Einfach so
„Woran denkst du gerade?“, fragte er interessiert, und hatte Mühe sich vorzustellen, dass ein Mensch so viel zu Denken haben könnte.
Er beobachtete sie, wie sie dalag mit dem Rücken auf dem Bett, mit dem einen Arm das Kissen auf ihrem Bauch umarmend, während der andere einen Kippe über den Aschenbescher neben ihr hielt.
Er merkte, dass er sogar noch größere Mühe hatte sich vorzustellen, was einem Menschen, der so viel starrte, überhaupt anderes übrig bleiben könnte als zu denken. Kein Mensch könne so viel Zeit mit reinem ziel- und sinnlosen Warten verbringen, war er sich sicher. Man müsste daran zerbrechen.
Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schaute geistesabwesend zu ihm rüber. „Nichts. Noch nichts meine ich“, sagte sie ruhig. „Ich glaube das Gefühl hat noch nicht lange genug gesessen, nicht lang genug mariniert um zu einem Gedanken zu werden, weißt du was ich meine?“
Er überlegte kurz und nickte schließlich sein ihm so typisches langsame Nicken. „Ein Nicken, das blanker war als ein leeres Blatt Papier", dachte sie. So frei von jeglichen Charakteristika oder echter Initiative, dass es sogar ihn selbst unmöglich ernsthaft von seiner Aufrichtigkeit überzeugen könne.
Sie zog nochmal an der Zigarette, pustete langsam den Rauch aus den Mund und zielte gegen die Zimmerdecke, ohne zu merken, dass ein Teil dabei aus einem Nasenloch entwich.Der Rauch erinnerte sie immer an den Weihrauch, den sie aus der Kirche kannte, so wie es seither jede Art von Rauchwolke tat. An diese alteingestampfte, vergilbte und in den zufälligsten Momenten immer wieder neu aufpolierte Erinnerung. An den goldenen Behälter, der nur von den älteren Messdienern geschwungen werden durfte, an das den Akt begleitende Läuten der Klingeln, und natürlich an die Rauchschwaden, die sich langsam und gemütlich ihren Weg zur Kirchendecke bannten.
Daran, wie sie als Kind die Augen starr auf ihn gerichtet hatte und sich sicher war: Gerade passiert etwas.
Oder Nichts. Dass etwas außerhalb von Zeit und Raum passierte, das spürte sie. Außerhalb von gähnenden, sich räuspernden Menschen und langwierigen Reden. Jedes Mal sah sie sich verwirrt um in dem stillen Raum, der auf einmal sehr laut erschien.
„Eigentlich müsste man laut aufschreien, es versuchen zu fangen, sich daran festhalten, nein sich daran festklammern!“, dachte sie dann still für sich. Denn, wie oft passierte schon etwas?
Sonntag für Sonntag suchte sie heimlich in dem Weihrauch nach Formen und Zeichen, wunderte sich, ob sich in ihm Gott offenbarte. Halb ernst gemeint und halb aus Langeweile.
Er musterte ihr Gesicht und wunderte sich, ob sie Nichts zu sagen hatte, oder ob sie ihm Nichts zu sagen hatte. Wunderte sich, ob sie dem Rauch nur hinterherschaute, um ihn nicht angucken zu müssen.
Er startete einen neuen Versuch: „Hast du letzte Nacht eigentlich schlecht geträumt? Du warst ganz unruhig, hast dich rumgewälzt und im Schlaf geredet.“
Ihr überraschter Blick über eine so nebensächliche Frage, überraschte ihn selbst. Sie sah fast erschrocken aus. Wie als wäre sie bei etwas ertappt worden.
Sie runzelte die Stirn. „Oh, echt? Ähm, was habe ich denn gesagt?“
„Ich habe nur Wortfetzen verstanden, irgendwas von einer Weltmeisterschaft und einer Mondlandung. Ich wollte dich wecken, aber bevor ich etwas machen konnte, war es schon wieder vorbei.“
Für einen langen Moment war es still im Raum. Sie zupfte an den Fransen des Kissens.
„Ich habe geträumt ein Blauwal ist vom Himmel gefallen.“
„Oh.“
Er überlegte, und wusste nicht, ob er nach den richtigen Worten oder den richtigen Fragen suchen sollte.
„Das hört sich tatsächlich nicht schön an, muss viel Schaden angerichtet haben.“
„Nein, wir waren auf einem Schiff und er ist ins Meer gefallen, und eigentlich war es ein schöner Traum.“
„Hmm“, sagte er, „ich verstehe.“
Es musste der Artikel gewesen sein, den sie gestern Abend gelesen hatte. Sie hatte den Traum komplett vergessen, erst jetzt drängten sich Fragmente zurück in ihr Bewusstsein, und erst jetzt fielen ihr die Parallelen zum Artikel auf.
Es ging in dem Artikel um den Einfluss, den die ausgebrochenen Pandemie auf die individuelle Psyche haben könnte, und darum wie sich dagegen zu wappnen sei. Um das Aufbauen von Resilienz. Sie hatte beim Lesen an das Mantra ihrer Mutter denken müssen: „Alles was gut ist muss auch schlecht sein, und alles was schlecht ist muss auch gut sein.“ Und daran, dass man in dem einen immer nach dem anderen suchen müsse.
In den Anfängen der Pandemie, noch weit vor den astronomischen Todesfallraten, unterhielten sich die Menschen schon über nichts anderes mehr. Bevor die Lage ernster wurde, die ersten Maßnahmen begannen in den Alltag einzuschneiden, und bevor die große Langeweile einsetzte, meinte sie dabei ab und zu die Menschen im Gespräch beim Lächeln zu erwischen. Wie als wären sie froh, dass mal etwas passiert.
Es wirkte so befremdlich und bizarr, dass sie sich nächtelang den Kopf zerbrach, was die sichtbare Aufregung denn zu bedeuten hätte. Und als sie in dem Artikel las, dass die Menschen sich im Anbetracht einer globalen Katastrophe klein fühlen würden, und dass sich davor zu schützen sei, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen:
„Man kann sich nicht klein fühlen, ohne sich wie ein Teil von etwas zu fühlen, und das gleiche andersherum.“
Sie konnten sich plötzlich alle kollektiv, über Alters-, Klassen- und Nationalgrenzen hinweg, vor einem gemeinsamen Feind fürchten. Konnten echte Meinungen haben. Mussten nicht bis zur nächsten Mondlandung oder Fußballweltmeisterschaft warten, um sich wieder wie ein Teil eines Ganzen fühlen zu können. „Sich klein fühlen, muss auch gut sein“, dachte sie.
Während sie auf den Rauch schaute, schaute er auf die große Wanduhr, die seine Eltern ihnen beim Einzug geschenkt hatten. Er hatte diese Woche noch nicht mit ihnen geredet, ein Anruf wäre eigentlich längst überfällig. Er machte sich eine Notiz in seinem Kopf: „Morgen Eltern anrufen.“
„Das Gefühl, ich weiß nicht wie ich es erklären soll, manchmal muss man einfach darin sitzen bis es sich in Worte verwandelt.“ Sie zögerte.
„Es ist wie, wenn man nach einem großen Streit ins Nichts starrt. Oder nachdem man sich so richtig ausheult, oder wenn man fürchterliche Neuigkeiten bekommt. Etwas Traumatisierendes erlebt. Obwohl der Kopf dann leer und frei von allen Gedanken ist, keine Ahnung, man ist sich bewusst, dass etwas passiert. Instinktiv. Nicht in Worten, nicht in Gedanken, aber instinktiv weiß man, etwas passiert. Irgendwo rollt laut ein Stein.“
„Hmm. Verstehe.“
Langsam wiederholte er die Worte, dehnte sie aus, betonte sie Silbe für Silbe.
„Et –waas –paa –ssiert.“
Während er sie beobachtete, wie sie den nächsten Zug nahm, musste er daran denken, wie sie früher den Geruch von Zigaretten gehasst hatte. Sie hatte nie verbal geäußert, dass sie sein stinkendes Hobby nicht leiden konnte, und trotzdem hatte er nie Probleme ihre kleinen Signale aufzugreifen. Ihre kaum wahrnehmbar minimal gerümpfte Nase, oder die ihm angebotene Kaugummiflatrate.
Sie atmete aus, zielte gegen die Decke. „Genau.“
„Aha, ich verstehe. Darf ich die Frau Professorin denn fragen, wann das Gefühl voraussichtlich zum Gedanken wird?“
Sie musste lächeln.
„Kann ich Ihnen leider nicht sagen, erfahrungsgemäß kann das niemand. Es ist nämlich so: Beim Warten auf die U-Bahn in der Großstadt starrt man auf die jungen Menschen und ihre Rucksäcke, und auf die alten und ihre Aktentaschen.“
Bei jeder Gegenüberstellung, jedem Vergleich, gestikulierte sie dabei müde mit den Händen.
„Du steigst in die Bahn und starrst aus dem Fenster, oder wenn du dazu gezwungen wirst auf Hinterköpfe und auf Schuhe. Im Sommer auf Sandalen (sie zeigte nach links), und im Winter auf Stiefel (sie zeigte nach rechts). Im Herbst und Frühling starrst du auf Turnschuhe.“
Nickend und leise lachend, stimmte er ihr zu: „Ja, ja die sind generell universell einsetzbar.“
Sie schaute wieder auf den Rauch, ihr Lächeln war noch da, aber es war etwas träger und ernster geworden.
„Du kommst also nach Hause und starrst aus dem Fenster, auf den Wasserkocher, und den köchelnden Inhalt im Topf auf der Herdplatte. Du starrst auf den Fernseher, auf die Zahnpastareste im Waschbecken, vielleicht sogar in den Spiegel. Du legst dich in dein Bett und starrst gegen die Zimmerdecke.
