Was ist neu

Eltern

Mitglied
Beitritt
04.04.2008
Beiträge
443
Zuletzt bearbeitet:

Eltern

Vor zwei Jahren feierten wir den sechzigsten Geburtstag meines Bruders im Festsaal des Leichtathletikvereins, dem unsere gesamte Familie angehört. Klaus und seine Frau hatten außer der weitverzweigten Verwandtschaft, vor allem Freunde, ehemalige Sportkameraden, Kollegen und Schüler unserer Eltern aus allen Teilen des Landes zusammengetrommelt, denn die beiden sollten, ohne ihr Wissen natürlich, der eigentliche Mittelpunkt der Feier sein. »Ein großer Auftritt für Papa, ein kleinerer für Mama«, hatte mein Bruder gesagt, »hoffentlich nicht zum letzten Mal.« Hauptsache, es wirkt nicht arrangiert, dachte ich, doch Papa wird nicht auf die Idee kommen, da er Begegnungen und Austausch mit Menschen zeitlebens für selbstverständlich gehalten hat.
Mein Vater war mit siebenundachtzig Jahren noch immer eine imposante Erscheinung. Groß und hager, mit schlohweißem Haarschopf, saß er aufrecht, in dunkelblauem Anzug mit silbergrauer Krawatte, lächelnd und plaudernd am Kopfende der langen Tafel. Neben ihm unsere Mutter, klein und zart, im grünen Seidenkleid mit goldener Brosche. Sie war Grundschullehrerin gewesen, hatte vormittags stundenweise unterrichtet. Für Klaus und mich war sie immer zuerst unsere Mutter und Hausfrau gewesen. Papa nennt sie heute noch 'meine junge Dame', obwohl, oder weil sie nur vier Monate jünger ist als er.
Mama redete nicht viel, hörte den Gästen lieber aufmerksam zu, und nahm voller Freude herzliche, wertschätzende Worte entgegen. Sie hielt Hände und Blicke fest, zeigte sich entzückt von den Kindern der Jüngeren, ergänzte manche Anekdote und erinnerte Papa daran, ab und zu einen Schluck Wasser zu trinken.


Unser Vater war sein Leben lang Lehrer gewesen, bis zu seiner Pensionierung hatte er fünfundzwanzig Jahre lang das hiesige Gymnasium geleitet. Mich unterrichtete er nie, doch ich fand es immer peinlich, die Tochter des Direktors zu sein. Vielleicht war das ein Grund meiner pubertären Rebellion, die sich in löchrigen Jeans, hüftlangen Haaren und linker Orientierungssuche ausdrückte. Versuche, mit meinem Vater über Politik zu diskutieren, scheiterten in erster Linie am Überschwang meiner Emotionen, während mein Vater immer wieder die politische Entwicklung der Nachkriegszeit in allen Facetten beleuchtete, um mir ein differenziertes Bild zu vermitteln.Er sympathisierte mit der Studentenbewegung, warnte früh vor Gewalt und nannte mich einmal eine Sozialromantikerin. Damals war ich furchtbar wütend auf ihn, als er sagte: »Es reicht nicht, mit dem zusammengerollten 'Spiegel' unterm Arm rumzulaufen Christinchen, du solltest auch mal darin lesen!« Blödes Lehrergehabe, dachte ich und knallte die Tür zu.
Mein Bruder Klaus, ein Jahr jünger als ich, war das Gegenteil eines Hitzkopfes. Er interessierte sich schon als Kind für technische Dinge und Sport, damit war er Papa so viel näher als ich, ganz ohne Anstrengung. Mit Anfang dreißig hatte er ein eigenes Architekturbüro und plante mit Erfolg öffentliche Gebäude.
Papa unterrichtete Englisch, Französisch und Geschichte, doch seine Leidenschaft waren Handwerk, Technik und Leichtathletik. Er gewann mehrere Bezirksmeisterschaften, war sogar einmal deutscher Vizemeister, eine Wand seines Arbeitszimmers hing voller Urkunden. Ich fand das alles unsagbar öde, turnte aber aus Gewohnheit einmal pro Woche, während Mama sämtliche Vereinsfeste organisierte, Spenden eintrieb, aber nie aktiv am Sport teilnahm. Turnhallengeruch sei nichts für sie, sagte sie, lieber kümmere sie sich um das ganze Drumherum. Wenn ich an die Jahre des gemeinsamen Lebens dachte, schien es gestern gewesen zu sein.


