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Ekel
An Schlaf ist nicht zu denken. Vielleicht kann man gegen das Fieber anschreiben. Einen Versuch ist es wert. Es ist dreiundzwanzig Uhr vierundzwanzig fünfundzwanzig, das Fieberthermometer zeigt vierzig Komma drei Grad, im Mund. Ich sollte schlafen, die Augen schließen, doch ich habe Angst, Angst davor, nicht wieder aufzuwachen – was, wenn das Fieber steigt?
Als ich siebzehn war, rauchte ich wochenlang Gras aus einer Plastikbong, ich wartete, bis meine Mutter ins Bett ging, wartete dann noch länger, um wirklich sicher sein zu können, dass sie schlief. Es war zwei, drei Uhr morgens, nirgendwo brannte mehr Licht, als ich endlich meinen Kopf aus dem Dachfenster reckte, das Plastik verzog sich beim Erhitzen, schmolz und verhärtete sich und mein Kopf wurde leer.
Als ich achtzehn war, schlief ich wochenlang neben schwarzem Schimmel, der sich am undichten Fensterrahmen gebildet hatte, manchmal wischte ich das Kondenswasser und den Schimmel mit Küchenpapier auf und stellte mir dann vor, wie die aufgewirbelten Sporen durch den Raum schwebten und sich auf meine Lunge legten, sich mit dem Teer vom Tabak und dem geschmolzenen Plastik zu einer klebrigen Masse vermengten und der Gedanke hatte etwas Schönes, Schimmelsporen wie Glühwürmchen, wie Sternschnuppen, wie Schnee.
Als ich neunzehn war, täuschte ich beim Arzt Schmerzen vor, bis er mir die Tabletten verschrieb, von denen ich im Internet gelesen hatte, ich schluckte eine, dann zwei, später in der Nacht war der Blister leer und ich spürte, wie mein Atem flacher wurde, ich dachte noch darüber nach, ob ich jetzt etwas schreiben müsste, etwas hinterlassen sollte, ob sich das so gehörte, aber ich hatte nichts zu sagen, und so schlief ich ein und wachte lange nicht auf.
Ich erwache in einem anderen, einem geteilten Leben, und ekele mich vor mir selbst, wenn ich abends neben dir auf der Couch sitze. Die Hitze drückt gegen die Wände, ich ekele mich auch vor dir, doch dafür kannst du nichts, nur suche ich jetzt nach Gründen, dich zu hassen.
Ich rede mir ein, dass dein Lachen mich stört. Du lachst und ich schnaufe. Leise genug, um keine Nachfrage zu riskieren, für eine Aussprache bin ich zu feige, aber laut genug, dass du es hörst. Denn vielleicht gibt es doch einen Grund. Vielleicht ist dein Lachen das Lachen einer Schlange.
Ich ertrage mich nicht, es ist Mittag und ich verlasse die Wohnung und kurz denke ich, dass es so besser ist, dass ich mich so von mir selbst lösen kann, aber ich klebe an mir wie mein Schatten, klebe an mir wie mein Shirt, die Luft ist drückend, Glasfassaden, Industrie, ich sitze am Fluss und starre in die Wolken, die sich auf dem Wasser spiegeln, ich spüre mein Herz schlagen, spüre mich selbst und möchte mich loswerden.
Ein Mann geht vorbei. Mein Starren wird krankhaft. Er ist von der Sorte, die reden will, das weiß ich, mein Blick bohrt ein Loch in die Wasseroberfläche, reißt einen Strudel. Wenn er mich anspricht, muss ich antworten, muss meine eigene Stimme hören und ich weiß, dass ich sie nicht ertragen werde, ich halte mich sprungbereit.
Später sehe ich denselben Mann Beeren pflücken. Er trägt kein Shirt, hält einen Beutel in der Hand, nickt mir zu und lächelt. Daheim falle ich erschöpft ins Bett und wache lange nicht auf.
Es ist Mitternacht und pünktlich zum Glockenschlag schaffe ich es, ich weine. Ich habe nicht geweint, als mein Vater starb, ich habe oft darüber nachgedacht, was das über mich aussagt und manchmal denke ich immer noch darüber nach und komme doch zu keiner Lösung, doch als ich jetzt weine, ist es, als fließt der Ekel aus mir raus, ich muss nicht viel sagen, die Tränen sind Zeichen genug, aber sie sieht das anders, für sie ist es nicht nachvollziehbar, wie von einem auf den anderen Tag alles ins Wanken geraten kann, und später in der Nacht sagt sie ins Dunkel: Man kann nie in einen Menschen hineinblicken, das weiß ich jetzt.