Den ganzen Tag ist wenig passiert, oder vielleicht ist es leise passiert. Den ganzen Tag hat es in dir gearbeitet, wie als müsste sich etwas kalibrieren, verstehst du? Und manchmal wenn es still ist, was meistens nachts im Bett der Fall ist, wenn du nur genau hinhörst, dann kannst du ein Rauschen hören. Wirklich.
Als ich es wach und müde im Halbschlaf das erste Mal gehört habe, dachte ich es wäre die Klimaanlage, bis mir einfiel, dass wir keine hatten. Und dann wusste ich es auf einmal einfach. Es war das Rauschen der Großstadt draußen.“
„Der Großstadt?“ fragte er leise und verwirrt.
„Ja, das der Autos, und der Straßenbahnen, des Trampelns und des Murmelns. Es ist immer da im Hintergrund, wie weißes Rauschen, deshalb merkt man normalerweise nichts. Ich weiß nicht, vielleicht wirkt es im Alltag sogar beruhigend. Aber irgendwann liegt es plötzlich so schwer auf dir, dass du denkst, du kannst dich nie wieder bewegen. Und dann weißt du, dass das Gefühl lang genug gesessen hat.“
„Hmm.“ Mittlerweile hatte auch er sich eine Zigarette angezündet.
Erst jetzt fiel ihm auf, wie viel stiller der Alltag mittlerweile geworden war. Seit dem Ausbruch der Pandemie hatte sich die Lage deutlich beruhigt, aber die Menschen schienen von einem Zustand der Panik in einen Winterschlaf des Wartens gefallen zu sein.
Sie warteten zwar nicht mehr geduldig mit dem Desinfektionsfläschchen in der Hand vor den Zugtüren, penibel den Mindestabstand einhaltend, wie zu Beginn des Ganzen, und trotzdem waren die Dinge noch anders. Wenn sie sich jetzt in den Zug drängten, dann drängten sie zögerlich, fast fragend. Wie als wüssten sie nicht, ob sie den richtigen Zug erwischt hatten.
Er atmete aus und sie schauten beide nachdenklich auf den Rauch. Sie wunderte sich, ob sie dasselbe sahen.
„Es ist in letzter Zeit tatsächlich auch tags stiller.“ Er hielt inne.
„Aber meine Frage hast du eigentlich immer noch nicht beantwortet oder? Rauschen ist Rauschen, und kein Gedanke.“
„Noch nicht.“, sagte sie sanft.
Für einen kurzen Moment schaute sie ihn wirklich an. Er war sich nicht sicher, ob er es sich nicht nur einbildete, aber für diesen winzigen Augenblick schien sie ihn fast mitleidig anzulächeln.
„Die Konvertierung ist zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht ganz abgeschlossen. Vielleicht einen Tag später, oder eine Woche, oder ein Jahr später, stehen die Menschen auf und geben ihre fristlose Kündigung ab. Einfach so, aus dem Nichts. Oder packen ihre Sachen, lassen ihre Städte und Beziehungen in Trümmern zurück. Es hat gesessen und mariniert, Dauer und Ergebnisse des Prozesses sind dabei jedes Mal unterschiedlich. Manchmal sind es sieben Tage, manchmal zwei Jahrzehnte.
„Ich hasse meinen Job.“, denken sie dann.
„Meine Beziehung macht mich kaputt.“ Oder der Klassiker: „Die Großstadt treibt mich in den Wahnsinn.“
Der Raum war wieder still.
„Was ist mit den Leuten, die zurückbleiben, was bleibt ihnen zu denken?“ fragte er schließlich.
„Sie verbleiben erstmal als Fragezeichen, kratzen sich ratlos den Kopf. Aber nicht für immer, nicht für lange, weißt du?“
Sie schaute ihn fast hoffend an, wie als würde sie auf Zustimmung warten.
„Nur bis sich das „Einfach-So?“ irgendwann von selbst neu kalibriert. Sich von einer universellen Frage, in eine universell akzeptierte Antwort wandelt.“
Sie lagen beide für eine Weile einfach still da.
Als sie zu dem Entschluss kam, dass genug geschwiegen worden war, setzte sie sich langsam auf, und legte den Aschenbecher auf den Nachttisch. Sie nahm ihre rituellen zwei großen Schlucke von dem Glas Wasser vor ihr, und verweilte einen Moment in dieser Position. Schaute auf ihre Füße. Schaute genau hin und daran vorbei, auf ihren, wie sie fand, überproportional großen kleinen Zeh. Auf den abgeblätterten gelben Nagellack, den ihre Nichte aufgetragen hatte. Auf die Holzdielen unter ihren Füßen, die sie seit zwei Jahren mit einem Teppichboden austauschen wollte.
Sie schaltete ihre Tischlampe aus und legte sich so Schlafen, wie sie es jede Nacht tat.
Auf dem Rücken liegend, die Hände auf dem Bauch gefaltet, die Augen auf die Zimmerdecke gerichtet.
„Einfach so, also“, murmelte er irgendwann leise vor sich hin, und schaltete seine Tischlampe aus.