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Einfach raus
Raus, ich muss raus!
Einfach nur raus, an die Luft, ins Kalte, alleine sein, weg von alldem, ich ersticke!
Mantel, Stiefel, nur schnell, schnell, werfe die Tür hinter mir zu, renne die Stiege hinunter, raus!
Bin ganz außer Atem, laufe noch ein paar Schritte, streiche mir die Strähnen aus dem Gesicht, atme tief durch.
Endlich draußen.
Laufe weiter, bis ich ruhiger werde, langsamer.
Meine Gedanken beruhigen sich, mit jedem Schritt ein Stück mehr. Abschalten, frei werden. Die Luft, frisch und schneidend kalt, der scharfe Wind, der den lockeren Schnee durch die Straßen treibt. Dazu die Sonne, gleißend malt sie Muster auf die Wege, zartrosa bis in stechend kaltes Blau.
Ich gehe die Allee entlang, der Raureif hat sich eng wie ein Mantel über die schwarzen Zweige der Pappeln gelegt, die kleinen Kristalle funkeln hell im Licht. Ein wunderschönes Bild. Manche der Äste sind gebrochen, abgestorben. Unter den Stiefeln knirscht der Schnee, zersplittert unter meinem Gewicht.
Einsam bin ich hier, kein Mensch, kein Lebewesen ist in meiner Nähe, keine Geräusche außer dem Zerren des Windes, dem Knirschen des Schnees, meinem Atem.
Ich gehe weiter, weiter von den Häusern weg, von den Menschen und ihrer Hektik, dem Streit, den lauten Worten, einfach weiter.
Der Wind frisst sich eisig in mein Gesicht, meine Lungen schmerzen von der kalten Luft, ich genieße die Stille.
Endlich Ruhe.
Weiter, zu dem kleinen See, der sich vor dem beißenden Wind still in seine Mulde duckt. Das Schilfrohr am Ufer ist geborsten, von der Kälte der Nacht gesprengt. Eine dicke Eisschicht bedeckt das Wasser. Die Sonne sinkt tiefer, lässt die Schatten lebendig werden.
Ich muss an den Sommer denken, wenn Enten und Schwäne hier ihr Revier haben und das Wasser warm ist.
Im Schnee, am Ufer des Sees, Tierspuren. Ich bücke mich. Kleine Pfötchen, kaum zu erkennen, haben sich hier eingegraben (von welchem Tier mögen sie wohl sein?), aber auch ein paar größere, deutliche Spuren, die Krallen von Vögeln. Wo sind sie jetzt, die Vögel? Ich blicke zum Himmel, das Blau verdunkelt sich schon. Der Mond, kahl und blass, hat sich erhoben, obwohl die letzten Strahlen der Sonne noch lange Schatten auf Eis und Schnee zeichnen.
Es sind keine Vögel mehr da.
Ich kehre um. Kälte hat das Gefühl meiner Hände, des Gesichts getötet. Die Sonne flieht, unzählige Sterne am Firmament über mir werden sichtbar, so klar der Himmel.
Als ich in der Finsternis leise die Wohnungstüre aufschließe, steht Chris schon im Flur. Seine Augen blicken mich an. Er kommt auf mich zu, nimmt mich in den Arm, wortlos.
Ich lehne mich an seine Schulter. Lange stehen wir so, im Halbdunkel der schwachen Lampe. Wärme durchströmt meinen Körper. Nach Minuten des Schweigens löse ich mich aus der Umarmung. Ich sehe sein Gesicht vor mir, suche seinen Blick.
'Es tut mir leid', sagen seine Augen.
„Mir auch“, flüstere ich zurück.