Klaus hatte Mama bei den Vorbereitungen der Feier natürlich um Rat gebeten, was den Schmuck im Saal und die Anordnung der Tische beraf, und sie war vor Freude errötet. Aus verstaubten Kartons kramten wir blaue, weiße und rote Papiergirlanden, die niemand von uns freiwillig aufgehängt hätte, doch meine beiden Söhne und Klaus' Töchter fanden alles wunderbar 'retro', die drei Urenkel holten aus den Tiefen eines anderen Kartons versilberte Pappzahlen hervor. Sie stellten eine Sechzig mit Blumenranken an den Platz meines Bruders. Mama war entzückt, klatschte vor Freude in die Hände und fand den Saal sehr, sehr festlich. Ich hörte sie zu einer alten Dame sagen: »Solche Girlanden hatten wir schon zur Einweihung unseres Hauses um die Tür gehängt, sie sind zeitlos schön.« Papa nickte, er streichelte zärtlich Mamas Handrücken. Sie lächelten sich an. Unsere Eltern waren seit vierundsechzig Jahren verliebt ineinander, wir haben sie nie anders erlebt. Als Papa noch arbeitete, küssten sie sich jeden Morgen, bevor er das Haus verließ. Mama winkte ihm bis zur Ecke nach und ging jeden Tag nach ihm aus dem Haus.
Papa vergaß nie, Mamas Kochkünste zu loben und sich für das gute Essen zu bedanken. Mama fragte im Gegenzug nach seinen Erlebnissen in der Schule, und hörte sich selbst langatmige Konferenzschilderungen mit Interesse an. Die Liebe unserer Eltern zueinander, ihre verlässlichen Rituale, waren für meinen Bruder und mich eine wunderbar leichte, sichere Hängematte. Ihre zärtlichen Gesten, ihr Vertrauen zueinander in schwierigen Situationen, all das gab uns selbstverständliche Sicherheit, die auch durch Pubertäts- oder Lebenskrisen nie erschüttert wurde.
Ich wechselte mehrmals die Studienfächer, bevor ich wusste, dass ich Musik studieren wollte. Mein Vater war nicht begeistert, doch er unterstützte mich und kam mit Mama zu den Konzerten der Philharmoniker. »Da spielt Christine nämlich immer die erste Geige«, war sein Gag über viele Jahre. Als mein Mann vor zehn Jahren starb, waren es meine Eltern, zu denen ich flüchtete, und die mich, mit Liebe und einem frisch bezogenen Bett in meinem alten Zimmer, tagelang beherbergten.
Jetzt waren sie umringt von Menschen, jungen und alten, schüttelten Hände und nahmen kleine Geschenke entgegen, ich war unglaublich stolz auf sie.
Mein Ältester trat neben mich. »Oma und Opa stehlen Onkel Klaus die Schau, meinst du nicht auch? Guck dir bloß an, wie sie Hof halten! Oma hat auch einen beachtlichen Fanclub, wer hätte das gedacht?« Er lachte. »Ich hole den beiden jetzt etwas zu essen, dann wollen sie nach Hause gefahren werden. Mach ich gerne.«


Sechs Monate später stürzte meine Mutter in der Küche. Sie war auf Fettspritzern ausgerutscht. »Die sind aus der Pfanne gehüpft«, sagte sie unglücklich, »ich habe es wohl zu heiß werden lassen.« Sie brach sich den Fußknöchel und konnte mehrere Wochen nicht laufen. Noch maß ich dem Geschehen keine große Bedeutung bei. Die Putzfrau kam jetzt zweimal pro Woche und ich erledigte den Wocheneinkauf wie gewohnt an jedem Donnerstag. Wenn ich mit den Philharmonikern unterwegs war, sprangen die Enkelinnen ein. Mama bekam das Herumsitzen und Versorgtwerden überhaupt nicht. Papa ging ihr auf die Nerven, wie sie mir anvertraute. »Andauernd will er etwas für mich tun, fragt nach meinen Wünschen. Herrjeh, was soll ich mir denn wünschen? Wenn ich wieder laufen kann, fahren wir ins Zillertal, zum Skilaufen.« Hatte ich mich verhört? Kühle breitete sich in meinem Magen aus. »Ins Zillertal?«, fragte ich nach. Mama nickte. »Ja sicher, da fahren wir doch jedes Jahr hin.« Meine Eltern sind seit fast dreißig Jahren nicht mehr im Zillertal gewesen.
Abends rief ich meinen Bruder an. Klaus schwieg einen Moment, dann holte er seine Frau ans Telefon. »Ich habe schon vor Wochen gemerkt, dass mit Mama etwas nicht stimmt«, sagte meine Schwägerin, »da hat sie mich immer Christine genannt und hinterher so getan, als sei sie nur zerstreut, aber es ist mehrmals passiert.« »Was sagt Papa dazu?« Ich traute mich kaum, diese Frage zu stellen. Jetzt antwortete Klaus. »Er ist unwirsch, will das nicht hören.« Nach einer Pause. »Mehr ist ja auch noch nicht passiert. Wir sollten uns mal mit ihnen über einen Umbau im Bad unterhalten. Eine ebenerdige Dusche, schön groß, was meinst du?« Wir hatten beide Angst davor, dass Mama noch einmal stürzen könnte, mit schlimmeren Folgen als jetzt. Noch größere Angst hatten wir vor dem Wort 'Demenz', deshalb sprachen wir es auch nicht aus.
Klaus brachte eine Zeichnung des neuen Badezimmers mit, wir erklärten den Eltern die Vorteile, beide hörten höflich zu, bevor sie freundlich ablehnten. Papa konnte seine Entrüstung nur schwer verbergen. »Wir melden uns schon, wenn wir eure Hilfe brauchen«, sagte er und kniff die Lippen zusammen, »doch noch kommen wir prima mit der Badewanne klar, nicht wahr, meine junge Dame?« Er legte den Arm um Mama und sie nickte zustimmend. »Ein Wannenbad ist so wunderbar«, sagte sie.


