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Einen Tag zu spät
Das Polster war kalt und Uwe verzichtete auf eine Sitzgelegenheit. Die älteren Menschen im Bus starrten oft in seine Richtung; suchte er jedoch den Kontakt mit ihren Augen, ließen sie ab, sahen unbeteiligt zum Fenster hinaus oder musterten verlegen die Spitzen ihrer Schuhe. Seine dunkle Hose war viel zu kurz, zerknittert und die alten Schuhe fleckig mit auffällig roten Schnürsenkeln. Das Hemd ragte in schmierigen Fetzen unter der gelben Jacke hervor, die er mit den Händen um seinen Oberkörper geschlungen hielt. Ihn fror, die Nacht war ohne Schlaf gewesen und bewegte er seine Zunge, erinnerte ihn der Geschmack an Zigaretten – an viele Zigaretten, an weiche Kekse, Sekt und ihre Spucke. Ihre Spucke und an das säuerliche Odeure ihrer Scham.
Unwillkürlich muß er grinsen, lächelt in sich hinein, erinnert sich an ihre zärtlichen Hände, die unablässig jeden Zoll seines Körpers liebkost hatten, an ihre rauchige, samtweiche Stimme, die anfangs fast männlich gurrend Bruchstücke unverständlicher Worte gegen die beschlagene Scheibe der Dusche spie.
Uwe bekam nicht viel mit, was da aus England auf den Kontinent schwappte. Es war wild, archaisch und laut wie die Sprüche an den Wänden – entsprach seiner Ungeduld, seiner hemmungslosen Abscheu gegen den Mief der elterlichen Wohnung – ein Sofa mit abgesessenen Beulen und den verblichenen Kissen, auf dem Vater Sonntags sein fettiges Haar in den Schlaf schmierte. Es war die Zeit, wo ihn die Welt täglich ein paar Schritte weiter aus den Straßen seiner Heimatstadt lockte, als er das Lexikon seiner Mutter nach den Abbildungen weiblicher Geschlechtsmerkmale durchstöberte und heimlich hinter der Haustür lauschte, wenn Gina einen Stock über ihnen spät nach hause kam und mit ihren Schuhen in der Hand barfuß durch das Treppenhaus kicherte. Einmal überraschte er sie mit ihrem Freund im Fahrradkeller, als beide rasch verlegen die Hände aus des anderen Hose zogen, das Lächeln ihrer roten Wangen nicht täuschte.
Gitarre spielen lernte er schnell, übte, wann immer seine Eltern aus dem Haus waren. Die große Musiktruhe mit ihrem eingebauten Plattenspieler begann nach etwa drei Monaten kratzende Laute unter die ewig dudelnden Schlager zu mischen und eines Tages erwischte ihn seine Mutter mit umgehängtem Instrument, wie er mit geschlossenen Augen den Kopf nach hinten warf, geöffnetem Mund unisono den kreischenden Tönen folgte, die er der Gitarre abrang. Er versuchte es nie wieder, was ihn wohl auch dazu bewog, alsbald einer Band beizutreten.
Schon ein halbes Jahr später bekamen sie Gelegenheit, vor großem Publikum zu spielen.
Der Raum war stickig, die Decke niedrig und spärlich die Beleuchtung – ausgelassen tobten jugendliche Besucher in den neuen Farben Englands – dicke Hundeketten um schlanke Hälse, lange Haare mit Bier zu schiefen Hahnenkämmen toupiert, Netzstrümpfe, Netzhemden, Handschuhe mit abgeschnittenen Fingern und nackte, schwitzende Bäuche unter stickerlastigen Lederjacken. Drei Akkorde sind genug, treibende Drums und wummernde, verzerrte Bässe. Immer und immer wieder Anarchie, fuckin´ London calling – bis es sich erschöpfte.
Uwe hatte längst ihre wachen, braunen Augen, ihre herausfordernde Pose sinnlich geformter Lippen wie Tentakeln auf seiner blassen Haut empfunden. Es waren so wenig Worte vonnöten, ihre Hand lag warm in der seinen, die kalte Luft in den ersten Stunden des Jahres empfing alle drei Schritte sichtbar ausgeatmete Erschöpfung, als sie eilig dem Herzen der kleinen Stadt zustrebten.
Die Wohnung ein Provisorium, notdürftig isoliert und aus den kleinen Dachfenstern zog die Wärme in den Rest der Nacht. Die Dusche, ein Fremdkörper in der Küche, erfrischte, wärmte und spülte den letzten Rest der Scham in den Abfluß. Angespannt aller Sinne zogen sie geöffneten Auges die Konturen ihrer Gesichter nach, suchten in den zitternden Mundwinkel nach Spuren ihres Wohlwollens, einem Verständnis, daß noch so jung und unbeholfen ohne Worte auskommen mußte.
