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Eltern
Vor zwei Jahren feierten wir den sechzigsten Geburtstag meines Bruders im Festsaal des Leichtathletikvereins, dem unsere gesamte Familie angehört. Klaus und seine Frau hatten außer der weitverzweigten Verwandtschaft, vor allem Freunde, ehemalige Sportkameraden, Kollegen und Schüler unserer Eltern aus allen Teilen des Landes zusammengetrommelt, denn die beiden sollten, ohne ihr Wissen natürlich, der eigentliche Mittelpunkt der Feier sein. »Ein großer Auftritt für Papa, ein kleinerer für Mama«, hatte mein Bruder gesagt, »hoffentlich nicht zum letzten Mal.« Hauptsache, es wirkt nicht arrangiert, dachte ich, doch Papa wird nicht auf die Idee kommen, da er Begegnungen und Austausch mit Menschen zeitlebens für selbstverständlich gehalten hat.
Mein Vater war mit siebenundachtzig Jahren noch immer eine imposante Erscheinung. Groß und hager, mit schlohweißem Haarschopf, saß er aufrecht, in dunkelblauem Anzug mit silbergrauer Krawatte, lächelnd und plaudernd am Kopfende der langen Tafel. Neben ihm unsere Mutter, klein und zart, im grünen Seidenkleid mit goldener Brosche. Sie war Grundschullehrerin gewesen, hatte vormittags stundenweise unterrichtet. Für Klaus und mich war sie immer zuerst unsere Mutter und Hausfrau gewesen. Papa nennt sie heute noch 'meine junge Dame', obwohl, oder weil sie nur vier Monate jünger ist als er.
Mama redete nicht viel, hörte den Gästen lieber aufmerksam zu, und nahm voller Freude herzliche, wertschätzende Worte entgegen. Sie hielt Hände und Blicke fest, zeigte sich entzückt von den Kindern der Jüngeren, ergänzte manche Anekdote und erinnerte Papa daran, ab und zu einen Schluck Wasser zu trinken.
Unser Vater war sein Leben lang Lehrer gewesen, bis zu seiner Pensionierung hatte er fünfundzwanzig Jahre lang das hiesige Gymnasium geleitet. Mich unterrichtete er nie, doch ich fand es immer peinlich, die Tochter des Direktors zu sein. Vielleicht war das ein Grund meiner pubertären Rebellion, die sich in löchrigen Jeans, hüftlangen Haaren und linker Orientierungssuche ausdrückte. Versuche, mit meinem Vater über Politik zu diskutieren, scheiterten in erster Linie am Überschwang meiner Emotionen, während mein Vater immer wieder die politische Entwicklung der Nachkriegszeit in allen Facetten beleuchtete, um mir ein differenziertes Bild zu vermitteln.Er sympathisierte mit der Studentenbewegung, warnte früh vor Gewalt und nannte mich einmal eine Sozialromantikerin. Damals war ich furchtbar wütend auf ihn, als er sagte: »Es reicht nicht, mit dem zusammengerollten 'Spiegel' unterm Arm rumzulaufen Christinchen, du solltest auch mal darin lesen!« Blödes Lehrergehabe, dachte ich und knallte die Tür zu.
Mein Bruder Klaus, ein Jahr jünger als ich, war das Gegenteil eines Hitzkopfes. Er interessierte sich schon als Kind für technische Dinge und Sport, damit war er Papa so viel näher als ich, ganz ohne Anstrengung. Mit Anfang dreißig hatte er ein eigenes Architekturbüro und plante mit Erfolg öffentliche Gebäude.
Papa unterrichtete Englisch, Französisch und Geschichte, doch seine Leidenschaft waren Handwerk, Technik und Leichtathletik. Er gewann mehrere Bezirksmeisterschaften, war sogar einmal deutscher Vizemeister, eine Wand seines Arbeitszimmers hing voller Urkunden. Ich fand das alles unsagbar öde, turnte aber aus Gewohnheit einmal pro Woche, während Mama sämtliche Vereinsfeste organisierte, Spenden eintrieb, aber nie aktiv am Sport teilnahm. Turnhallengeruch sei nichts für sie, sagte sie, lieber kümmere sie sich um das ganze Drumherum. Wenn ich an die Jahre des gemeinsamen Lebens dachte, schien es gestern gewesen zu sein.