Der Heilungsprozess war langwierig. Unsere Kinder fuhren Mama abwechselnd zur Physiotherapie, meine Schwägerin und ich halfen bei der Körperpflege, kochten im Wechsel und verwahrten eingefrorenes Essen in der Tiefkühltruhe. Die Truhe war vereist und fast leer.
Nach etlichen Wochen konnte Mama mit einem Stock halbwegs laufen, den Gebrauch eines Rollators lehnte sie vehement ab. »Mit Papa kann ich alles wieder trainieren«, sagte sie, »wir machen kleine Spaziergänge, auf die Berge klettern wir noch nicht.« Wir nickten, tauschten vielsagende Blicke, streichelten ihre Wange, gaben ihr kleine Küsschen... und schwiegen. Tatsächlich machten unsere Eltern jeden Tag ein paar Schritte an der Luft, wie Papa sagte, dabei hielt er Mamas Arm fest und trippelte neben ihr her, während sie den Stock ab und zu in den Boden rammte, ihn ansonsten aber fahrige Schnörkel in der Luft vollführen ließ.
Mama bestand darauf, endlich wieder zu kochen. Mit dem Stock humpelte sie in die Küche und fand sich nicht mehr zurecht. »Karl, wo soll ich bloß den Stock hinstellen?«, fragte sie Papa und blieb suchend in der Tür stehen. Papa ließ sie nicht mehr aus den Augen. Er nahm den Stock, lehnte ihn an die Wand und führte Mama zum Herd.


»Sie hat mich gefragt, ob der Herd neu ist und wer ihn gekauft hat«, erzählte Papa mir abends am Telefon. Seine Stimme war belegt, er brachte die Worte nur schwer heraus.
»Und dann sagte sie, sie sei plötzlich so müde und wollte von mir ins Bett gebracht werden.« Ich hielt die Luft an, wünschte mir Klaus an meine Seite, doch Papa hatte nicht ihn angerufen, sondern mich. Bevor ich Worte finden konnte, sagte Papa:«Ich habe Angst, Christinchen.« Seine Stimme versagte, Papa weinte.
Der Zustand unserer Mutter verschlechterte sich zusehends. Sie konnte bald ihre Enkelkinder nicht mehr auseinanderhalten, die Urenkel fand sie 'ganz reizend'. Wem gehören sie denn?, lautete ihre Frage. Papa wurde noch dünner, fühlte sich mittags schon erschöpft und schlief abends neben Mama auf der Couch ein.
Ich stand vor meiner letzten Konzertreise, danach ging ich in Pension. Klaus, seine Frau, unsere Kinder und Enkel betreuten und bekochten unsere Eltern, doch als ich wieder zuhause war, signalisierten alle Kinder, dass es für sie nicht so weitergehen könne.
»Oma ist dement und Opa schafft das nicht mehr«, sagte mein jüngerer Sohn eines Abends, als wir uns alle bei Klaus versammelt hatten. »Außerdem müffeln sie beide«, ergänzte meine Nichte nüchtern. Klaus sah mich an, er zog die Schultern hoch. »Was machen wir, Christine?« Meine Enkelin sah mich angstvoll an. »Aber ihr steckt sie nicht in ein Heim, oder?« Ihr Vater nahm ihre Hand. »Wir überlegen, was wir tun können, versprochen.«
Meine Schwägerin schlug vor, endlich einen Pflegedienst zu kontaktieren und über Essen auf Rädern nachzudenken. Mein Bruder setzte durch, dass eine kleine, ebenerdige Dusche zusätzlich zur Wanne eingebaut wurde, Papa leistete keinen Widerstand mehr.


