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Eisige Stille
Wir sitzen nun schon seit fast zehn Tagen in der Station fest. War das Leben vor dem Sturm schon nicht abwechslungsreich, so ist dieses tägliche Aus-dem-Fenster-Stieren und das Warten auf besseres Wetter, an Eintönigkeit kaum zu überbieten.
Graum als Leiter der Station lässt es sich nicht nehmen, einmal am Tag nach draußen zu gehen und die Instrumente zu kontrollieren.
„Bist du verrückt?“, fragte ich ihn am ersten Tag, als der Blizzard sich erhoben hatte.
Er sah mich durch seinen verzottelten Bart hindurch an und antwortete: „Nein.“
„Du willst da raus gehen und zum Bunker hinüber?!“
Er nickte. Die Augen bildeten einen seltsam wachen Kontrast zum Rest seines Gesichtes.
„Das ist vollkommen irre! Vollkommen! Und das weißt du auch.“
„Hast du eine bessere Idee?“
„Ja“, antwortete ich und betonte jede Silbe. „Lass es blei-ben!“
Er hatte die Hand an der Verriegelung der Tür und ich war gewärtig, dass jeden Moment der Schneesturm wie ein Derwisch hereinfegen würde.
„Wenn wir die einfachste wissenschaftliche Arbeit ruhen lassen“, sagte er leise, „ist unsere Existenz in dieser Eiswüste ohne Berechtigung; der Sinn unseres Hier seins käme abhanden.“
So ist er, Graum, wenn man ihn sieht in seinen abgetragenen Sachen, meint man, einen Bauern vor sich zu haben. Hört man ihn aber reden, dann spürt man den Wissenschaftler in ihm.
Und er öffnete die Tür zum Chaos aus Schnee und eisiger Luft, und er machte sich auf den Weg zum Bunker, wo alle wichtigen Instrumente untergebracht sind. Ich beobachtete ihn vom Fenster aus, allerdings hatte die wirbelnde weiße Masse ihn nach wenigen Schritten verschluckt.
Flinsgaard stellte sich neben mich an die Luke.
„Er ist wirklich da rausgegangen, was?“
„Das ist Wahnsinn, er tut, als sei das ein Spaziergang.“ Die Augen taten mir weh von dem Gewirbel.
„Nun, wenn er es nicht schafft“, meinte Flinsgaard, „ist es Ebbe mit unseren Pokerspielchen. Mit nur zwei Mann ist der Spaß dahin.“
Ich sah ihn an, konnte aber nicht erkennen, ob er es tatsächlich Ernst damit meinte.
Flinsgaard war es dann auch, der Graum ausmachte, als dieser wieder zurückkehrte.
„Da“, krähte er aufgeregt. „Sieh nur, er hat es geschafft!“
Ein Schemen löste sich langsam aus der weißen Wand und mühsam und schleppend kämpfte Graum sich zu der Station zurück. Er ging gebeugt und man sah jede Böe an der Reaktion seines Körpers.
Flinsgaard sprang zur Tür und öffnete sie rechtzeitig. Graum trat ein und schloss sie mit Mühe wieder. Doch außer ein „Danke!“ sagte er nichts. Ohne uns weiter zu beachten, ging er mit dem Koffer vorbei an den Unterkünften nach hinten zum Labor, um die Messergebnisse auszuwerten.
Am nächsten Tag machte ich ihm den Vorschlag, dass jeder sich opfern solle für den täglichen Gang nach draußen, weil ich eingesehen hatte, dass er nicht davon lassen würde.
Er blickte mich tief an und begann dann plötzlich zu lachen. „Wer soll da rausgehen?!“, fragte er. „Flinsgaard? Der wird weggetragen bei seiner Größe! Den sehen wir nie wieder. Und du, Ben –“ er senkte die Stimme und sah hinunter zu meiner Prothese – „du willst da hinaus, mit deinem Bein?“
Und drehte sich um und ging davon. Ohne zurückzublicken, sagte er noch: „Nein, macht Ihr eure Aufgaben hier drinnen, ich sorge dort draußen fürs Rechte.“
Das war nun gerade das Problem: Wir hatten nichts zu tun, bei diesen Bedingungen. Alle relevanten wissenschaftlichen Geräte und Messeinrichtungen waren außerhalb des Hauptgebäudes untergebracht (nicht ohne Grund übrigens – niemand hat gern ein radioaktiv strahlendes Utensil neben seinem Schlafzimmer zu stehen). Aber unserer eigentlichen Aufgabe, Bohrungen vorzunehmen und die gewonnenen Kerne zu untersuchen, auszuwerten und die Resultate in Zusammenhang mit anderen Forschungsergebnissen zu stellen, die Tätigkeiten, wegen der wir hier in dieser Eiswüste am anderen Ende der Welt durchhielten, die konnten wir nicht ausüben.
„Was wird jetzt“, fragte Flinsgaard nach drei Tagen Ausharrens in der Station. „Wir können nicht ständig Poker spielen, um die Zeit totzuschlagen.“
Graum sah von einem Buch auf. Die Lesebrille war vollkommen antagonistisch zu seinem Äußeren. Jedes Mal wenn ich Graum mit der Brille sehe, muss ich an einen Affen denken mit einem Handy. Man erwartet nicht, solch einen Gegenstand bei ihm zu sehen.
„Du könntest die Station ausfegen, Gen.“
Flinsgaard sah von Graum zu mir, als erwartete er, dass wir loslachen würden. Doch wir blieben beide ruhig, und das beunruhigte ihn.
„Im Ernst, Graum! Die Meteorologen geben nicht vor Ende der Woche Entwarnung, ich würde mich nicht wundern, wenn der Sturm noch sechs Tage andauern würde.“
Er hatte noch keine Ahnung, was uns erwartete!
