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Einer den Anderen
Das frühe Aufstehen war bisweilen das Schwerste. Wenn das fröhliche Lachen unter dem Kissen hervorquoll, wo er sein Handy jeden Abend hinstopfte. Der Klingelton war Maries Idee gewesen, „der macht doch gleich gute Laune!“ Und gute Laune brauchte man wohl, wenn man um kurz nach fünf Uhr die Haustür hinter sich zuzog, im Magen nichts als ein halbes Glas O-Saft, und sich auf den Weg zum Bahnhof machte. Im Sommer war es um diese Zeit immerhin schon hell und die Luft streifte unverbraucht und frisch über die Haut. Man konnte höchstens ahnen, dass mit den späteren Stunden auch die Hitze wieder kommen würde, sich wie eine schwere Decke über die Stadt legte und jede Bewegung zur schweißstreibenden Qual machte.
Im Sommer, so glaubte er sich zu erinnern, hatte es tatsächlich gute Tage gegeben. Wenn die 15 Minuten bis zum Bahnhof leicht zu gehen waren, der Kopf frei für alle möglichen harmlosen Eindrücke: Maulbeerenbrei auf dem Asphalt vor dem letzten Haus an der Ecke, rötlich-braun und festgetrocknet. Vier aufgereihte leere Bierflaschen unter einer Sitzbank am Kanal. Ein gemustertes Seidentuch, das ein aufmerksamer Finder über den Zweig eines Strauchs gebreitet hatte.
Doch die warmen Tage waren allmählich in den Herbst hinübergeglitten, sanft dieses Jahr, mit stetig fallenden Temperaturen und kleineren Regenschauern wechselte die Jahreszeit.
Und nach dem Herbst kam der Winter. Ein kalter Winter, ihm schien es der kälteste seit langem. Kein Schnee, der sich zufrieden über der Stadt ausschüttete und dem Frieren durch seinen plüschigen Anschein das Beißende nahm.
Stattdessen durch und durch feuchte Tage, die zu klammen Wochen wurden. Das bisschen Helligkeit sparte sich für den späten Vor- und frühen Nachmittag auf und spielte boshaft mit der Sehnsucht der Menschen, wenn es viel zu früh wieder nachdunkelte.
Jetzt war das frühe Aufstehen reizloser denn je. Hannes hasste das Lachen mittlerweile, diesen eifrigen Spott, mit dem sein Handy ihn immer gleich weckte. Dennoch wagte er aus irgendeinem Grund nicht, den Klingelton zu ändern, sich an die bisherige Routine zu klammern hieß jeden einzelnen weiteren Tag durch zu stehen.
Er tastete nach dem Display und fand versetzt darunter die Tastatur des Handys. Schaltete die Weckfunktion aus. Jetzt nur nicht an die Uhrzeit denken. Gar nicht erst zulassen, dass das Gefühl der Sinnlosigkeit ihn verführte, noch einen Augenblick der Nachtwärme des Bettes nachzuspüren, Maries Atemzügen zuzuhören und sich schließlich die Überlegung zu gestatten: „Was, wenn du heute einfach liegen bleibst?“
Er setzte sich auf, so leise wie möglich, jede Bewegung, jeder Handgriff im stillen, dunklen Raum war vertraut. Strümpfe, Hose, Unterhemd. Den Bügel mit dem Hemd von der Stange nehmen, blind die Tür finden und öffnen, durch den Flur ins Bad.
Um sechs Minuten nach fünf zog er die Haustür hinter sich ins Schloss.
Marie drehte den Kopf in Richtung Fenster. Das schwarzblaue Rechteck hob sich kaum gegen die restliche Dunkelheit ab. Die Altbauwohnung hatte keine Rollläden, und sie hatten bei ihrem Einzug bewusst auf Vorhänge verzichtet. Die einzigen möglichen Besucher vor den Fenstern waren hier oben im vierten Stock die Mauersegler, die ihre Nester unter den Dachbalken hatten. Und auch die nur im Frühjahr und Sommer.
Sie könnte aufstehen und hinübergehen, mit drei raschen Schritten wäre sie vielleicht schnell genug, um ihn noch draußen auf dem Gehweg zu sehen, eingemummelt in den Wintermantel, den Schal bis an die Ohren gewickelt.
