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Einen Sommer lang
Sachte legt Nina den Hörer wieder auf. Für einige Momente sitzt sie nur da und versucht, das Vernommene zu verarbeiten, den Gedanken in ihren Kopf zu bringen. So recht will ihr das nicht gelingen. Stattdessen steigen Erinnerungen in ihr auf, Ereignisse, an die sie lange nicht mehr gedacht hat, drängen an die Oberfläche. Sie waren so unwichtig geworden in den letzten Jahren, doch jetzt muss sie wieder an den einen Sommer denken. Unwillkürlich lächelt Nina.
***
Den ganzen Tag ist sie Achterbahn gefahren, und jetzt ist ihr schlecht. Vielleicht liegt das auch an dem vielen Eis, das sie in sich hinein gestopft hat. Papa schaut sie besorgt an. „Geht’s dir nicht gut, Ninni?“
Sie schüttelt tapfer den Kopf. Er ist so stolz, dass er ihr den Besuch im Freizeitpark bezahlen konnte, da möchte sie ihm nicht den Spaß verderben.
***
„Wohin gehen wir?“, möchte Leah wissen, während Nina ihr die Schuhe zuschnürt.
„Wir holen deinen Großvater ab“, erklärt Nina und setzt eine große Doppelschleife auf den linken roten Schuh.
Leah macht große Augen. „Ich hab doch gar keinen Großvater. Hast du selber gesagt.“ Nina seufzt.
Sie kann sich noch gut an das Theater erinnern, als Leah aus dem Kindergarten nach Hause kam, heulend, weil die anderen Kinder alle von ihren Großeltern erzählt hatten, während Leah schweigend dabei saß. Wie lange hatte es gedauert, ihr zu erklären, dass Großmutter weit weg wohnte, und dass sie keinen Großvater hatte?
Nicht zum ersten Mal hatte Nina ihre Mutter verflucht. Nicht genug, dass sie ihr keine Mutter sein wollte, sie war noch nicht einmal für Leah da. Und die Eltern von Stefan hat sie nie kennen gelernt. Wahrscheinlich wissen die überhaupt nicht, dass sie eine Enkelin haben.
„Hör auf zu zappeln, sonst bekomme ich den Schuh nicht zu!“, herrscht Nina ihre Tochter an, die aufgeregt mit den Füßen schlenkert. Ihr Tonfall ist härter als sie es beabsichtigt hat. Leah macht ein Gesicht wie ein geschlagener Hund und sofort tut es Nina wieder leid.
„Dein Großvater war lange Zeit im … Urlaub“, versucht sie ihren Fehler wieder gut zu machen. „Jetzt möchte er uns besuchen kommen.“
Sie hat Leah nie die Briefe gezeigt, die er geschrieben hat. Die Briefe, die sie nur so selten beantwortete. Immer wieder hat er sie gebeten, ihn zu besuchen. Doch sie konnte es nicht. Nicht dort, wo er war. Sie hätte sich nur noch schuldiger gefühlt.
Leah strahlt schon wieder. Es ist so leicht, ihr eine Freude zu machen. Sie ist ein liebes Kind, wenn auch manchmal ein bisschen wild. Nina bindet die zweite Schleife, richtet sich auf und greift nach Leahs Hand. „Los geht’s!“
***
Stolz schlüpft Nina in die neuen Hosen und das T-Shirt mit dem Glitzeraufdruck. Früher haben sie sich so was nicht leisten können. Aber seit dem Beginn der Sommerferien, hat Papa plötzlich viel mehr Geld.
„Kommst du, Ninni? Wir wollen doch heute weiterfahren. Nach München.“ Papa klopft an die Badezimmertür.
„Ich komm gleich.“ Noch einmal mustert Nina sich im Hotelspiegel. Gut sieht das aus. Wenn sie doch nur ihre Klassenkameraden jetzt sehen könnten.
