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Eine Tafel Schokolade
Stumm saßen sie nebeneinander im Wagen, alle Aufmerksamkeit galt der Nacht. Langsam fuhr der rote Toyota durch die Straßen, schon seit mehreren Stunden. Die Straßenlaternen und das kalte Licht der verdreckten Scheinwerfer strahlten auf den toten Beton. Sie starrten aus den Fenstern.
Wo kann er nur sein?
Bei allen Freunden hatten sie bereits angerufen, die Polizei war alarmiert.
Schließlich, am Rand des großen Stadtparks, lenkte er den Wagen auf den Seitenstreifen. Sie blickten einander an, schließlich sagte sie leise: „Geh nur... ich werde hier warten.“ Er nickte bloß, nahm die schwere Taschenlampe vom Rücksitz, und sie sah dem Lichtpunkt nach, der zwischen den dunklen, undurchdringlichen Büschen unter den alten Eichen verschwand. Sie saß nun alleine im Auto, voll Hoffnung, dass inzwischen jemand anrufen würde, dass vielleicht... und gleichzeitig voll mit Vorwürfen, mit Schuldgefühlen und furchtbaren Gedanken, die nicht die Oberhand gewinnen durften.
Hätte sie doch nur nicht... Was ist denn eine Tafel Schokolade schon? Eine einzige, dumme Tafel Schokolade! Nicht einmal fünfzig Cent wert!
Bilder drängten in ihr Bewusstsein, wieder und wieder liefen die Szenen in ihren Gedanken ab, wieder und wieder...
...Aber wie bringt man einem Sechsjährigen sonst bei, dass er nicht einfach alles, was er haben will, nehmen darf...
Der Klingelton des Mobiltelefons riss sie aufdringlich aus ihren Gedanken. Im Schreck und in der Eile fand sie den richtigen Knopf nicht gleich, endlich: „Ja?“
Im Park war es dunkel, Wolkenschichten ließen das Licht von Mond und Sternen nicht durchschimmern, und die alte Taschenlampe war nicht die hellste. „Martin?“ Er rief. Zuerst leise, fragend, dann immer lauter. „Martin!“ Seine Stimme war vor Verzweiflung ganz rau. Er leuchtete die breiten Kieswege, die Bänke und das Gebüsch ab. Auf einmal hörte er es rascheln, bog sofort ab, achtete nicht darauf, dass ihm die Zweige der Sträucher das Gesicht zerkratzten. Wieder rief er, lauschte angespannt in die Dunkelheit, aber es rührte sich nichts mehr.
Wo kann er nur sein, sie hatten doch schon überall gesucht...
Als er die Autotüre öffnete, wagte sie kaum, ihn anzublicken. „Nichts“, sagte er leise. „Nichts... Hat jemand angerufen?“ setzte er hinzu, einen Funken Hoffnung in der Stimme. „Deine Eltern... sie haben mir Vorwürfe gemacht...“
Sie konnte die Tränen nun nicht länger zurückhalten. „Liebling... du bist nicht schuld.“ Er beugte sich zu ihr, umarmte sie. „Du bist nicht schuld...“ Er streichelte ihr beruhigend übers Haar, küsste ihre Stirn. Sie zitterte immer noch heftig, als er sie nach unendlichen Minuten losließ und den Wagen erneut startete.
Mittlerweile war es halb drei Uhr nachts, es hatte zu nieseln begonnen. Gleichmäßig gingen die Scheibenwischer, während sie immer noch die Gegend abfuhren, zum wievielten Mal in dieser Nacht, wussten sie nicht. Er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, in ihr nagten immer drängender die Vorwürfe.
Wenn ihm nur nichts passiert ist... bitte... wenn wir ihn nur wieder finden...
Eine Stunde später fuhren sie dann endgültig zur Wohnung zurück. Beide hatten nichts mehr gesagt seit sie beim Stadtpark losgefahren waren, keiner war bereit auszusprechen, wovor beide sich fürchteten. Er hielt vor der Garage, schaltete Motor und Scheinwerfer aus. Wortlos zog er eine Packung Zigaretten aus der Tasche, bot ihr eine an. Sie rauchten in der Dunkelheit, jeder für sich. „Er ist doch erst sechs...“ kam es ihr über die Lippen. „Sie werden ihn finden...bitte, Liebling, sie werden ihn doch finden, oder?“
Er blickte sie an, gab ihr einen Kuss.
Sie verließen das Auto, er schloss die Haustüre auf und sie gingen die Treppen hinauf.
Das Knarren des alten Holzes, die flackernde Lampe des Stiegenhauses... all das war vertraut, fiel ihnen nicht mehr auf; wie blind setzten sie einen Fuß vor den anderen.
Die Gestalt vor ihrer Wohnungstüre nahmen sie erst wahr, als sie wenige Meter davor standen.
Martin.
Ihr wurde schwarz vor Augen, eine Welle von Glück durchzuckte ihren Körper. In diesem Moment war er schon bei dem kleinen Schatten, hob ihn vorsichtig hoch. Martin.
Der Junge schlief friedlich, er regte sich nicht einmal, als seine Eltern ihn in die Wohnung trugen. Er erwachte nicht, als sie ihm den Anorak und die Kleidung auszogen und als ihn die Mutter schließlich in sein Bett legte.
Wie lange er wohl draußen herumgelaufen ist? Und als er dann heimkam... niemand von uns war da.
Die Eltern saßen in dieser Nacht noch lange wach.