutter? Dürfen die Flüchtlinge doch bleiben? Was geschieht mit Anna?) fand ich eher unwichtig, ich wollte nur darstellen, was Alltag bedeuten kann in einer Welt (in einem Land), in der es scheinbar keinen mehr zu geben scheint.

@ bambu: Die Erlebnisse der Prots sind austauschbar, sie können in einer Stadt spielen, sie müssen es aber nicht. Es ist eben Alltag :)

@ pische: Danke für das Lob, die Rechtschreibfehler besser ich sofort aus, deine Anmerkung zu "Uniform und andere Dinge" war berechtigt, dass besser ich bald aus (muss erstmal überlegen, was in so einer Kiste alles drin ist :) )

liebe Grüße
Malachy

 

Hallo Malachy,

deine Geschichte hat mir gut gefallen. Gerade die kurzen Einblicke in das Leben dieser Menschen, haben den Krieg und alles was damit zusammen hängt sehr gut dargestellt. Ich persönlich hätte die Szene mit Anna allerdings zuletzt angestellt - und zwar aus dem Grund, weil dies die einzige Szene ist, die so etwas wie Hoffnung rüber bringt. Nach Annas Geschichte hat man irgendwie das Gefühl, das Leben ginge weiter - auch wenn die Menschen sich an ein anderes Leben gewöhnen mussten.

Dein Stil gefällt mir sehr. Negativ aufgefallen ist mir eigentlich nur ein einziger Satz.

Erika war entsetzt.

Du bemühst dich den ganzen Text über, alles so lebendig wie möglich zu schildern. Da passt dieser Satz für mich nicht so dazu. Er ist einfach eine Behauptung. Klar, es ist nur eine Kleinigkeit, aber trotzdem...

LG
Bella

 

Hi Bella,

Danke für dein Lob erstmal. Die Episoden untereinander sind ja austauschbar, von daher könnte man Anna auch an das Ende stellen.

Der Satz, den du bemängelst, ist wirklich unnötig. Sie springt ja vorher sowieso auf und läßt ihr Stickzeug fallen. Da sollte jedem klar sein, dass sie entsetzt ist.

Deswegen werde ich den mal rausnehmen

liebe Grüße
Malachy

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom