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Eine Reise
Die SMS meiner Mutter kommt nicht unerwartet und doch viel zu früh.
"Oma ist im Himmel".
Zehn Jahre hat Oma darauf gewartet. Zehn Jahre Krankheit und Schmerzen haben ein Ende. Gott sei Dank.
Ich setze mich an den Küchentisch.
"Mutti, wie geht es dir?" flüstere ich in den Hörer.Sie klingt gefaßt und genauso leise gibt sie zurück:"Du fehlst mir jetzt hier."
Tränen schießen in meine Augen.
"Ich weiß, wäre gerne bei dir."
Mein Elternhaus am anderen Ende Deutschlands ist 700 Kilometer entfernt.
Der Gedanke durchzuckt mich.Ich kenne meine Entscheidung schon, bevor ich zu Ende gedacht habe.
Im Schlafzimmer wecke ich sanft meinen noch schlafenden Mann.
"Ich fahre jetzt los!"
Schlaftrunken fragt er zurück: " Zum Einkaufen ?"
"Oma ist grad gestorben, ich fahre nach Hause:"
Jetzt hellwach, führt er mir die Sinnlosigkeit meines Vorhabens vor Augen.
"In zwei Tagen ist Weihnachten, geh doch erst mal duschen."
Gut. Das Wasser läuft mir über den Kopf. Der Verstand läuft auf Hochtouren.
Mein Herz hat sich jedoch schon längst entschieden.
Mein Mann nimmt meinen Entschluss mit großen Augen entgegen.
"Das ist eine vollkommen irrationale Entscheidung!"
"Ich weiß", entgegne ich meinem promovierten Wissenschaftergatten.
"Ich bin ja auch eine Frau!"
Er lächelt und sagt: "Wann bist du wieder da?"
"Zur Bescherung, versprochen."
Die Tasche ist schnell zusammen geworfen. Vierzig Minuten nach dem Telefonat mit Mutti sitze ich im Auto.
Der Motor summt, die Sonne scheint.Die Autobahn ist nicht zu voll, ich komme gut voran.Dortmund und Kassel ziehen vorbei.
Erster Stopp in Nordhausen. Tanken, Tasse Kaffee, Zigarette.
Eine Dame aus Holland spricht mich an , wie weit es noch bis Prag sei.Wir kommen in ein zigarettenlanges Gespräch.Ich erzähle ihr mein Vorhaben und aus welchem Grund.Die fremde Frau nimmt mich zum Abschied in den Arm und sagt mit ihrem gebrochenen Hollanddeutsch:" Du bischt so ein gutes Tochter,Glück auf all deine Wege!" Wir winken und noch einmal kurz zu und eine kleine Träne stiehlt sich aus meinem Auge.
Ich jage die Audis vor mir her und das Gefühl, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, erfüllt mich immer mehr.
Das Navi zeigt noch dreißig Minuten Fahrtzeit an, da klingelt mein Telefon. Mutti fragt, ob ich ein Festnetz in der Nähe habe und zurückrufen könne.
So ruhig wie möglich sage ich ihr, daß ich noch eine halbe Stunde bis nach Hause brauchen würde.Dann könnten wir reden.
Kurz nach dem Auflegen wird mir klar, dass ich mit keiner meiner Aussagen gelogen habe. Ich grinse wie ein Honigkuchenpferd, als ich die wenigen verbleibenden Kilometer auf der Landstraße fahre.
Endlich!Nach knapp sieben Stunden fast Nonstop rolle ich auf das elterliche Grundstück.Ich bleibe noch zwei Minuten im Auto sitzen. Ich bin zu Hause!!
Ich laufe zur Terassentür.Durch das Glas sehe ich meine Eltern stehen, traurig und müde sehen beide aus. Ich öffne die Tür leise. Zwei Köpfe drehen sich in Zeitlupe zu mir. Nach gefühlten 100 Sekunden sage ich, um irgendetwas zu sagen: "Darf ich mal bitte Ihre Toilette benutzen?"
Meine Eltern starren mich immer noch wie eine Fata Morgana an.
Mutti fängt sich als Erste:" Wo kommst du denn her?"
Nun endlich liegen wir uns in den Armen und kein Auge ist trocken.
Mutti schluchzt herzzerreißend und meint:"Nur ein paar Stunden früher und du hättest Oma nochmal gesehen!"
Erst will ich mich aufregen, schneller ging ja nun wirklich nicht.
Doch dann sehe ich die Trauer in ihren Augen , nehme sie fester in den Arm :"Oma hat sich so gewünscht, endlich gehen zu dürfen, ich bin wegen euch hier.Alles ist gut."
Wir reden bis nach Mitternacht.Alle drei genießen wir die geschenkte Zeit. Heimatgefühl stellt sich ein. Das hatte ich lange nicht mehr.
Am nächsten Morgen fahren wir zum Bestatter. Mutti überlässt mir komplett alle Entscheidungen, sie streichelt nur dauernd meine Hand.
Am Nachmittag brauche ich ein Schläfchen auf dem elterlichen Sofa. Ich bin noch wach, aber rühre mich nicht, als Vati kommt und mich liebevoll zudeckt.
Er sagt ganz leise:" Ich liebe dich, meine Große." Unfähig, mich zu rühren, sauge ich diesen Moment einfach in mich auf.
Am frühen Abend fahren wir ins Altenheim.Von Oma bleiben drei blaue Müllsäcke und ein Gebiss im Abfalleimer.Ich heule Rotz und Wasser.
Wieder sitzen wir bis tief in die Nacht.Als kostbar empfinde ich diese Stunden.
Am nächsten Morgen bin ich früh wach.
Es ist Heiligabend. Vor mir die siebenhundert Kilometer erscheinen mir jetzt endlos.
Ich verabschiede mich rasch.Im Rückspiegel sehe ich zwei winkende Menschen, die sich an den Händen halten.
Das hab ich lange nicht gesehen.
Am Horizont geht die Wintersonne auf, der Himmel ist ein riesiges Kunstwerk in orange und violett. Ich halte noch einmal anmache ein Foto des Himmels, tiefe Ruhe ergreift von mir Besitz.
Wieder ist alles gut, so wie es ist und ich fühle mich irgendwie beschützt.
Die Fahrt zurück verläuft problemlos.Ich genieße die leere Autobahn, die Straße zieht sich wie ein graues Band unter mir durch und im Radio läuft "Driving Home for Christmas ".
Ich genieße di eVorfreude, bald wieder bei meiner Familie zu sein und fühle mich reich, daß auch dort, am anderen Ende der Straße wieder jemand ist, der sich auf mich freut.
Mit nur einer kurzen Pause erreiche ich nach fünfeinhalb Stunden mein Zuhause.
Alles ist wie immer und doch ganz anders.
Krampfhaft halte ich mich wach. Endlich 18 Uhr; wir können bescheren!Zwei aufgedrehte Kinder reißen die Geschenke auf.
Mein Mann bringt mir ein Glas Rotwein und nimmt mich in den Arm.
"Schön, daß du wieder da bist, meine Fernfahrerin!"
Eine Stunde später bin ich eingeschlafen und erwache erst wieder am Abend des ersten Feiertages.
Alles erscheint mir jetzt wie ein Traum, nur dieses gute Gefühl im Herzen und die Marmeladegläser meiner Mutter sagen etwas anderes.