„Die Regale sind noch voll! Wir werden nicht verhungern und nicht erfrieren.“
„Das weiß ich! ’türlich werden wir nicht sterben. Aber wir haben nichts zu tun!“
Ich schaltete mich ein: „Was Gen meint, ist, dass wir hoffnungslos zurückbleiben werden mit der Arbeit. Wir schaffen unseren Zeitplan nicht, wir werden bis zum Ende des Quartals nicht durchsein mit den Tests.“
Graum legte das Buch beiseite und nahm die Brille ab. Er fixierte mich und mir wurde wie immer unwohl dabei. Flinsgaard neben mir rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
„Wir haben dasselbe Los“, begann Graum. „Wir können alle nicht viel tun. Auf der Bellinghausen sitzen sie genauso auf dem Trockenen. Es bleibt uns nichts als abzuwarten und Ruhe zu bewahren, den täglichen Betrieb aufrechtzuerhalten und bereit zu sein, sobald sich der Sturm verzieht. Was macht der Funkkontakt zur Bellinghausen?“
Unsere Nachbarstation liegt gerade 150 Kilometer entfernt und war ebenso von dem Unwetter betroffen. Seit Ausbruch des Sturms war der Kontakt unterbrochen.
Flinsgaard wischte über den Tisch und um ein Haar hätte er dabei seine Kaffeetasse umgeworfen.
„Tja, was soll ich sagen? Kein Kontakt bisher. Schnarren und Rauschen. Atmosphärische Störungen. Ich bin dran, aber kann nichts machen.“
„Was soll das heißen? Wann wird die Verbindung wieder hergestellt? Das kann doch nicht so schwer sein!“
„Chef, das ist kein Amateurfunk, über den wir hier reden! Das Iridium-System ist zwar kinderleicht zu bedienen, fast jeder kann damit ohne Vorkenntnisse umgehen. Aber wenn’s mal streikt, dann ist nichts zu machen. Ich kann nichts tun, nur warten und hoffen.“
„Woran liegt es?“
„Was weiß ich, vielleicht ist ein Satellit ausgefallen, Sonnenflecken oder irgendetwas. Ich habe keine Ahnung.“
Er griff fahrig zur Schachtel Zigaretten, die neben der Tasse lag.
Als er sich eine ansteckte, sagte Graum: „Geh in deine Kabine, Gen, wenn du rauchen willst!“
„Wir sollten einführen, nur noch an der frischen Luft zu rauchen“, bemerkte Graum, während Flinsgaard wortlos abzog. Er konnte das nicht ernst meinen, wir alle drei rauchten, aber Flinsgaard hatte sich hier in der Einöde zum Kettenraucher entwickelt.
„Er ist überspannt, der Kleine“, sagte ich um die Situation aufzulockern.
Graum hatte wieder das Buch und die Brille zur Hand genommen, ließ beides noch einmal sinken.
„Ja, du hast Recht“, meinte er. „Wenn er Beschäftigung hat, ist er in Ordnung, aber er darf nicht in Langeweile verfallen. Dann wird er ungenießbar.“
„Wie lange müssen wir hier noch sitzen, Aaron? Was sagen die Meteorologen.“
„Bevor die Funkanlage ausfiel, hatte ich ein Gespräch mit der Beringhausen. Die Verbindung war da schon alles andere als sauber, ich habe die Hälfte nicht verstanden, von dem was sie durchgaben. Sie hatten Informationen über das Schlechtwettergebiet, und ich meinte zu verstehen, dass es mehrere Wochen dauern kann, bis es sich verzieht.“
„Gott, ist das wahr?“
„Ich kann mich verhört haben, die Qualität war miserabel. Lass auf jeden Fall Flinsgaard nichts davon wissen. Die Bellinghausen-Station gab außerdem durch, dass sie auf einen Fund gestoßen sind, der sich von den anderen Proben abhebt. Irgendetwas müssen sie im Eis entdeckt haben.“
„Was? Warum hast du noch nichts davon erzählt?“
Mein Bein tat weh, besser gesagt, der Teil, der davon noch übrig war.
„Wie schon gesagt, ich habe nur wenig verstanden und musste mir den Rest zusammenreimen. So ist es also nicht sicher, dass ich das richtig gedeutet habe. Aber für mich hörte sich das wichtig an. ’Haben etwas gefunden, berichten später mehr!’ Es kann auch harmlos gewesen sein.“
Flinsgaard kam herein und brachte eine Wolke schalen Rauchs mit. Wir unterbrachen das Gespräch, Graum fuhr fort zu lesen und ich schrieb weiter in meinem Tagebuch.
Den Flocken zu folgen, mit dem Blick hinterher zu eilen, wenn der Wind den Schnee immer wieder in eine andere Richtung treibt, genau sehen zu können, wo entlang die Böe fährt, das macht den Reiz aus, stundenlang aus dem Fenster zu starren. Ich tat das immer öfter, es war faszinierend.
„Ist Graum draußen?“, fragte ich Flinsgaard, als ich der Meinung war, eine Gestalt gesehen zu haben.
„Ich bin hier hinten“, antwortete mir Aaron selbst aus seiner Kabine.
Ich wandte den Blick nicht ab von dem Flecken, an dem ich ihn zu erblicken gemeint hatte. Die Augen begannen mir zu tränen, als ich versuchte, den Schleier zu durchdringen.
„Was ist los?“ Graum war von hinten herangekommen und starrte nun ebenfalls aus dem Fenster. „Irgendwas anderes als Schnee?“
„Ich weiß nicht“, antwortete ich. „Ich hätte schwören können, eine Gestalt zu sehen.“ Ich musste fortschauen, das Weiß, dieses blendende Schneegestöber stach in den Augen. „Aber ich habe mich wohl getäuscht.“
Ich ging zurück zu meinem Sessel. Flinsgaard kam mir entgegen, er roch nach Alkohol.
