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Einhundert gute Gründe
Es gibt da ein paar Dinge in meinem Leben, die ich rückblickend vielleicht lieber anders gemacht hätte. Zum Beispiel diese sehr unangenehme Sache mit dem Hamster meiner Schwester damals. Oder die Tatsache, daß meine Freundin Claudia zwar die tollste Frau auf der ganzen Welt ist, ich bei der Auswahl meiner Traumfrau allerdings nicht auf ihren Beruf geachtet habe. Als Stewardess ist sie ständig unterwegs - immer irgendwo zwischen Bangkok, Hamburg und dieser komischen Stadt in Norwegen, die man nichtmal richtig aussprechen kann.
Auf jeden Fall aber würde ich, wenn ich die Chance hätte, mein Leben noch einmal zu leben, diesmal auf den Einbau eines Türspions bestehen. Diese kleinen Linsen in der Tür, die einem schon im Vorfeld sagen, wer da draußen geklingelt hat. Es ist schon komisch, daß ich diese Dinger früher nie zu würdigen gewußt habe. Erst in dem Moment, in dem der Typ vor mir stand und mit seiner Schrotflinte genau zwischen meine Augen zielte, wurde mir klar, daß ein Türspion manchmal eine verflucht praktische Sache sein kann.
"Darf ich reinkommen? Ich hoffe, Sie verstehen, daß ich vermeiden möchte, von Ihren Nachbarn so gesehen zu werden." Ich hatte keine Wahl und ließ den Mann eintreten - immerhin hatte er eine Waffe und ich nur einen angebissenen Hühnerflügel in der Hand.
"Setzen wir uns doch", sagte er freundlich, als wir im Wohnzimmer angekommen waren. Trotz seines Tonfalles wirkten seine Worte auf mich wie ein Befehl, woran die Schrotflinte vermutlich einen nicht unerheblichen Anteil trug. "Sie fragen sich sicher, warum ich hier bin, oder?"
"Wenn es um Geld geht, ich habe nur eine Spardose in der Kü..."
"Nein, es geht nicht um Geld. Ganz und gar nicht. Mein Anliegen hat rein humanitäre Gründe. Es wird Ihnen vermutlich im ersten Moment ein wenig... naja, sagen wir ungewöhnlich vorkommen, aber wenn Sie objektiv darüber nachdenken, werden Sie meine Beweggründe sicher nachvollziehen können." Die Tatsache, daß er sich ruhig und gewählt ausdrückte, beruhigte mich. Ich war ziemlich sicher, es wenigstens nicht mit einem durchgeknallten Junkie zu tun zu haben, der mich einfach so aus einer Laune heraus abknallen würde. Sein ganzes Auftreten paßte überhaupt nicht zu dieser Situation. Mit seinem Nadelstreifenanzug, der gebügelten Krawatte und der modischen Brille hätte ich ihn normalerwiese vermutlich für irgendeinen dieser Managertypen gehalten.
"Nun, ich bin kein Freund großer Worte, darum fasse ich mich kurz", fuhr mein Besucher fort. "Ich habe vor - und ich hoffe, daß Sie jetzt nicht in Panik verfallen, sondern mich zunächst ausreden lassen - ich habe also vor, Sie umzubringen. Mit Ihrer Zustimmung natürlich."
"Sie wollen..."
"Ja, ich möchte Sie umbringen. Mit Ihrer Zustimmung."
"Wie bitte?"
"Ich kann vollkommen verstehen, wenn Ihnen das jetzt merkwürdig erscheint, aber es dürfte Sie interessieren, daß ich gute Gründe habe, das zu tun. Einhundert gute Gründe, um genau zu sein. Ich habe sie notiert, wollen Sie mal sehen?" Mit der freien Hand griff er in sein Jackett, zog ein paar zusammengerollte Blätter Papier hervor und breitete sie auf meinem Tisch aus, wobei er jedes einzelne behutsam und beinahe zärtlich glattstrich.
"Ich habe Sie beobachtet. Nicht, was Sie jetzt vielleicht denken. Ganz diskret und ich versichere Ihnen, daß ich nichts, was ich gesehen oder gehört habe, an Dritte weitergeben werde. Ich habe nur diese Liste angefertigt und einhundert Gründe gesammelt, aus denen meiner Ansicht nach hervorgeht, daß die Welt ohne Ihr Zutun besser dran wäre."