Klaus hatte Mama bei den Vorbereitungen der Feier natürlich um Rat gebeten, was den Schmuck im Saal und die Anordnung der Tische beraf, und sie war vor Freude errötet. Aus verstaubten Kartons kramten wir blaue, weiße und rote Papiergirlanden, die niemand von uns freiwillig aufgehängt hätte, doch meine beiden Söhne und Klaus' Töchter fanden alles wunderbar 'retro', die drei Urenkel holten aus den Tiefen eines anderen Kartons versilberte Pappzahlen hervor. Sie stellten eine Sechzig mit Blumenranken an den Platz meines Bruders. Mama war entzückt, klatschte vor Freude in die Hände und fand den Saal sehr, sehr festlich. Ich hörte sie zu einer alten Dame sagen: »Solche Girlanden hatten wir schon zur Einweihung unseres Hauses um die Tür gehängt, sie sind zeitlos schön.« Papa nickte, er streichelte zärtlich Mamas Handrücken. Sie lächelten sich an. Unsere Eltern waren seit vierundsechzig Jahren verliebt ineinander, wir haben sie nie anders erlebt. Als Papa noch arbeitete, küssten sie sich jeden Morgen, bevor er das Haus verließ. Mama winkte ihm bis zur Ecke nach und ging jeden Tag nach ihm aus dem Haus.
Papa vergaß nie, Mamas Kochkünste zu loben und sich für das gute Essen zu bedanken. Mama fragte im Gegenzug nach seinen Erlebnissen in der Schule, und hörte sich selbst langatmige Konferenzschilderungen mit Interesse an. Die Liebe unserer Eltern zueinander, ihre verlässlichen Rituale, waren für meinen Bruder und mich eine wunderbar leichte, sichere Hängematte. Ihre zärtlichen Gesten, ihr Vertrauen zueinander in schwierigen Situationen, all das gab uns selbstverständliche Sicherheit, die auch durch Pubertäts- oder Lebenskrisen nie erschüttert wurde.
Ich wechselte mehrmals die Studienfächer, bevor ich wusste, dass ich Musik studieren wollte. Mein Vater war nicht begeistert, doch er unterstützte mich und kam mit Mama zu den Konzerten der Philharmoniker. »Da spielt Christine nämlich immer die erste Geige«, war sein Gag über viele Jahre. Als mein Mann vor zehn Jahren starb, waren es meine Eltern, zu denen ich flüchtete, und die mich, mit Liebe und einem frisch bezogenen Bett in meinem alten Zimmer, tagelang beherbergten.
Jetzt waren sie umringt von Menschen, jungen und alten, schüttelten Hände und nahmen kleine Geschenke entgegen, ich war unglaublich stolz auf sie.
Mein Ältester trat neben mich. »Oma und Opa stehlen Onkel Klaus die Schau, meinst du nicht auch? Guck dir bloß an, wie sie Hof halten! Oma hat auch einen beachtlichen Fanclub, wer hätte das gedacht?« Er lachte. »Ich hole den beiden jetzt etwas zu essen, dann wollen sie nach Hause gefahren werden. Mach ich gerne.«
Sechs Monate später stürzte meine Mutter in der Küche. Sie war auf Fettspritzern ausgerutscht. »Die sind aus der Pfanne gehüpft«, sagte sie unglücklich, »ich habe es wohl zu heiß werden lassen.« Sie brach sich den Fußknöchel und konnte mehrere Wochen nicht laufen. Noch maß ich dem Geschehen keine große Bedeutung bei. Die Putzfrau kam jetzt zweimal pro Woche und ich erledigte den Wocheneinkauf wie gewohnt an jedem Donnerstag. Wenn ich mit den Philharmonikern unterwegs war, sprangen die Enkelinnen ein. Mama bekam das Herumsitzen und Versorgtwerden überhaupt nicht. Papa ging ihr auf die Nerven, wie sie mir anvertraute. »Andauernd will er etwas für mich tun, fragt nach meinen Wünschen. Herrjeh, was soll ich mir denn wünschen? Wenn ich wieder laufen kann, fahren wir ins Zillertal, zum Skilaufen.« Hatte ich mich verhört? Kühle breitete sich in meinem Magen aus. »Ins Zillertal?«, fragte ich nach. Mama nickte. »Ja sicher, da fahren wir doch jedes Jahr hin.« Meine Eltern sind seit fast dreißig Jahren nicht mehr im Zillertal gewesen.