„Was meinst du, was da draußen los ist!“ Er hatte mit angehört, was ich Graum erzählt hatte. Seine Stimme klang schwer und er lallte ein wenig. „Es wird der Postbote gewesen sein, ich erwarte ein dringendes Paket.“ Damit lief er zur Tür und machte Anstalten, sie zu öffnen. „Das ist wieder ein Andrang heute, ich werde ihm öffnen, und dann ist aber genug. Soviel Besuch am Tag kann...“
„Halt den Mund, Flinsgaard!“, bellte Graum. „Du bist betrunken!“
Augenblicklich war Flinsgaard still und nahm die Hand von der Klinke.
„Geh in deine Kabine und versuch zu schlafen. Wenn du aufwachst, wird das Wetter besser sein.“
Als Flinsgaard ohne ein weiteres Wort den Raum verlassen hatte, sagte Graum zu mir: „Es wird Zeit, dass irgend etwas passiert, unsere Nerven liegen blank. Lange kann das so nicht weiter gehen.“
„Ich bin mir sicher, dass ich mich nicht getäuscht habe. Ich habe etwas gesehen da draußen, das weiß ich.“
Ich humpelte in meine Kabine und setzte mich an den Schreibtisch.
Die Station Bransfield – unsere Station – ist ausgelegt für maximal zehn Personen Besatzung. Eine sehr kleine, ziemlich teure Station und von Anfang an nur als Satellit der erheblich größeren Bellinghausen geplant und betrieben.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass wir mit drei Mann Besatzung über die Runden kommen mussten. Es besteht ja eine ständige Verbindung zum Basislager und alle lebensnotwendigen Sachen, die wir nicht besitzen, sind dort zu finden. Aber momentan ist eben jeglicher Kontakt abgerissen zu unserer Mutterstation und so harmlos wie Graum sie beschrieb, ist unsere Lage wahrlich nicht.
Ich schnallte mein Bein ab und machte mich fertig zum Schlafengehen. Es gibt viele Dinge, an die man sich in der Antarktis gewöhnen muss. Die Tag und Nacht Gleiche gehört in jedem Fall dazu. Wir hatten Polartag, der zugegebenermaßen nicht im Ansatz so nervend ist wie die Nacht, aber eben auch eine gewisse Umgewöhnung bedeutet. Sternegucken ist nicht, ewiges Licht, wie es scheint.
Mein Stumpf schmerzte. Das tut er meist bei Stress und Anspannung.
Tausende von Kilometern durch feindselige Eiswüsten gestapft, monatelange Aufenthalte in Regionen, die für den Menschen nicht geeignet scheinen, in frostklaren Nächten auf Nachschub gehofft – man sollte annehmen, der Mann kann Kriegsverletzungen vorweisen.
Doch stattdessen verlor ich meinen rechten Fuß und den Unterschenkel bei einem Verkehrsunfall in der gemäßigten mitteleuropäischen Klimazone. Ein Zusammenstoß mit einem – Bierwagen. Vielleicht hätte ich mich glücklich schätzen sollen, doch ich hatte den Verlust noch immer nicht verwunden. Dann und wann in einer ruhigen Stunde, in einer U-Boot-ähnlichen Situation wie hier, kommt die Verzweifelung. Ich sitze im Einsamen, reibe wie wild an dem Stumpf und konzentriere mich darauf, nicht an die Heimat zu denken und nicht zu weinen.
Meist misslingt mir beides und ich erwache mit feuchtem Gesicht und trüben Gedanken.
Flinsgaard ist eine Frohnatur. Zumindest am Morgen, wenn man als erwachsener Mensch etwas Ruhe benötigt, versteht er es, jedem mit seiner grinsend guten Laune auf den Sender zu gehen.
Der Sturm hatte keinen Deut nachgelassen und dementsprechend war die Stimmung von Graum. Ich für meinen Teil hatte eine grauenhaft depressive Nacht hinter mir und war mir sicher, für den Verlauf des Tages nicht ansprechbar zu sein.
„Flinsgaard! Halt die Klappe!“, schnarrte Graum beim Frühstück, nachdem der ununterbrochen geschnattert hatte. „Wenigstens für zwei Minuten, bitte!“
Beleidigtes Schweigen, das nur unterbrochen wurde vom Knirschen der Brötchen und dem Aufschlagen der Eier.
Graum hat ein Hobby, dem er bei voller Auslastung unserer Station kaum nachgehen kann. Jetzt hatte er Zeit dafür und setzte sich nach dem Frühstück, nachdem wir gemeinsam abgeräumt hatten, in sein Zimmer an seine Staffelei. Er malte. Ölbilder, aus der Fantasie heraus und immer farbige, sonnige Landschaften.
Ich setzte mich im Gemeinschaftsraum an den Tisch und versuchte weiter in meinem Tagebuch zu schreiben und Flinsgaard setzte sich, immer noch eingeschnappt ans Fenster und stierte hinaus.
Ich weiß noch, dass ich begriff, dass dies hier der erste wirklich schlimme Tag in unserem Zusammenleben sein würde.
Wir waren allein, Graum hatte nach einer Weile Arbeitens die Tür seiner Kabine geschlossen.
Trotzdem ich über mein Heft gebeugt saß, spürte ich, wie Flinsgaard sich umdrehte und mich beobachtete.
„Es wird noch lange dauern, nicht?“, fragte er plötzlich leise.
„Was?“
„Der Sturm, er ist noch lange nicht vorbei, nicht? Ihr habt euch gestern unterhalten, als ich in meinem Zimmer war und rauchte. Ihr habt das Thema gewechselt, als ich wieder kam.“
„Ich weiß nicht, möglich.“
„Der Alte hat jetzt schon schlechte Laune. Weiß Gott, wie das weiter geht.“
Er wandte sich wieder zum Fenster, doch ich starrte ihn nun meinerseits an. Flinsgaard in trüben Gedanken, das war ein schlechtes Zeichen.