***
Leah hüpft auf einem Bein die Bahnsteigkante entlang. Nina steht in der Raucherecke, zieht nervös an ihrer Zigarette und wippt mit dem Fuß. Zehn Minuten Verspätung schon.
Wie soll sie das aushalten? Wenn es denn schon sein muss, dann hätte sie es gerne schnell hinter sich gebracht. Warum hab ich nicht nein gesagt? Warum musste ich mich auf dieses Treffen einlassen? In ihrem Magen sitzt ein dicker Knoten aus Schuld und Angst. Für einen Moment schließt Nina die Augen, atmet tief durch. Sehr viel ruhiger wird sie davon auch nicht.
Was soll ich nur sagen? Was erwartet er von mir?
Um sie herum herrscht Gedränge. Freudige Gesichter, mürrische Gesichter, erschöpfte Gesichter. So viele Menschen. Wenn sie sich doch nur zwischen ihnen verstecken könnte.
„Verehrte Fahrgäste auf Gleis 3 fährt jetzt ein, IC 2304 aus Stuttgart zur Weiterfahrt nach Berlin. Bitte Vorsicht bei der Einfahrt!“
Nina drückt ihre Zigarette aus und schnappt nach Leahs Hand, um sie vom Bahnsteig wegzuziehen. Das Gedränge wird stärker, alles strebt nach vorne, um einen Platz in der Nähe der Zugtüren zu ergattern. Nur Nina bleibt zurück. Leah zappelt unruhig neben ihr. Ihre Mutter muss sich beherrschen, um die kleinen Finger nicht zu sehr zu drücken. Vor ihr hat sich eine Wand aus erwartungsfrohen Menschen gebildet. Noch ist Zeit, zu verschwinden. Nina späht in Richtung Ausgang, doch ihre Füße wollen sich nicht dorthin bewegen.
Der Zug fährt ein, Bremsen kreischen, Leah presst die Hände auf die Ohren, bis er endlich still steht. Dann öffnen sich die Türen, speien Menschen aus, schlucken andere. Nina geht noch einen Schritt zurück.
***
„Ich kann nicht mehr.“ Nina schiebt den Spaghettiteller von sich weg.
„Aber ein Eis geht noch, oder?“ Ihr Vater grinst sie an, und als sie nickt, winkt er dem Kellner. Nina lässt sich auf ihrem Stuhl zurücksinken. Früher haben sie nicht so oft im Restaurant gegessen. Nina gefällt das. Sie fragt sich ein bisschen, wo ihr Vater plötzlich das viele Geld her hat, aber sie spricht ihn nicht darauf an. Er ist so glücklich in letzter Zeit.
***
Er sieht anders aus. Sowohl anders als sie ihn kennt, als auch anders als sie ihn sich vorgestellt hat. Er ist älter geworden, natürlich, aber er ist immer noch groß und ziemlich breitschultrig. Seine Haut ist blasser als früher, doch sein Gang ist federnd, lebendig, freudig. Er trägt einen Wanderrucksack auf dem Rücken und sieht aus als wollte er in die Berge fahren. In ihrer Vorstellung hat Nina einen gebrochenen alten Mann gesehen, jetzt erst wird ihr wieder bewusst, dass er noch nicht einmal fünfzig ist.
Es ist zu spät zum Fliehen.
Einen Moment bleibt er stehen und sieht sich um. Er erkennt mich nicht, er darf mich nicht erkennen!
„Wo ist denn Großvater, Mama?“ Leah starrt neugierig all die Menschen an, die an ihnen vorbei zum Ausgang strömen. Nina antwortet nicht, möchte nicht in seine Richtung blicken, doch ihre Augen werden immer wieder zu ihm hingezogen.
Er hat sie erkannt, lächelt, strebt auf sie zu, als hätte er sie erst gestern verlassen, als wären keine zehn Jahre vergangen, als wäre er noch Teil ihres Lebens. Jeder Schritt, den er macht, bringt Nina ein Stück weiter in die Vergangenheit, zurück zu dem Sommer, in dem sie alles haben konnte, was sie wollte.