"Moment mal... ich fürchte, ich komme hier nicht mehr mit..."
"Oh doch, ich glaube, Sie verstehen sehr wohl. So kompliziert ist das gar nicht. Diese Liste stellt eine, wie ich finde, ausreichende Legitimation für mich dar, Sie umzubringen. Vielleicht ist es angesichts dieser Beweislast sogar meine Pflicht."
"Aber... aber ich kenne Sie überhaupt nicht."
"Das macht nichts. Dafür kenne ich Sie umso besser. Am besten, ich lasse Ihnen meine Karte da. Lesen Sie sich die Liste in aller Ruhe durch und wenn Sie meine Gründe nachvollziehen können, und ich bin sicher, das werden Sie, rufen Sie mich einfach an." Mit diesen Worten stand der Mann auf, reichte mir seine Hand und machte Anstalten, meine Wohnung zu verlassen.
"Mo... Moment mal... wie kommen Sie gerade auf mich?"
"Eine verständliche und daher sinnvolle Frage. Nun, mit irgendjemandem muß ich schließlich anfangen. Guten Tag."
Kaum war er draußen, griff ich zum Telefon. Eins eins null, die einfachste Nummer von allen sollte es sein. Während ich den Hörer an mein Ohr legte, fiel mein Blick unwillkürlich auf die Papiere auf dem Tisch. Ich weiß nichtmal mehr genau warum, aber ich legte den Hörer auf und sah mir die Liste an. Vielleicht war es eine Art perverser Neugierde, vielleicht wollte ich auch einfach nur Gewissheit, daß der Kerl mich verarscht hatte und die Liste in Wirklichkeit nur Rezepte für Pfannkuchen enthielt.
Die ersten fünfzehn Gründe waren eher läppisch. Beinahe lächerlich und es fiel mir nicht weiter schwer, sie von mir zu weisen. Dann aber wurde die Sache immer unheimlicher. Die Gründe Vierundzwanzig bis Einundreißig waren schon echte Brummer und die Nummer Achtundvierzig machte mich echt nachdenklich. Die Zweiundfünfzig und Dreiundfünfzig waren ziemlich intim und ich wunderte mich insgeheim, welche Anstrengungen der Kerl wohl unternommen hatte, um das rauszubekommen. Dann folgten wieder ein paar allgemeine Sachen, die auf so ziemlich jeden Menschen zutreffen würden, aber die Achtziger waren wieder sehr persönlich. Am schlimmsten war aber die Dreiundneunzig. Dieser Grund war, das mußte ich bei allen Bedenken zugeben, äußerst gut recherschiert und ich war nicht in der Lage, ihn zu entkräften.
Insgesamt machte die Liste auf mich einen sehr durchdachten Eindruck. Die Gründe waren anständig ausformuliert, mit guten Argumenten unterlegt und bildeten insgesamt eine absolut logische Struktur, der ich beim besten Willen nichts entgegensetzen konnte. Ich meine, ich bin eigentlich ein ganz normaler Mensch. Ich trinke nicht, nehme keine Drogen, klaue kleinen Kindern nicht ihre Lutscher, schlage meine Freundin nicht - wobei Claudia auch sicher stärker wäre als ich - und bin kein Mitglied der Mafia. Trotzdem hatte dieser vollkommen fremde Kerl es geschafft, einhundert Gründe aufzulisten, aus denen ich eine Last für die Menschheit darstelle. Ein ganz schöner Brocken, wenn man mich fragt.
Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, griff ich erneut zum Telefon. Diesmal wählte ich eine andere Nummer.
...
"Muß das Klebeband so eng sitzen?"
"Sie müssen verstehen, daß ich vermeiden möchte, daß Sie es sich im letzten Moment doch noch anders überlegen und den Kopf vielleicht wegziehen. In diesem Fall könnte der Schuß Sie nur verletzen und ich möchte Ihnen nicht wehtun." Angesichts der Tatsache, daß mein Besucher mich von Kopf bis Fuß an einen Stuhl gebunden hatte und gleich mit seiner Schrotflinte mein Gesicht in eine Art Hackbraten verwandeln würde, tröstete mich dieser Umstand recht wenig.