Ich nahm eben meinen Stift, als er sich plötzlich wieder zu mir umdrehte und einen gurgelnden Laut von sich gab.
„Was ist?“, fragte ich. „Du bist so blass, als hättest du ein Gespenst...“
So schnell es meine Prothese zuließ war ich aufgesprungen und hinübergeeilt zu Flinsgaard, der stumm aus dem Fenster wies.
Dort stand sie – eine Gestalt, vielleicht zehn Meter entfernt von uns, umtost vom Schneesturm
Und vollkommen reglos. Ich vermeinte zu erkennen, dass es sich um einen Menschen handelte, eingepackt in dicke Sachen, vermummt bis an die Nasenspitze.
Doch Flinsgaard fragte: „Was ist das?“
Es klapperte hinter uns, wir drehten uns um und sahen Graum in der Tür. Langsam kam er auf uns zu, den Pinsel noch in der Hand.
Er sagte kein Wort, starrte nur an uns vorbei, während wir ihm mit den Blicken folgten.
„Was ist los“, fragte er nur.
„Der Mann dort“, stammelte ich und wies aus dem Fenster. „Ich habe ihn gestern schon gesehen.“
Doch dort war niemand mehr. Der Sturm hatte ihn verschluckt. Nur die wilde Flockenjagd war noch zu sehen.
„Welcher Mann?“
Flinsgaard überschlug sich fast: „Scheiße, eben war er noch da, Chef. Ehrlich, da hat einer gestanden, mitten in der Antarktis und hat herübergesehen. Als wenn er auf den Bus wartet.“
„Da ist niemand, Flinsgaard. Beruhige dich wieder.“
„Was glaubst du hast du gesehen, Benjamin?“
Die Situation hatte sich schneller entspannt als befürchtet. Graum war zurück in seine Kabine getrottet und wir beide, Flinsgaard und ich, hinterher. Nun stand Graum vor seiner Staffelei, mit dem Pinsel in der Hand und fragte uns aus.
Ich starrte auf den Elch vor finnischer Heimatkulisse auf der Leinwand und versuchte mich zu erinnern.
„Ein Mann stand da und starrte zu uns hinüber. Wie Gen schon gesagt hat. Hat nur dagestanden und gestarrt.“
„Wo soll hier ein Mann herkommen?“, knurrte Graum und tauchte den Pinsel in einen blauen Farbklecks auf seiner Palette. Er begann zu mischen und bekam ein blasses Blau heraus, das er für die zarte Gischt in einem See verwandte. „Das ist vollkommen ausgeschlossen! Was hast du gesehen, Gen?“
„Dasselbe wie Ben. Ein Mann, der mitten im Schnee stand und auf irgendwas gelauert hat.“
Die Gischt wurde immer heller, Graum arbeitete jetzt mit schneeweißer Farbe. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Schneegestöber draußen.
„War das derselbe Mann, den du gestern gesehen hast, Ben?“, fragte Graum, setzte einen letzten Klecks und drehte sich zu mir um.
Ich saß auf dem Stuhl neben der Eingangstür; in meiner Kabine steht dieser Stuhl auf der anderen Seite der Tür, doch ansonsten gleichen sich alle fünf Mannschaftszimmer der Bransfield.
„Es war derselbe. Er war zwar etwas schlechter zu erkennen als vorhin, aber ich denke schon, dass es derselbe war.“
„Er kann nicht die ganze Nacht draußen gewesen sein“, meinte Flinsgaard. „Das überlebt niemand, trotz Thermoanzug und Überlebensgepäck.“
„Niemand.“ Graum sah Flinsgaard an mit dem Pinsel in der Hand. „Niemand, da hast du Recht. Wenn es stimmt, was Ihr da sagt, dann treibt sich...jemand da draußen rum, der dann und wann vor unserer Station erscheint, die Nacht wer weiß wo verbringt und immer dann verschwindet, wenn ich ans Fenster trete.“
„Nein, nicht ganz“, sagte ich, stand vom Stuhl auf und ging hinüber zu der kleinen Luke, die nach draußen zeigte. „Dort ist er wieder.“
Flinsgaard eilte zu mir, aber er ließ Graum vorbei, der ans Fenster trat und aufstöhnte, als er die Figur draußen erblickte. „Das kann nicht wahr sein!“
Und während wir drei uns vor dem Fenster drängten, beschlug die Scheibe und die Gestalt stand reglos wie ehedem.
„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um jemanden von der Bellinghausen handelt?“, murmelte Graum.
„Das sind fast einhundertfünfzig Kilometer, Chef! Bei den Bedingungen?“
„Seit wann ist der Funkkontakt unterbrochen?“
„Fast vier Tage. Das schafft kein Mensch. Wenn das Wetter hervorragend ist, schafft man die Distanz vielleicht an einem Tag mit dem Motorschlitten. Die Amerikaner benutzen Hovercrafts, da sind sie fix drüben. Aber der Mann da hat nicht mal einen Hundeschlitten dabei, er ist zu Fuß.“
„Das stimmt“, sagte ich und wischte meinen Atem von der Scheibe. „Unmöglich, dass er von der Bellinghausen stammt. Sie hätten uns sofort unterrichtet, wenn sie einen Mann außer Plan zu uns schickten.“
„Wir sehen keinen Motorschlitten, Flinsgaard. Wir sehen keine Hilfsmittel. Das heißt nicht, dass er keine dabei hat. Er kann eine Notunterkunft zweihundert Meter von uns aufschlagen und wir sehen sie nicht.“
„Aber warum, Chef? Wozu das Ganze, das ist doch Wahnsinn.“
Ich drehte mich weg vom Fenster und flüsterte: „Ich komme mir vor wie eins der sieben Geißlein, die den Wolf draußen beobachten.“
„Er ist weg!“
Ich wandte mich wieder um. Nichts! Nur Schnee. Und dann an einer anderen, mindestens dreißig Meter entfernten Stelle, tauchte er wieder auf.