***
„Papa?“
„Ja?“
„Übermorgen muss ich wieder in die Schule. Fahren wir nicht wieder heim?“
„Doch, doch.“
Leise Rascheln in der Dämmerung des Hotelzimmers.
„Hat dir der Urlaub gefallen, Ninni? War es so, wie du es dir gewünscht hast?“
„Ja, es war toll.“
„Das ist das wahre Leben, vergiss das nicht, Ninni, egal, was passiert.“
***
Am Tag nach diesem Gespräch fuhren sie nach Hause, wo die Polizei bereits auf sie wartete. Ninas Vater wurde fort gebracht, und Nina landete in einem staubgrauen Zimmer des Jugendamtes, wo ihr ein netter Mann erklärte, dass sie all ihre schönen neuen Sachen gar nicht haben dürfte, und dass sie jetzt in ein Heim müsste, bis ihr Vater zurück käme.
Je näher er ihnen kommt, desto unsicherer wird sein Gang. Noch zehn Schritte, neun, er wird langsamer.
„Ist er das?“ Leah steht jetzt ganz ruhig und starrt ihren Großvater an. Nina nickt langsam.
„Ja“, mehr bringt sie nicht über die Lippen.
Leah löst sich von Ninas Hand und tappt auf den Mann zu, der jetzt nur noch fünf Meter entfernt ist.
„Hallo“, sagt sie leise. Seine Unsicherheit scheint mit einem Mal von ihm abzufallen.
„Hallo“, erwidert er, und strahlt Leah an. „Du musst Leah sein. Deine Mama hat mir Fotos geschickt, da warst du noch sehr klein. Ich hab’ dir was mitgebracht.“ Damit setzt er seinen Rucksack ab, öffnet die Schnallen und beginnt, darin zu kramen. Neugierig geht Leah näher.
Nina beobachtet die Beiden, noch immer stumm, unfähig, sich auch nur einen Schritt vom Fleck zu bewegen. In ihr schreit eine Stimme, schreit so laut, dass es sie fast zerreißt.
Wie kannst du es wagen, wieder in mein Leben zu treten? Wie kannst du es wagen, meiner Tochter Geschenke zu machen? Warum hast du mich alleine gelassen, warum musstest du mir das Gefühl geben, ich sei Schuld daran, dass du gestohlen hast?
Warum hast du zugelassen, dass ich zwischen lauter Fremden aufwachsen musste? Warum konntest du nicht da sein, als ich schwanger wurde? Als Stefan abgehauen ist. Ich war noch in der Schule! Warum hast du mir nicht geholfen, warum?
Und dann wird die Stimme noch lauter. Beinahe glaubt Nina, dass er sie hören müsste.
Bleib weg! Geh fort von mir und meiner Tochter! Lass uns unser Leben leben! Ich werde nicht zulassen, dass du auch ihres verdirbst, ich werde es nicht zulassen, dass sie dich liebt.
„Mama guck mal!“ Leah streckt ihr stolz den neuen Gameboy entgegen, den er ihr geschenkt hat. Das Gerät ist neu, noch original verpackt. Nina starrt darauf, sieht sich selber, Jahre zuvor, mit dem teuren Walkman, den er ihr gegeben hatte, irgendwann in diesem Sommer. Dann sieht sie auf, blickt in seine grauen Augen, und fühlt den Vorwurf in jeder Faser ihres Körpers.
„Gestohlen?“ Ihre Lippen formen das Wort, ohne dass ein Ton heraus kommt. Doch er versteht, er lächelt, wohlwollend, wissend.
„Ich habe lange drauf gespart“, sagt er leise.
Geh weg!
Sie kann spüren, wie ihr Gesicht lächelt. „Hallo Papa.“