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Einschreibungstermin
Heute ist Einschreibungstermin! Die Zeiten, in denen ich mich in Geduld und Entbehrung üben musste, kommen mir im Rückblick wie eine halbe Ewigkeit vor. Doch jetzt ist es soweit. An die Stelle der Vorstellung rückt Realität, verschwommene und unklare Bilder werden scharf und konkret.
Ich werde Lehrer!
Und tatsächlich, allen hab ich’s gezeigt. Mit 12 sprach ich das erste Mal davon und keiner hielt es für möglich. Kein Wunder, waren sie doch alle selbst vom Leben desillusioniert; Putzfrauen, Unteroffiziere ohne Aussicht auf Beförderung, Bauleute mit Schwielen an den Händen, Proletarier.
So weit will ich's nicht kommen lassen.
Deshalb nahm ich mir schon in jungen Jahren vor, dem Schicksal zu entfleuchen und einen ehrenwerten Beruf zu ergreifen.
''Rings um mich herum vernahm ich Zeit meines Lebens Unvollkommenheit, und dabei spielte es meistens keine Rolle, welche Erscheinung der Unvollkommenheit’ Wirt sein sollte. Verwandte und Bekannte, Tiere (obwohl diese ja so gesehen bereits vollkommen sind) und aber auch leblose Gegenstände technischer Art, Möbel, Spielzeug, auch das Essen. Meine Vernunft verbietet es mir nämlich, trotz bestem Willen, diese Dinge, die mir in meiner Jugend begegneten, als vollkommen zu bezeichnen. Warum aber war dies so?
Nun, bei den leblosen Dingen lag es freilich daran, dass unser Haushaltbudget einfach zu bemessen war. Aber worin liegt die Tatsache begründet, dass das Geld nicht für Besseres gereicht hat? Letztlich in der Unvollkommenheit dieser Leute, deren Geist für die Entfaltung ihrer individuellen Stärken – die Vollkommenheit – nicht energisch genug war.
Der Unterschied zu den lebenden Objekten liegt bis heute darin, dass, hervorgerufen durch Unvollkommenheit, kein intellektueller Austausch möglich schien, was aber zu meinem besonderen Ärger nicht an mangelnder finanzieller Liquidität lag, oder daran, dass sie keine Chance hatten, sich selbst zu veredeln, sondern direkt an ihrer Unvollkommenheit. Doch was soll’s!'', denke ich mir in der Straßenbahn.
Jeden Augenblick müsste es soweit sein, das Gelände, als auch die Kanzlei rückt zügig in Reichweite, bald müsste alles perfekt sein. Flink stelle ich mich hinten an der Schlange an.
Nach ungefähr zehn Minuten klinke ich mich gedanklich in ein Gespräch zweier Jungen ein, die direkt hinter mir stehen. Jedoch gelingt es mir, trotz mehrerer Versuche nicht, ihnen zu folgen, da sie beide ziemlich breit Dialekt sprechen. Nur ,dass beide Deutschlehrer werden wollen, das habe ich gerade noch so vernommen. ''Doch wie wollen diese mit so einem Dialekt Deutschlehrer werden? Das erscheint mir doch fragwürdig, gilt es doch die deutsche Sprache rein zu halten!''. Wenig später störe ich mich an einem ganzen Haufen, der rauchend und lärmend aus der Kanzlei herausstürmt. ''Jetzt gehen wir saufen, Freunde!'', schreit einer unter erheblichem Beifall der Menge drumherum.
''Um Himmels Willen, was ist den da los?'', beißt mich ein Gedanke. Nach etwa einer halben Stunde stehe ich kurz vor dem Schalter und richte schon einmal meine Unterlagen her. Plötzlich, es wird jetzt ziemlich eng, flüstert einer seinem Kumpel zu, dass er eigentlich gar keine Lust hätte, und sich nur einschreibt, weil er sonst nichts anderes wüsste.
Jetzt endlich bin ich an der Reihe. Sofort wirft mir die Dame am Pult, die einen üblen Saustall an ihrem Arbeitsplatz zu pflegen scheint, einen überaus gelangweilten Blick zu. ''Name, Adresse, Zeugnis'', murmelt sie daher, den Blick senkend auf ein Blatt Papier, die Zigarette im Mund. "Meine Dame!", antworte ich, den Kopf erhebend, ''rechte Lehrer werden hier ja wohl nicht ausgebildet, ich habe mich umentschieden, ich werde Anwalt!'' Darauf die Frau: ''Dann müssen sie aber in die Kanzlei gegenüber!... Nächster bitte!''
''Dort wird es schon besser sein'', rede ich mir ein und mache mich, ohne ein Wort zu erwidern, auf den Weg hinüber ins andere Gebäude. Erleichtert schließe ich auf und bilde zunächst, wie beim ersten Mal, das hinterste Glied der Warteschlange.