„Ist es derselbe?“
„Ich glaube. – Ja, sieht ganz danach aus.“
„Scheiße!“
„Was ist, Flinsgaard?“
„Der sieht aus wie Schleif von der Bellinghausen!“
Graum war es, der hinausging. Er meinte, es wäre sowieso Zeit für seinen täglichen Gang zum Bunker; er würde Schleif einladen, sich in unserer Station aufzuwärmen.
Flinsgaard und ich standen innen bereit und beobachteten die ganze Aktion. Ich auf Posten am Fenster und Flinsgaard in voller Montur, auf dem Sprung hinauszustürzen, sobald sich eine kleine Absonderlichkeit ergeben sollte. Für alle Fälle hielt er die Schrotflinte in der Hand, die wir, entgegen der Vorschriften, für den Notfall zu liegen hatten (welchen Notfall nur?!)
Doch sie wurde nicht gebraucht. Schleif ließ sich bereitwillig von Graum beim Arm packen und zur Eingangstür unserer Station führen.
Wir alle drei kannten Schleif. Er war Biologe, ziemlich bekannt und hatte recht gute Verbindungen zu den Medien, so dass er immer schon als potentieller Sponsoren-Geld-Beschaffer galt. Er war groß, und wenn man mit ihm sprach, ging von ihm die Würde eines Uhus aus. Teilweise lag das wohl daran, dass er fast jeden überragte, selbst Graum musste nach oben schauen, wenn er mit ihm sprach.
Und so stand Schleif in unserer Station und sah uns mit dunklen Augen von oben herab zu, wie wir ihn aus dem Anzug schälten. Er war vollkommen apathisch, kein Wort kam über seine Lippen.
„Was ist mit ihm?“, wollte Flinsgaard wissen.
„Er scheint sich in einer Art Dämmerzustand zu befinden.“ Graum hatte mit sich und seiner eigenen Ausrüstung zu tun. „Vielleicht eine Abwehrreaktion des Körpers. Er müsste schleunigst zu einem Arzt.“
„Der ist auf der Bellinghausen“, merkte ich an.
Wir quartierten Schleif einstweilen in eine freie Kabine ein. Graum versuchte, noch einmal mit ihm zu reden, doch er starrte nur vor sich hin. Nur dann und wann entfuhr ihm ein Stöhnen und eine Art Wimmern, das uns erschauern ließ.
Wir steckten ihn ins Bett und probierten, ihm Tee einzuflößen.
„Hat er Fieber?“, fragte ich Graum.
Der schüttelte mit dem Kopf und fuhr Flinsgaard an: „Was macht der Funkkontakt? Ich brauche in den nächsten Stunden Verbindung zur Bellinghausen. Es ist wichtig! Wenn Schleif vermisst wird, setzt man dort wahrscheinlich alles daran, ihn zu finden.“
„Die Lage hat sich kein bisschen geändert, Chef, ich kann nichts tun. Nur warten.“
Unser Gast begann derweil unruhig zu werden. Er rollte fiebrig mit dem Kopf hin und her und niemand schien es zu kümmern. Wir drei standen wie zweifelnde Ärzte um sein Bett herum, während der Patient siechte.
Er begann mit den Händen zu fuchteln und sich aufzurichten. Sofort ließ er sich wieder zurückfallen.
„Scheiße, was ist mit ihm?“, japste Flinsgaard.
„He, Schleif, können Sie mich hören?“ Graum beugte sich übers Bett. „Antworten Sie mir!“
Der war jetzt nicht zu halten, sein Körper zuckte wie wild, wurde hin- und hergeworfen und zudem von einem Hustenanfall geplagt. Graum packte ihn bei den Schultern und versuchte ihn niederzudrücken.
„Schleif! Schleif!“
Plötzlich schnellte Schleif, der ältere, bettlägerige Mann, nach vorn und stieß Graum mit voller Wucht von sich. Die Kraft, die er dabei aufbrachte, war enorm; Graum flog durch das ganze Zimmer und knallte gegen die Wand.
Schleif saß im Bett, stieß die Decke fort und machte sich daran, aufzustehen. Ich stellte mich ihm in den Weg, doch die Handbewegung, mit der er mich beiseite wischte, war im Ansatz kaum zu erkennen. Der Kerl strotzte vor Kraft.
Nachdem nun auch ich außer Gefecht gesetzt war, stand Schleif vor Flinsgaard. Eine Art elektrisch aufgeladene Stille lag plötzlich über allem. Der große Schleif blickte tief atmend auf Flinsgaard hinunter, während dieser nicht in der Lage war, sich zu bewegen. Doch er schlug ihn nicht.
Langsam beugte er sich zu dem zitternden Mann herab, packte seinen Kopf und presste die Lippen auf den Mund Flinsgaards. Er küsste ihn – das volle Programm!
Wir waren so überrascht, dass es uns nicht gelang, uns zu bewegen. Wir erstarrten, während Flinsgaard und Schleif umschlungen standen wie ein Liebespaar.
Mit einem seltsamen Laut trennte sich Schleif von seinem Gegenüber, Flinsgaard holte hörbar Luft und stöhnte auf. Er wurde von Schleif weggeschubst und begann zu jammern: „Oh Gott! Dieses Schwein, er hat mir einen Kuss gegeben.“
Polternd verließ Schleif die Kabine.