Sein Gang so vertraut, die Schultern leicht vorgeschoben, der Blick auf die Füße gerichtet. Es bestünde keine Gefahr, dass er sich umwenden und sie hinter dem Fenster erspähen würde, ohnehin nicht, solange sie kein Licht einschaltete.
Und dennoch blieb sie liegen. Stellte sich vor, wie er die Straßen überquerte und durch den nieseligen Morgen zum Bahnhof stapfte. Mit Schritte, die eine so seltsame Entschiedenheit ausdrückten, dass sie nicht recht zu dem gesenkten Kopf und der eingezogenen Haltung passen wollten. Marie glaubte nicht, dass ihm selbst auffiel, wie sehr er seine eigenen Zwiespälte nach außen sichtbar werden ließ. Dass sein bisweilen gehetzter Blick, das unruhige Zucken um den Mund, die müden Schultern und die kurze Geste, mit der seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger rieb, fast genauso sehr zu ihr sprachen, als die Worte, die er sich verkniff. Und trotzdem konnte sie höchstens ahnen, wie viel Kraft ihn dieser Balanceakt jeden Tag kosten musste.
Manchmal bewunderte sie ihn beinahe dafür, aus einem bizarren Gefühl der Distanz heraus, wie man die seltsamen Fähigkeiten einer seltenen Tiefseequallenart bestaunt, über die man irgendwo eine kleine Zeile liest.
An anderen Tagen lagen Trauer Und Zorn in gerechtem Wettstreit miteinander.
Und dass sie ihn schlussendlich verstand, sich ihm immer noch so nahe fühlte, dass seine Ohnmacht zu ihrer eigenen geworden war, macht alles noch schlimmer.
Sie drehte den Kopf vom Fenster fort und sah den einfahrenden Zug vor sich, ein lärmendes Ungetüm, das in den düsteren Bahnsteig einfuhr und die wartenden Pendler verschlang, um sie Stationen später wieder aus zu spucken, hinein in einen Tag, der immer noch nicht richtig hell geworden war.
Er saß auf seinem Platz, die Hände um einen Pappbecher Kaffee geschlungen. Ein Euro für das Zeug war ein fairer Preis, da konnte man schlecht große Ansprüche an Geschmack oder Herkunft der Bohnen stellen. Es erschien ihm fast unvorstellbar, für dieselbe Menge Kaffe bei Starbucks um die drei Euro bezahlen zu müssen. Früher war das keine Frage für ihn gewesen, auf dem Weg zum Büro einen Latte „medium“ und oft auch noch einen dieser süffigen Brownies, die das Papier schon mit Fettflecken durchtränkten, sobald sie in die Tüte geschoben wurden.
Jetzt hasste er den Anblick des grün-weißen Logos und machte nach Möglichkeit einen Bogen um den Laden weiter hinten im Bahnhof, drei Straßen von dem Bürogebäude entfernt. Im Bogen machen war er richtig gut geworden. In der Trattoria „de Gusto“ aßen seine Kollegen gern in der Mittagspause, also mied er die Einsteinstraße genauso wie den hinteren Lindenhof, wo eine der Sekretärinnen wohnte und häufig zu Fuß zur Arbeit ging.
Aus irgendeinem Grund schaffte er es aber nie so richtig, sich wirklich aus dieser Gegend zu entfernen. Dabei gab es überhaupt keine Notwendigkeit, ausgerechnet am Löwenmarkt aus der S-Bahn auszusteigen, wichtig war ja schließlich nur, dass er überhaupt fuhr. Dass er zuhause am Bahnhof einstieg und sich mitziehen ließ von all den übrigen Männern und Frauen mit sorgfältigen Frisuren und müdem oder strengem Blick.
Wo er letztlich ausstieg, spielte eigentlich keine Rolle, er könnte sogar stundenlang durch die ganze Stadt fahren, solange er nur abends pünktlich die richtige Bahn erwischen und zurück nach Hause fahren würde. Zurück zu Marie, die dort auf ihn wartete, ohne es sich anmerken zu lassen. Die ein Buch las oder in der Küche stand und für sie beide kochte, die aufsehen und mit einem beinahe überraschten Ausdruck lächeln und ihn umarmen würde. Marie, die nach Zitrone und Himbeere roch, deren Spirellilocken nie dort blieben, wo sie sie mit tausend kleinen Klämmerchen feststeckte, Marie, die ihm vertraute, die ihn liebte. Für die er stark sein musste, weil sie so zerbrechlich war.
