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Einsam
Still war es geworden, seid sie gegangen war. Gegangen, so nannte er die Tatsache, dass sie gestorben war. Elisabeth war gegangen. Das Ticken der geschnitzten Wanduhr drang in jeden Winkel der Wohnung. Albert saß allein in dem mit rotem Stoff bezogenen Sessel und las die Tageszeitung. Sein Blick fiel wieder auf die Todesanzeigen, die mit einigen bekannten Namen betitelt waren. Es war ein beängstigendes Gefühl, Freunde zu überleben.
(Tick tack. Hörst du das Albert? Das ist deine Lebensuhr.)
Müde schüttelte er den Kopf. Woher kam diese verfluchte Stimme? Er hörte sie seit dem Tod seiner Frau. Anfang hatte er sich noch eingeredet, sich das ganze nur einzubilden. Mittlerweile hatte er akzeptiert, dass er anscheinend übergeschnappt war.
Er hätte sich nie gedacht, dass man sich dieser Tatsache bewusst sein kann. Früher dachte er, Verrückte würden nicht wissen, dass sie verrückt seien. Anscheinend war es nicht immer so.
(Ticke-di-tack, Albert. Die Zeit verrinnt dir. Wir werden uns schon bald sehen.)
Raschelnd blätterte er um. Es kostete ihn sehr viel Überwindung, stets so zu tun, als würde er nichts hören, als wäre er nicht verrückt. Schwer war es vor allem, wenn er in seiner Wohnung war. Mit Fernseher und Radio konnte er sich nicht ablenken, Elisabeth hatte das für unnötige Anschaffungen gehalten. Da blieb die Zeitung mit ihren
(Tick tack)
Todesanzeigen. Albert fasste sich an die Schläfen. Wie lang sollte das noch so weitergehen? Er konnte doch nicht jahrelang von irgendwelchen Stimmen verfolgt in seinem Haus dahinvegetieren. Doch zum Arzt gehen wollte er nicht. Er wusste genau was dieser mit ihm getan hätte: Eine kurze Untersuchung, ein noch kürzeres Telefonat und schon wäre er im St.Marie, der örtlichen Alten- und Pflegeanstalt. Bei den lebenden Toten. Dieser Gedanke brachte ein schmales Lächeln auf Alberts Lippen. Lebende Tote, so hatten er und Elisabeth die Insassen immer genannt. Sie waren sich einig gewesen, niemals dort hin zu wollen.
So war es ja letztendlich auch gekommen. Eines Morgens, Allerseelen nebenbei, war sie einfach nicht mehr aufgewacht. Nie würde er ihr Gesicht vergessen. Sie war nur ein paar Zentimeter von seinem Gesicht entfernt gelegen. Ein Auge war halb offen gewesen, eine kleine Speichelpfütze hatte sich unter ihrem Kinn gebildet. Am Abend davor war sie so wie immer gewesen. Sie hatten noch eine Partie Schach gespielt und waren dann ins Bett gegangen.
Versonnen blickte Albert zum Esstisch. Auf diesem stand, seit drei Monaten nicht mehr angerührt, das Schachspiel. Er war am Zug gewesen. Sie hätten das Spiel am nächsten Abend fortsetzen wollen. Er hätte noch drei Züge gebracht, dann wäre sie Matt gewesen...
Natürlich hatte er es ihr nicht gesagt.
(Tick tack, Albert. Kannst du mich hören? Natürlich kannst du das. Wie lange wird es noch dauern, bis du mir auch antwortest? Na? Zeit abzudanken Albert.)
Albert fröstelte. Langsam erhob er sich und lief durch das Wohnzimmer. Er öffnete den schweren Eichenschrank und holte sich eine Wolldecke. Dann schlurfte er zurück zu seinem Stuhl und lies sich hineinfallen. Antworten? Sollte er wirklich? Was würde geschehen? Wurde damit das letzte bisschen Menschenverstand das noch in ihm waltete auch verschwinden? Gab er sich damit ganz dem Wahnsinn hin? Oder würde die Stimme dann einfach verschwinden?
Albert fasste einen Entschluss. Wenn sich die Stimme das nächste mal melden würde, würde er antworten. Was konnte schon schlimmer werden? Er legte also seine Zeitung beiseite und lauschte angestrengt. Nicht das es notwendig gewesen wäre, denn die Stimme war immer klar und eindeutig gewesen.
So verging mehr als eine Stunde, ohne das etwas geschah. Es war selten, dass sich die Stimme so lange nicht meldete. Albert begann unruhig zu werden. Warum gerade jetzt? Gerade als er sich entschlossen hatte, sich der Stimme zu stellen. Doch es war nichts zu hören außer dem Ticken der Wanduhr. Stundenlang harrte Albert auf dem Sessel aus, unfähig aufzustehen. Mit angestrengtem Gesicht blickte er in die Leere des Raumes und wartete, das die Stimme sich wieder meldete.
Tage später wurde der Leichnam von Albert aufgefunden. Eine Nachbarin hatte der Gestank bemerkt. Die geschnitzte Wanduhr tickte noch ein paar Tage lang, bis auch sie letztendlich ihren Dienst einstellte.