Graum rappelte sich auf und wir beide jagte hinterher, während Flinsgaard noch immer stöhnte: „Die Sau hat mich geküsst. Das Schwein bring’ ich um!“
In der Station war es still und Schleif nirgends zu sehen.
„Sei vorsichtig“, zischte Graum. „Er hat Bärenkräfte!“
Wir schlichen den Gang entlang an den anderen Kabinen vorbei und stießen leise eine Tür nach der anderen auf. Ich kam mir vor wie ein Indianer im Film. Gleichzeitig aber hatte ich tiefe Furcht.
Die Kabinen waren leer und auch anderswo war Schleif nicht zu finden. Es war Flinsgaard, als er sich halbwegs wieder beruhigt hatte, der bemerkte, dass die Außentüre offen stand. Wir liefen in den Vorraum – Flinsgaard vorneweg und draußen im eisigen Sturm vor der Tür, lag Schleif mit dem Gesicht im Schnee.
Flinsgaard schlüpfte hinaus und stürmte zu dem Bewusstlosen.
„Du Sau“, brüllte er. „Du blödes Schwein!“ Und dabei trat er dem Mann mit Kraft in die Seite. Immer wieder: „Du Sau, du Sau!“ und wie in Raserei trat er zu. Graum lief zu ihm und schrie ihn an: „Flinsgaard, lass das sein!“, doch der schien ihn nicht zu hören. Er trampelte immer weiter zu.
Da packte Graum ihn und hob ihn hoch und warf ihn in den Schnee. Dort blieb er einen Augenblick liegen, bevor er aufsprang und ohne sich umzudrehen in die Station stürzte.
„Er ist bewusstlos“, rief Graum mir zu, der sich schon über Schleif gebeugt hatte. „Komm, hilf mir!“
Der Wind zerrte an meinen Sachen, es war eisig. Wir hatten keine Schutzkleidung übergezogen und die Kälte wurde mir erst jetzt richtig bewusst. Wir trugen Schleif in die Station und legten ihn zurück in sein Bett. Er hatte die Augen geschlossen, der Atem ging flach, aber der Puls war halbwegs normal. Äußerliche Wunden von Flinsgaards Ausraster waren nicht zu sehen.
Graum zog ihm die Lider hoch. „So was habe ich noch nie erlebt“, sagte er. „Er war bärenstark, dabei hatte es den Anschein, als sei er völlig entkräftet gewesen.“
„Was ist passiert“, fragte ich vorsichtig.
Graum zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Wenn wir wüssten, was auf der Bellinghausen vorgefallen ist! Die letzte Unterhaltung mit denen ist mir noch im Ohr, die Andeutung, dass sie etwas gefunden hätten. Das lässt mir keine Ruhe!“
„Aber wir suchen nach Kleinstlebewesen in Lufteinschlüssen des Eises! Wie soll solch eine Forschung damit zusammenhängen, dass Schleif ausgerastet ist? Das kann nicht miteinander zusammenhängen.“
„Ich weiß es nicht. Der Mann war völlig daneben.“
„Aber Flinsgaard im Anschluss auch. Was ist nur in ihn gefahren, der hätte Schleif glatt umgebracht.“
„Flinsgaard macht mir wirklich Sorgen! Er ist dem Druck nicht mehr gewachsen. Es wird Zeit, dass er Urlaub bekommt und die ganze Sache hier hinter sich lässt.“
„Er ist nächsten Monat dran.“ Wir gingen leise aus dem Zimmer. Graum warf noch einen Blick zurück. „Ich glaube, das macht ihn zusätzlich fertig, dass er nicht weiß, ob er den Urlaub antreten kann.“
„Er ist nächsten Monat dran?“, murmelte Graum und ich wusste nicht, was an dieser Information wichtig und überlegenswert war.
Wir sahen Flinsgaard den ganzen Tag nicht mehr. Zunächst hielt er sich in seiner Kabine verkrochen, dann hörten wir ihn in unserer kleinen Funkkabine wirken. Offensichtlich hatte er ein schlechtes Gewissen.
Innen Ruhe und jetzt wieder Gleichmütigkeit, draußen dagegen noch immer das Chaos des Blizzards. Graum ging schließlich hinaus zum Bunker und brachte die aktuellen Messergebnisse. Wahrscheinlich um den Anschein von Normalität zu wahren.
Der Zustand von Schleif änderte sich nicht. Er kam nicht zu Bewusstsein, doch die anderen Körperfunktionen blieben halbwegs zufriedenstellend. Einzig gegen Abend (wenn wir von Abend sprechen wollen bei steter Helligkeit), begann seine Nase zu bluten. Ganz leicht und zunächst unbemerkt zog sich ein schmaler Blutsfaden über sein Wange. Mich machte dieser Anblick frösteln, warum auch immer.
Graum wertete stoisch die Ergebnisse aus, Flinsgaard kämpfte mit dem Funk und ich starrte aus dem Fenster. Wie eine Astrid-Lindgren-Figur sah ich hinaus und versuchte Gestalten zu erkennen, Rettungsfahrzeuge, Hilfsmannschaften.
Irgendwann gesellte sich Graum zu mir und wortlos hielten wir gemeinsam Wacht. Wir bemerkten beide, dass etwas geschehen war und wussten nicht woran. Wir sahen uns an und im nächsten Moment platzte Flinsgaard hinein und fing an zu plappern.
„Es hat geklappt! Es ist soweit, kommt nur, kommt! Ich habe Kontakt, Kontakt!“
Er lief voraus, wir ohne Zögern hinterher. In der Funkkabine hielt er Graum den Hörer hin.
Mit Einführung des Iridium-Systems ist das Funken bequem und im Normalfall kinderleicht geworden. Der Kontakt wird mittels Satelliten hergestellt und die Bedienung erfolgt mit Apparaten, ähnlich normaler Telefone.
