Eine Sekunde nur
Zweiunddreißig Grad im Schatten, keine Wolke ist am Himmel zu sehen.
Asphalt glitzert in der Sonne wie Edelsteine.
Hier oben weht eine kaum spürbare Brise, ihr rotes Haar umspielt sanft ihr junges Gesicht.
Aber die blassblauen Augen erzählen etwas Anderes.
Schmerz und Leid, bittere Erfahrungen und Enttäuschungen.
Tiefe Nacht herrscht in ihrer Seele.
Sie schweigt und sieht in die Ferne. Ein Mäusebussard dreht in einiger Entfernung seine Kreise.
„Schön ist sie, die Welt“, denkt sie.
„Aber nachts sind alle Katzen grau.“
Und plötzlich weht ihr Haar sehr stark. Ihr Pulli schlackert um ihre dünnen Arme und sie verliert einen Schuh.
Ihre Kindheit war von Freude geprägt gewesen.
Ihre Mutter und ihr Vater hatten sie liebevoll umsorgt.
Sie hatte eine Schwester, aber die hatte sie nie kennen gelernt. Sie starb bei der großen Operation. Aber sie sah sie, wenn sie in den Spiegel schaute und mit den Fingern über die große Delle an ihrer Schläfe strich.
Auf dem linken Auge ist sie leider blind, aber das machte ihr nichts aus, denn sie kannte es ja nicht anders.
Papa hatte ihr jeden Abend vorgelesen, Mama hatte ihr rosa Schleifen in ihr Haar gebunden.
Mit zwei Jahren bekam sie einen Welpen zum Geburtstag geschenkt. Bobby, der Schäferhund.
Mit drei Jahren kam sie in den Kindergarten. Die anderen Kinder waren neugierig und wollten wissen, warum sie so komisch aussieht.
Lara ist ihre beste Freundin im Kindergarten, nachmittags spielen sie mit Bobby oft Fangen bei ihr Zuhause.
Mit vier Jahren bekommt sie ein leuchtendes rotes Fahrrad von Oma und Opa zum Geburtstag, sie freut sich sehr darüber und fährt damit stolz durch die Straße.
Ihr erster Schultag und Tabea ist nicht dabei. Sie geht auf eine andere Schule.
Ein Kind aus ihrer Klasse sagt „Monster“ zu ihr und alle Kinder lachen. Sie weint.
Papa kommt von einer Geschäftsreise aus China zurück und bringt ihr einen Chinesischen Fächer mit, da ist sie acht Jahre.
Mit zwölf stirbt Bobby sehr qualvoll, nachdem er vergiftetes Fleisch gegessen hat. Sie ist mit ihm allein im Wald und er verendet in ihren Armen.
Im selben Jahr stirbt auch ihr Opa, sie weint zusammen mit Mama an seinem Grab und wirft eine Rose hinunter.
Mit vierzehn verliebt sie sich in Thomas. Er liest ihren Liebesbrief laut auf dem Schulhof vor und alle Kinder lachen sie aus, Frau Wiedmann tröstet sie im Lehrerzimmer.
Sie schaut Fotos von sich und ihrer Schwester an, als sie noch zusammen waren.
Am Kopf zusammen gewachsen, ihre Schwester sieht aus wie sie selbst.
Sie fragt Mama, warum sie die Kinder bekommen hat, wenn sie doch wusste, dass was nicht stimmte.
„Weil wir uns euch gewünscht haben. Wir lieben dich“.
Nun, sie hatte keiner gefragt, ob sie so leben wollte.
Da ist sie sechzehn.
Die Leute bleiben stehen, um sie anzusehen. Sie spürt die Blicke in ihrem Nacken, wenn sie vorbei geht.
Sie steht vor dem Spiegel und weint. Siebzehn Jahre und hässlich. Rote Haare, ein verstümmeltes Gesicht. Nur eine Freundin, doch sie weiß, dass auch sie hinter ihrem Rücken tuschelt.
Ungeküsst.
Sie denkt an einen Spruch aus der Kirche, die sie früher mit den Eltern oft besuchte.
„Für Gott ist ein Menschenleben nur einen Wimpernschlag lang“.
Und sie befand, dass es nicht nur Gott so ginge. Ihr ganzes Leben war innerhalb einer Sekunde an ihr vorüber gezogen und im Nachhinein kam es ihr auch nicht länger vor.
Als ihr Körper den Asphalt küsst und ihre Erinnerungen sich auf der glitzernden Straße verteilen, schließt sie Frieden mit der Welt und den Menschen und begibt sich in eine wohlige Dunkelheit, von der sie nur Harmonie erwartet.
Ihr Erinnerungen, ihr Leben dauerte nur eine Sekunde lang und alles was übrig geblieben ist, würde der Regen mit der Zeit davon spülen.