Hannes zerknüllte den leeren Becher in seiner Hand, die nun wieder etwas Gefühl hatte und roch ein bisschen dem Kaffearoma nach. Wie sehr er es vermisste, einfach mal mit seiner Frau wieder richtig gut essen zu gehen, mit Vorspeise, leckerem Wein und hinterher frischem Espresso, eben allem, was dazu gehörte.
Aber selbst Summen wie diese vierzig, fünfzig Euro waren mittlerweile ein Abgrund für ihn. Er nahm an, dass auch Marie dieses Ritual vermisste, aber sie drängte ihn nicht, wenn er stöhnend von Bergen an Arbeit und zu wenig Zeit sprach, wenn er sie vertröstete oder sogar kurzfristig absagte, weil doch wieder etwas dazwischen kam.
Er schleuderte den Becher Richtung Mülleimer. Es kostete alles viel zu viel Kraft. Das Sinnvollste wäre es, reinen Tisch zu machen.
Er wusste, dass er das nie schaffen würde. Er hatte es sich so oft vorgenommen, dass er mittlerweile nicht einmal mehr das tat. Nicht noch mehr Selbsterniedrigung.
Er lehnte sich zurück, im Laufe der letzten Wochen war exakt dieser Wartesessel im Bahnhof sein Stammplatz geworden, ein blauer Metallgittersitz, halb verborgen von einer hässlichen Betonsäule und einem Briefmarkenautomaten.
Er griff in seine wildlederne Aktentasche und zog das Buch heraus. Zwischen den Seiten lag ein Foto Maries als Lesezeichen.
Marie wischte über das Zeranfeld des Herdes. Er war noch keine drei Jahre alt und die eifrige Pflege hatte Wirkung gezeigt: kein Kratzer, kein Sprung zu sehen.
Sie wrang das Tuch aus, hängte es über den Wasserhahn und betrachtete ihre leicht schrumpeligen Hände. In der Küche roch es schwach nach dem Apfelaroma des Spülmittels.
Letzten Monat hatte sie Gabriela gekündigt. Hannes hatte sie gesagt, dass es ihr lieber sei, sich selbstständig um ihre Wohnung zu kümmern, Zeit genug habe sie ja. Er hatte es hingenommen, scheinbar ohne Verwunderung darüber, dass sich ihre Haltung diesbezüglich nach all den Jahren geändert hatte.
In ungefähr einer Stunde würde er kommen. Nein, in ziemlich exakt einer Stunde. Der Zug fuhr um 19 Uhr 08 im Bahnhof ein, dann brauchte er zwischen 12 und 14 Minuten bis zur Haustür. Viel zu oft in den letzten Wochen hatte sie genau diese Minuten gezählt und gewartet. Versucht heraus zu finden, ob heute Abend der entscheidende Abend sein würde. Ob sie heute stark genug sein würde, auszusprechen, was sie beide seit Monaten wussten. Jeder für sich.
„Ich bin da.“ würde sie ihm sagen. Und: „Wir schaffen das gemeinsam, irgendwie.“
Aber sie hatte es nicht gesagt. Vielleicht, weil sie feige war. Weil sie nicht wusste, was diese Worte auslösen würden. Weil sie nicht wusste, ob sie es schaffen würde, stark genug für sie beide zu sein.
Wieder sah sie die fest eingewickelte Gestalt vor sich, die sich mit leicht gekrümmtem Gang und gesenktem Kopf von ihrem Haus entfernte. Die Zuneigung, die sie dabei empfand, hatte eine Nähe zum Schmerz, die sie niederdrückte. Er war so verletzlich. Sie wusste, sie würde nichts sagen.
Wieder warf sie einen Blick auf die Digitaluhr am Herd. Noch 47 Minuten.
Marie ging zum Kühlschrank und betrachtete lange den Inhalt. Hühnchengeschnetzteltes mit Mango und Kochbananen in Curryrahm, dazu Basmatireis und gedämpfte Lytschees. Das Rezept hatte sie vorhin im Netz gefunden.
Als Hannes die Wohnungstür aufschloss, roch es würzig und vertraut. Marie stand in der Küche, die Wangen gerötet vom Dampf, den der Reis aufsteigen ließ.
„Hallo, mein Herz", lächelte sie und hielt ihm die Wange hin. „Wie war dein Tag?“