Graum nahm den Hörer, hielt ihn ans Ohr und lauschte.
„Was ist?“, fragte er Flinsgaard verärgert. „Ich höre nichts.“
Ich sah es an seinen Augen – kein Kontakt! Der Funkkontakt zur Bellinghausen war wieder abgerissen.
Flinsgaard drückte wie wild Knöpfe und Schalter der Station, doch er brachte keine Verbindung zustande.
„Was haben sie gesagt?“, fragte Graum, doch Flinsgaard bearbeitete immer noch die Apparatur.
„Was haben die Leute von der Bellinghausen gesagt, Flinsgaard?“ Erst als Graum lauter wurde: „Flinsgaard, verdammt!“, fuhr er herum.
„Was?“
„Hast du mit ihnen gesprochen?“
„Kurz, Chef. Ich wollte gleich Bescheid sagen.“
„Was haben sie gesagt?“
„Die Verbindung war nicht gut. Ich habe ’neue Lebensform’ verstanden, ’aggressiv’ und ’Vorsicht’.“
„Verdammt! Du hättest dir mehr Informationen geben lassen sollen!“
Er drehte sich nachdenklich um und sagte im Hinausgehen: „Versuch es weiter, Gen!“
„Was denkst du, Ben?“, fragte Graum draußen.
„Ich denke, dass die Leute auf der Bellinghausen in ziemlichen Schwierigkeiten sind.“
„Nicht nur die Bellinghausen ist in Schwierigkeiten!“ Er blickte mich finster an. „Wir sind es auch.“
Und wieder die erzwungene Routine, niemand, der etwas der Situation entsprechendes tun konnte. Flinsgaard bastelte, Graum forschte, ich schaute aus dem Fenster und dachte nach.
Wenn die Bellinghausen eine ’neue Lebensform’ entdeckt hatte, worum handelte es sich? Hatte sie tatsächlich in den winzig kleinen Einschlüssen im jahrhundertealten Eis etwas gefunden, das man als Leben bezeichnen konnte? Wenn es die Wissenschaftler unserer Mutterstation als Leben bezeichneten, warum gaben sie ihm dazu den Namen ’neue’ Lebensform? Ich war mir nicht sicher, aber konnte es sein, dass Gen etwas missverstanden hatte? Die Verbindung war sicher schlecht gewesen und nicht alles zu verstehen.
Was für eine neue Lebensform könnte man hier auf Antarktika finden? Und was hatte sie mit unserer gegenwärtigen Lage zu tun?
Ich entdeckte, dass Schleif wieder fort war. Sein Bett war leer und die Tür zu seinem Zimmer stand offen.
Eine eilige und hektische Suche fand ihn im Vorraum auf dem Boden liegend. Er war tot. Es schien, als hätte er sich zum Sterben nach draußen ins wilde Freie schleppen wollen.
Wir trugen ihn stumm nach draußen, in den Geräteschuppen, gleich neben der Station. Der Weg dorthin war nicht schwerwiegend und die Temperatur, die hier herrschte, würde den Verwesungsprozess etwas verzögern.
Ich sah die ganze Zeit, in der ich seine Füße trug, das Gesicht von Schleif und damit die breite Blutspur, die sich unter seiner Nase gebildet hatte.
Flinsgaard arbeitete verbissen weiter an der Funkverbindung, selbst essen wollte er nicht.
So saßen Graum und ich allein am Tisch und nahmen unser Abendbrot ein. Die Vorräte gingen zur Neige, wir konnten nicht mehr schlemmen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte ich Graum, während dieser sich eine Zwiebel schälte. „Wir sind hier gefangen, haben eine Leiche, die nicht zu uns gehört und es ist abzusehen, wann uns die Vorräte ausgehen.“
„Wir warten, dass Flinsgaard den Kontakt zur Bellinghausen wieder hergestellt hat.“
„Wir werden uns einschränken müssen.“
„Der Sturm wird nicht mehr lange dauern. Ich denke heute Nacht, spätestens morgen Früh wird er sich legen. Dann wird die Bellinghausen in jedem Falle jemanden rüberschicken.“
„Was ist von der neuen Lebensform zu halten, die sie drüben entdeckt haben?“
Er antwortete nicht. Verbissen kämpfte er mit seiner Zwiebel. Als er es endlich geschafft hatte, sie zu teilen, sah er zu mir auf und sagte: „Er hat sich verhört.“
Damit aß er schweigend weiter und die Art, wie er das tat, ließ keine Diskussion zu.
Flinsgaard kam zu uns hinein und man sah ihm an, dass schon wieder etwas Schlimmes passiert war.
„Was ist los?“, fragte Graum.
„Ich habe die Verbindung wieder gekriegt.“
Wir sprangen beide auf. „Das ist doch mal was!“, rief Graum und wollte losstürmen. Doch Flinsgaard blieb stehen.
„Es ist vorbei, Chef“, sagte er traurig.
„Was sagst du, was ist vorbei? Bist du verrückt?“
„Die Nachricht, die ich heute Morgen aufgefangen habe, die Fragmente...“
„Ja?“
„Es ist eine Endlosschleife. Die Nachricht wiederholt sich immer wieder. Es sitzen keine Menschen an den Geräten auf der Bellinghausen.“
„Verdammt, ich hab es geahnt!“
Ein feiner Blutsfaden zog sich unter Flinsgaards Nase die Bahn. Graum sah es und auch ich, doch er selbst schien nichts davon zu bemerken.
„Gen, was ist mit dir?“ Graum versuchte so sanft zu sprechen wie möglich. „Was ist los?“
„Was soll los sein? Wir sitzen in der Scheiße, aber mächtig.“ Ohne drüber nachzudenken fuhr er sich mit dem Unterarm übers Gesicht und verwischte einen Großteil des Blutes. Sein Blick blieb am Handgelenk haften, das mit dem Blut besudelt war. Er bekam große Augen.