Abends rief ich meinen Bruder an. Klaus schwieg einen Moment, dann holte er seine Frau ans Telefon. »Ich habe schon vor Wochen gemerkt, dass mit Mama etwas nicht stimmt«, sagte meine Schwägerin, »da hat sie mich immer Christine genannt und hinterher so getan, als sei sie nur zerstreut, aber es ist mehrmals passiert.« »Was sagt Papa dazu?« Ich traute mich kaum, diese Frage zu stellen. Jetzt antwortete Klaus. »Er ist unwirsch, will das nicht hören.« Nach einer Pause. »Mehr ist ja auch noch nicht passiert. Wir sollten uns mal mit ihnen über einen Umbau im Bad unterhalten. Eine ebenerdige Dusche, schön groß, was meinst du?« Wir hatten beide Angst davor, dass Mama noch einmal stürzen könnte, mit schlimmeren Folgen als jetzt. Noch größere Angst hatten wir vor dem Wort 'Demenz', deshalb sprachen wir es auch nicht aus.
Klaus brachte eine Zeichnung des neuen Badezimmers mit, wir erklärten den Eltern die Vorteile, beide hörten höflich zu, bevor sie freundlich ablehnten. Papa konnte seine Entrüstung nur schwer verbergen. »Wir melden uns schon, wenn wir eure Hilfe brauchen«, sagte er und kniff die Lippen zusammen, »doch noch kommen wir prima mit der Badewanne klar, nicht wahr, meine junge Dame?« Er legte den Arm um Mama und sie nickte zustimmend. »Ein Wannenbad ist so wunderbar«, sagte sie.
Der Heilungsprozess war langwierig. Unsere Kinder fuhren Mama abwechselnd zur Physiotherapie, meine Schwägerin und ich halfen bei der Körperpflege, kochten im Wechsel und verwahrten eingefrorenes Essen in der Tiefkühltruhe. Die Truhe war vereist und fast leer.
Nach etlichen Wochen konnte Mama mit einem Stock halbwegs laufen, den Gebrauch eines Rollators lehnte sie vehement ab. »Mit Papa kann ich alles wieder trainieren«, sagte sie, »wir machen kleine Spaziergänge, auf die Berge klettern wir noch nicht.« Wir nickten, tauschten vielsagende Blicke, streichelten ihre Wange, gaben ihr kleine Küsschen... und schwiegen. Tatsächlich machten unsere Eltern jeden Tag ein paar Schritte an der Luft, wie Papa sagte, dabei hielt er Mamas Arm fest und trippelte neben ihr her, während sie den Stock ab und zu in den Boden rammte, ihn ansonsten aber fahrige Schnörkel in der Luft vollführen ließ.
Mama bestand darauf, endlich wieder zu kochen. Mit dem Stock humpelte sie in die Küche und fand sich nicht mehr zurecht. »Karl, wo soll ich bloß den Stock hinstellen?«, fragte sie Papa und blieb suchend in der Tür stehen. Papa ließ sie nicht mehr aus den Augen. Er nahm den Stock, lehnte ihn an die Wand und führte Mama zum Herd.
»Sie hat mich gefragt, ob der Herd neu ist und wer ihn gekauft hat«, erzählte Papa mir abends am Telefon. Seine Stimme war belegt, er brachte die Worte nur schwer heraus.