Uwe sah es nie wieder, diese Vollkommenheit von Gesicht, schlankem Hals, braunen Augen und der geschwungenen Linie ihrer Brust. Sachte ihre Nase berührt mit seinem Mund, über den das Wasser der Dusche perlte, in kurzem, mehrfachem Nicken hob sie das Gesicht zu seinem empor und der erste Kuß eine flüchtige Begegnung entspannter Lippen, ein Geruch nach Fremde, der sich auflöst in immer und immer wieder näher die Finger jetzt Griffe in den Oberarmen nicht mehr wissend was Wasser von oben oder schon der Kontakt dünner Haare auf nasser Haut strahlt Wärme berührt die Beine die Arme die Spitzen ihrer Brüste tasten über ein Versinken und ein Errichten ungestüm jetzt das Ausloten hungriger Zungen schmecken Speichel, Wasser, Geschmack, vermischt mit Pressen der Konturen in die Nischen passend wie der letzte Stein des Puzzles.
Kontakt, Kontakt, Kontakt signalisieren alle Lichter auf rot gesprungen sperren die eng gewordenen Straßen vom Geist weg und auch zurück was bleibt ist Empfindung, Gefühl zuviel ist nicht genug, das Umschlingen und ihr Atem mischt die Worte ausgestoßen in seinen Rücken und endlich ist der Wasserhahn abgedreht, das Fallen der Tropfen in die Duschwanne verebbt, das weiche Flattern eines großen Tuches mischt sich in das Brennen zweier Augenpaare, die verstohlen taxieren.
So leise gewispert die Worte, Du bist so schön, wie ich mich danach gesehnt habe, was auch immer jetzt geschieht, ich werde es nie vergessen. Nicht eine Silbe über die Frage, ist es richtig, was wird sein, morgen, übermorgen, viele Tage später, in Jahren, am Ende des Lebens, wenn es jetzt wäre, passender nie wieder.
Nicht die Kälte ließ sie rasch das Zimmer wechseln, ihre Hand zog ihn mit Fingerspitzen um seinen Daumen hinter sich her. Leise die Füße über die nackte Diele, das magere Licht aus der Küche und wie sie sich erst setzt, seine Hände umschließt, ganz Sehnsucht spiegelt sich in den weiten Augen und wieder erlösen die Lippen das Wollen, tasten die seinen über ihren Körper, Finger streichen, streicheln, liebkosen sie jetzt hin gebettet in unverhüllter Schönheit ganz Verlockung und die Scham versinkt in den Falten des Leintuches, gebärt unverhüllt die Leidenschaft in klebriger Feuchte, als sie ihre Weiblichkeit seiner Zunge öffnet.
Während die Nacht hinter den frostweißen Dächern versinkt, sich mühsam duckt vor der zähflüssigen Bleiche des aufstrebenden Morgens, Uwe weich immer und immer wieder die Kontur ihrer Schulter bis zum Gesäß nachvollzieht, ihr steter Blick durch die Haare nach einer Ermattung in seinen Augen sucht, dringt leise das Erwachen der Geschäftigkeit von der Straße herauf in die kleine Dachwohnung.
Zwei Sonnen schrammten über die endlose Finsternis des weitläufigen Kosmos, kollidierten im stummen Einverständnis ihrer Möglichkeiten; die Eine nahm, die Eine gab und keine Zweifel ob ihrer Fähigkeiten in diesem Spiel. Licht, das nach innen schien, Freude, die in die Unterlippe biß, die Kernschmelze fast lautgemalter Schmerz über den Verlust, das Verebben und der Riß zog an seinen Enden, zerstoben Hoffnungen und wußten nichts von Ewigkeit, weil auf das Leben folgt der Tod, auf den Tod das Leben. Kein Stillstand sollte sein, sie zogen sich an, die Erinnerung hatte fotografiert in ihrem Geruch, Geschmack, Gehör und ihren eigenen Farben.
Kann ich noch mit zu Dir, fragte sie ihn, der längst wieder den roten Faden aufgenommen hatte und Uwe tastete sich durch die Möglichkeiten, die er nicht fand.
Nein, es geht nicht. Alles war in diesen Satz gelegt und die Zukunft starb mit seiner Ablehnung.
Jahre später schlug er sich vor seinem Badezimmerspiegel ins Gesicht. Ihren Namen vergaß er nie, nicht die Bilder, nicht die anschließende Fahrt im öffentlichen Verkehrsmittel, als die Menschen ihn anstarrten und er noch trunken von ihrem Geschmack zehrte. Sie rochen sein Glück, seine Hingabe, seine Haut stank nach Lust und schürte ihren Neid.
Nur einen Tag später suchte er nach ihr – fand sie abends am Eingang zum Club stehend und als er sich ihr näherte, stieß sie sich ab von der Wand, glitt an ihm vorbei und er roch ihren Schmerz, den sie wäßrig in ihren stolzen Augen trug. Der Augenblick duldete ihn nicht, auch der Nächste wird es nicht wollen.
Auch als er sie später in den Straßen traf, in männlicher Begleitung, im Sommer am Strand des großen Wassers vor der Stadt – nie sprachen sie über das Erlebte, über das Mißgeschick, über den Verlust. Zwei Sonnen, jede mit einem schwarzen Flecken, unterwegs in entgegengesetzte Richtungen – es gab kein Vergessen, keinen Abschied, keinen Blick, der sich verriet.