„Was zum Teufel...?“ Er sah zu uns auf und Graum hob beruhigend die Hände.
„Ganz ruhig, Gen. Ruhig nur und dann...“
„Was und dann? Was passiert, wenn ich ruhig werde, was geht hier vor?“
Der Schweiß rann ihm von der Stirn, er war rot im Gesicht, als hätte er eine große Anstrengung hinter sich. Er hyperventilierte.
„Geh in deine Kabine, Gen!“
„Warum?“
„Es ist zu deinem Besten. Geh, mach es uns nicht zu schwer.“
Ich konnte genau sehen, wie sein Widerstand, der ohnehin nicht stark war, brach. In dem Moment schlug er die Augen nieder und seine Gestalt sackte noch mehr zusammen.
„Es hat mit diesem verdammten Kuss zu tun, nicht wahr?“, murmelte er, während er sich umdrehte und auf sein Zimmer zuschlurfte. „Dieses Schwein, dieses Miststück! Ich hätte ihn töten sollen!“
Als die Tür seiner Kabine zuklappte, sprang Graum hinzu und verriegelte sie. Er schloss Gen einfach ein und sah mich danach triumphierend an.
„Was soll das?“, fragte ich.
Statt einer Antwort nahm er mich beim Arm und führte mich in die Gemeinschaftskabine, ließ mich Platz nehmen und machte uns beiden einen Kaffee.
„Gen geht es gut“, begann er, als er einschenkte. „Solange er in seinem Zimmer ausharrt, wird ihm nichts geschehen. Allerdings befürchte ich, dass das nicht lange so bleiben wird. Schleif hatte auch diese Bärenkräfte.“
Er nahm einen vorsichtigen Schluck; ich sah ihn erwartungsvoll an.
„Was liest du aus den Fakten, die sich uns bisher bieten?“, fragte er.
„Nicht viel“, antwortete ich. „Im Prinzip gar nichts. Schleif ist irgendwie von der Bellinghausen hierher gelangt und hat Gen geküsst. Was auf der Bellinghausen vor sich geht, können wir nur vermuten. Schleif ist gestorben, nachdem er Nasenbluten bekommen hatte und Flinsgaard leidet nun auch unter Nasenbluten.“
„Sehr gut. Du hast die Fakten aufgezählt, aber nicht interpretiert. Fein. Aber du hast zwei Fakten vergessen.“
„Ja?“
„Gen fährt als erster von uns auf Urlaub, und die neue Lebensform. Wir wissen nicht, um was es sich handelt, wir...“
„Wir können nicht einmal sicher sein, dass es sich um eine neue Form von Leben handelt.“
„Wegen der Unsicherheitsfaktoren habe ich Gen nicht getötet.“
Irgendwer hatte irgendwann einmal für den Gemeinschaftsraum eine altmodische Wanduhr besorgt, mit Pendel und Aufzugsmechanismus. Ihr Ticken war das einzige, was man hörte.
„Was heißt das?“ Meine Stimme drohte zu versagen.
„Das heißt, wenn Gen auch nur ansatzweise versuchen wird, einen von uns beiden zu küssen, werde ich ihn töten.“
„Das ist absurd! Das wäre Mord!“
„Diese Möglichkeit muss ich einkalkulieren. Einen Irrtum werde ich zu verantworten haben, aber ich kann es nicht zulassen, dass eine unbekannte Form des Lebens auf diese Weise in die Welt getragen wird. Ich kann es nicht zulassen.“
Wir saßen uns noch eine Weile gegenüber und starrten uns an. Was sollte ich tun? Hatte er Recht? Oder handelte es sich hier um einen Irrtum, der surrealer kaum sein konnte?
Er ist der Kommandant, und streng genommen nicht nur von der Bransfield, sondern auch von der Bellinghausen. Denn wir müssen davon ausgehen, dass auf der Mutterstation niemand mehr lebt.
Eben in dem Moment, in dem ich die Aufzeichnungen beendet habe, höre ich, wie Graum den Gang entlang kommt. Flinsgaard in seiner Kabine – in seiner Zelle – wird immer hysterischer. Seit Mitternacht etwa hämmert er gegen die Tür und brüllt unverständliches Zeug. Kaum eine Minute, da nicht Ruhe geherrscht hätte auf unserer Station. Es ist nervenzerrend.
Und über allem die Frage: Wann wird er soviel Kräfte besitzen, dass er herauskommt?
Graum hat seinen Armeerevolver ungesichert ständig dabei. Ich habe nicht gewusst, dass er so etwas besitzt! Die Schrotflinte hat er entladen und die Munition vernichtet. Er ist der einzige, der eine Waffe hat hier. Das macht mir Angst!
„Ben, Ben! Schau aus dem Fenster! Es hat aufgehört, es ist vorbei, der Sturm ist vorrüber!“
Graum. Er ruft über den Flur durch den Lärm, den Flinsgaard macht, hindurch. Ich sehe hinaus und erkenne, er hat Recht! Der Schneesturm hat sich gelegt, das Chaos ist vorbei. Die Sonne scheint auf den glitzernden Schnee, als wäre sie nie fort gewesen.
Graum tritt in mein Zimmer und packt mich bei den Schultern. Seit weiß ich wie viel Tagen lacht er das erste Mal über das ganze Gesicht. Und auch ich kann mich der Stimmung nicht entziehen, ich muss ebenfalls lachen.
Wir gehen gemeinsam zum Fenster und unser Lachen erstirbt. Kläglich dringen nur noch einige Krächzer aus den Kehlen. Was wir dort sehen, lässt das Grauen in uns hoch kriechen.
Der gesamte Horizont ist bevölkert mit vermummten Gestalten, die stoisch dastehen und sich nicht bewegen.