»Und dann sagte sie, sie sei plötzlich so müde und wollte von mir ins Bett gebracht werden.« Ich hielt die Luft an, wünschte mir Klaus an meine Seite, doch Papa hatte nicht ihn angerufen, sondern mich. Bevor ich Worte finden konnte, sagte Papa:«Ich habe Angst, Christinchen.« Seine Stimme versagte, Papa weinte.
Der Zustand unserer Mutter verschlechterte sich zusehends. Sie konnte bald ihre Enkelkinder nicht mehr auseinanderhalten, die Urenkel fand sie 'ganz reizend'. Wem gehören sie denn?, lautete ihre Frage. Papa wurde noch dünner, fühlte sich mittags schon erschöpft und schlief abends neben Mama auf der Couch ein.
Ich stand vor meiner letzten Konzertreise, danach ging ich in Pension. Klaus, seine Frau, unsere Kinder und Enkel betreuten und bekochten unsere Eltern, doch als ich wieder zuhause war, signalisierten alle Kinder, dass es für sie nicht so weitergehen könne.
»Oma ist dement und Opa schafft das nicht mehr«, sagte mein jüngerer Sohn eines Abends, als wir uns alle bei Klaus versammelt hatten. »Außerdem müffeln sie beide«, ergänzte meine Nichte nüchtern. Klaus sah mich an, er zog die Schultern hoch. »Was machen wir, Christine?« Meine Enkelin sah mich angstvoll an. »Aber ihr steckt sie nicht in ein Heim, oder?« Ihr Vater nahm ihre Hand. »Wir überlegen, was wir tun können, versprochen.«
Meine Schwägerin schlug vor, endlich einen Pflegedienst zu kontaktieren und über Essen auf Rädern nachzudenken. Mein Bruder setzte durch, dass eine kleine, ebenerdige Dusche zusätzlich zur Wanne eingebaut wurde, Papa leistete keinen Widerstand mehr.
Jetzt duscht der Pflegedienst Mama zweimal in der Woche, sie findet, dies sei ein feines Hotel und zeigt außer einer ängstlichen Verwirrung nur ausgesuchte Höflichkeit den Fremden gegenüber. Papa arrangiert das gelieferte Essen täglich auf dem guten Porzellan, legt Servietten neben die Teller und führt Mama zu Tisch. »Guten Appetit, mein junge Dame«, sagt er und Mama fragt ihn, ob er vielleicht ihren Mann Karl kennen würde. Dann erzählt Papa eine lustige Anekdote von Karl, und Mama trägt ihm herzliche Grüße auf.
Meine Eltern sind fast neunzig Jahre alt und in ihrem Haus so gut versorgt wie es möglich ist. Mama erkennt das Haus nicht mehr, sie verläuft sich und bestaunt die Zimmer wie eine Fremde, doch wir hoffen, dass sie trotzdem so etwas wie Sicherheit empfindet, durch Papa und uns, ihre Familie. Wir wissen es aber nicht.
Wir alle besuchen Papa und Mama häufig, bringen Kuchen mit, trinken Kaffee mit ihnen und spüren, wie sehr Papa sich über Ansprache und Abwechslung freut. Ich schaue jeden Tag bei ihnen vorbei, so auch heute.
Sie sind nicht im Wohnzimmer, nicht in der Küche, ich höre Lachen aus dem Badezimmer. Leise schleiche ich zur Tür und öffne sie einen Spalt.
Meine Mama, zart und klein, verschwindet fast im Badeschaum. Ich sehe ihre faltigen Brüste, die feine Zeichnung ihres Schlüsselbeins und betrachte ihr seliges Lächeln, während Papa auf dem Toilettendeckel sitzt und ihren Rücken mit dem riesigen Badeschwamm zärtlich betupft.
»Das machen Sie aber schön«, seufzt Mama mit geschlossenen Augen. »Singen Sie auch noch einmal die 'Caprifischer', bitte?«
»Aber natürlich, meine junge Dame«, sagt Papa und drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel.
Dann versinkt die rote Sonne bei Capri im Meer.