Und jetzt ist sie weg und das Fieber hat mich im Klammergriff: Vierzig Komma sieben, ich bin unausstehlich, wenn ich alleine bin und überschwänglich, wenn ich Gesellschaft habe, ich finde kein Maß, ich will alles und will nichts. Wenn ich mich nach Nähe sehne, schwanke ich zwischen tiefer Zu- und noch tieferer Abneigung, ich bin mutlos und will mich niemandem zumuten und fasse einen Entschluss, ich schlage den Kalender auf und suche ein passendes Datum, ich rede mir ein, dass es eine bedeutungsvolle, eine poetische Zahlenfolge sein muss, dass alles andere Verschwendung wäre, ich male mir aus, wie sich bestimmte Zahlen auf dem Stein ausmachen würden, ich schreibe verschiedenste Konstellationen auf ein kariertes Blatt Papier, ich sterbe gedanklich im Frühling, Sommer, Herbst und im Winter, zwischen den Jahren, wenn alles still ist, kurz vor einem Gewitter in der elektrisch aufgeladenen Luft und auf dem Blatt ist schon lange kein Platz mehr, ich schreibe auf den Tisch, an die Wände, bis sich ein ganz bestimmtes Datum herauskristallisiert, ich schneide es mir in meine entzündete Hirnhaut, um es nicht zu vergessen.
Später liegen wir im nassgeschwitzten Bett und in unserem Kopf sprühen Farben und ich erzähle dir, was ich an dir mag: Dass du lachst wie ein Gauner, und du streichst über meinen Kopf und fährst mit den Fingerspitzen die Kerben in meiner entzündeten Hirnhaut nach und fragst, was das ist. Was dann ist, am soundsovielten, und ich sage: Nichts. Das war mal, aber ich kann mich kaum noch erinnern, will mich kaum noch erinnern, denn das kann man ja keinem erzählen, aber dann erzähle ich es dir doch, fühle mich sicher in der Dunkelheit. Erzähle dir von meiner Ex und dem Ekel, von dem Schimmel und dem Gras und den Tabletten und der Angst. Davon, dass ich mich immer ein bisschen fürchte vor den Menschen.
Ich erzähle dir von einer Situation aus meiner Jugend: Es war Winter, ich war betrunken. Ich legte mich auf die Straße und schlug nach den Armen, die an mir zerrten, ich wollte in Ruhe gelassen werden, ich wollte überfahren werden, ich sagte es auch, aber sie ließen mich nicht, und für den Rest der Weihnachtsferien stelle ich mich tot, malte mir aus, dass sie einen Ekel gegen mich entwickelt hätten, dass der Platz neben mir leer sein würde, wenn die Schule wieder losging, doch es war alles wie immer. An den Wochenenden gingen wir trinken. Aber von da an passte ich auf. Keiner sollte wissen, was in mir los ist.
Ich erzähle dir von einer Situation aus meiner Kindheit: Es war Winter, ich war einsam und es schneite. Ich legte mich in den Schnee und wollte sterben.
Und ich denke immer noch beinahe jeden Tag, dass ich besser dran tot wäre, jetzt, zwanzig Jahre später, aber wer will das hören, ich denke ja selbst: Werd erwachsen. Und ich will nicht erzählen, was du mir bedeutest, weil ich nicht will, dass du den Druck spürst, denn mit Druck kenne ich mich aus, und irgendwo in der Mittelstraße schreit einer: Ich steche dich ab und irgendwo fetzen sich zwei Katzen und irgendwo in einem anderen Leben liegst du nicht hier bei mir und dort hätte dieses Datum noch immer eine Bedeutung.
Ich habe Tabletten geschluckt, der Blister ist leer, das Fieber stagniert. Das grau werdende Haar klebt in feuchten Locken an meiner glänzenden Stirn, der Raum ist schwarz und doch sehe ich dich, Papa, wie du schemenhaft abwartend lauerst worauf? Das Fieber hat mich im Schwitzkasten und ich wähle den Notruf, am Ende der Leitung ist ein
Das Fieber sinkt. Jetzt verstecke ich mich vor dem, was ich verraten habe, radiere alles wieder aus. Streiche durch. Glaub mir kein Wort. Dem Fiebernden, nimm mich nicht ernst. Mach deine Witze, ich lache dann mit.