"Aber es ziept."
"Sie sind wirklich wehleidig... Nummer acht."
"Nein, Nummer sieben. In Nummer acht geht es um meine angebliche Besserwisserei."
"Ja, da haben Sie natürlich Recht. Ich bin ein wenig nervös, müssen Sie wissen. Immerhin mache ich so etwas zum ersten Mal."
"Ich auch."
"So, damit wären Sie fixiert. Möchten Sie noch irgendwelche letzten Worte an die Welt im Allgemeinen oder mich im Speziellen richten?"
"Ja. Ich bitte Sie, dafür zu sorgen, daß Claudia diese Sache so schonend wie möglich beigebracht bekommt."
"Keine Angst, ich werde mich darum kümmern und ihr alles erklären. Ich bin sicher, Ihre Freundin wird dafür ebenso Verständnis haben, wie Sie. Sind Sie bereit?"
Ich nickte und er trat einen Schritt zurück. An der Art, wie der Lauf der erhobenen Schrotflinte zitterte, konnte ich erkennen, daß er wirklich nervös war. Natürlich war mir klar, daß diese Sache hier vom objektiven Standpunkt aus gesehen absolut notwendig war, aber aus meinem subjektiven Standpunkt heraus wurde mir jetzt doch mulmig zumute. Ich konnte die Anspannung kaum noch ertragen und hatte nur den Wunsch, daß der Kerl endlich abdrückt, damit wir die Sache hinter uns haben. Mit fest geschlossenen Augen erwartete ich das Unvermeidliche.
Das Geräusch des Schlüssels im Schloß meiner Wohnungstür veranlaßte mich, die Augen wieder zu öffnen. Und schon drang Claudias heiter beschwingte Stimme durch die Wohnung.
"Schatz? Bist du zuhause? Mein Flug wurde gestrichen und da dachte ich mir, wir machen uns einen schönen Abend. Ich habe eingekauft und... Oh mein Gott!" Die letzten Worte waren nicht mehr heiter beschwingt, sondern eher erschrocken geschrieen. Sie stand wie vom Blitz getroffen in der Wohnzimmertür und hielt ihren Blick panisch auf die Schrotflinte gerichtet. Und dann, ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sie das angestellt hatte, warf sie meinem Besucher ihre Einkaufstüte an den Kopf. Der sackte zu Boden, worauf sich ein Schuß löste, der in der Decke einschlug und Putz auf den mit Plastik abgedeckten Teppich regnen ließ. Sie mußte schwere Sachen gekauft haben, denn der Kerl lag auch dann noch bewegungslos da, als die Polizei anrückte.
...
Es war ein kurzer Prozess. Einbruch und versuchter Mord, so lautete das Urteil. Ich selbst wurde nur kurz verhört - scheinbar wollte man mir die Last ersparen, meinem schrecklichen Peiniger zu lange im Gerichtssaal gegenüber sitzen zu müssen. Natürlich habe ich versucht, die Sache aufzuklären, aber irgendwie hat mir niemand zugehört. Ich würde noch unter Schock stehen, sagte der Staatsanwalt und der Richter glaubte ihm. Zu abwegig war wohl meine Geschichte.
Naja, und jetzt sitze ich an meinem Küchentisch und weiß nicht, was ich machen soll. Ich meine, eigentlich hätte ich tot sein müssen. Es gab schließlich einhundert gute Gründe dafür. Eine zeitlang spielte ich mit dem Gedanken, selbst nachzuhelfen, aber dafür bin ich einfach nicht der Typ. Ich werde mich damit abfinden müssen, den Rest meines Lebens mit der Gewissheit zu verbringen, es nicht verdient zu haben.
Eigentlich, und je mehr ich darüber nachdenke, umso logischer erscheint es mir, trägt Claudia die Schuld an meiner derzeitigen Lage. Wäre sie nicht gewesen, wäre jetzt alles in Ordnung und so wie es sein müßte - aber sie mußte sich ja unbedingt einmischen.
Ich finde, das ist ein guter Grund. Noch neunundneunzig weitere und ich werde mich mal nach einer Schrotflinte umsehen.