Jetzt duscht der Pflegedienst Mama zweimal in der Woche, sie findet, dies sei ein feines Hotel und zeigt außer einer ängstlichen Verwirrung nur ausgesuchte Höflichkeit den Fremden gegenüber. Papa arrangiert das gelieferte Essen täglich auf dem guten Porzellan, legt Servietten neben die Teller und führt Mama zu Tisch. »Guten Appetit, mein junge Dame«, sagt er und Mama fragt ihn, ob er vielleicht ihren Mann Karl kennen würde. Dann erzählt Papa eine lustige Anekdote von Karl, und Mama trägt ihm herzliche Grüße auf.
Meine Eltern sind fast neunzig Jahre alt und in ihrem Haus so gut versorgt wie es möglich ist. Mama erkennt das Haus nicht mehr, sie verläuft sich und bestaunt die Zimmer wie eine Fremde, doch wir hoffen, dass sie trotzdem so etwas wie Sicherheit empfindet, durch Papa und uns, ihre Familie. Wir wissen es aber nicht.
Wir alle besuchen Papa und Mama häufig, bringen Kuchen mit, trinken Kaffee mit ihnen und spüren, wie sehr Papa sich über Ansprache und Abwechslung freut. Ich schaue jeden Tag bei ihnen vorbei, so auch heute.
Sie sind nicht im Wohnzimmer, nicht in der Küche, ich höre Lachen aus dem Badezimmer. Leise schleiche ich zur Tür und öffne sie einen Spalt.
Meine Mama, zart und klein, verschwindet fast im Badeschaum. Ich sehe ihre faltigen Brüste, die feine Zeichnung ihres Schlüsselbeins und betrachte ihr seliges Lächeln, während Papa auf dem Toilettendeckel sitzt und ihren Rücken mit dem riesigen Badeschwamm zärtlich betupft.
»Das machen Sie aber schön«, seufzt Mama mit geschlossenen Augen. »Singen Sie auch noch einmal die 'Caprifischer', bitte?«
»Aber natürlich, meine junge Dame«, sagt Papa und drückt ihr einen Kuss auf den Scheitel.
Dann versinkt die rote Sonne bei Capri im Meer.


 

Hallo @Jutta Ouwens

Was für eine sensible, liebevolle und traurige Geschichte! Und sehr nah am Leben, also finde ich.
Ich möchte mich bloss zum Inhalt äussern, denn Fehler suchen muss ich bei Dir nicht. Einen einzigen Satz habe ich nicht richtig verstanden:

zeigte sich entzückt von den Kindern der Jüngeren,
Ich weiss nicht, welche "Jüngere" Du meinst, aber das ist wirklich ein sehr kleines Detail.

Ich bin beeindruckt von dieser Familie, in der alle so wertschätzend miteinander umgehen. Vermutlich weil die Eltern als gutes Beispiel vorausgingen. Überhaupt diese Verbundenheit der Eltern über Jahrzehnte ist nicht selbstverständlich.
Auch den körperlichen Abbau und die beginnende Demenz hast Du sehr gut beschrieben.
Den Schluss finde ich sehr gelungen und ja, ich muss zugeben, ich hatte wieder Tränen in den Augen.

Eine wunderschöne, unaufgeregte Geschichte, die für mich vor allem von der Liebe handelt.
Mich hast Du erreicht mit dieser Erzählung.

Viele Grüsse
Aida Selina

 

Hallo Aida-Selina.
Wie schön, so einen erfreulichen Kommentar gleich zu Beginn zu bekommen, vielen Dank. Momentan bin ich mit diesem Thema ziemlich beschäftigt, auf unterschiedlichen Ebenen.
Und ja, es geht am Ende hoffentlich um Liebe, zumindest in der Geschichte!
Die Jüngeren sind die Eltern, die die Mutter selbst vielleicht nur als Kinder kannte.
Viele Grüße,
Jutta

 

Hallo Jutta Ouwens,

gerne gelesen, hatte Eingang etwas Mühe mit den vielen Namen und Altersangaben und kurzzeitig dachte ich, eine Familiensaga in eine Kurzgeschichte zu packen ist gewagt. Aber dank Deines sehr gut zu verfolgenden Stils kam ich dann doch in die Geschichte und - ja gut, als ich Sturz las, konnte ich die Folgen "absehen" und - sicher vorbildlich, wie Du den Zusammenhalt der Familie schilderst - verläuft doch alles in einer bewährten "Standardsituation". Nicht falsch verstehen, bitte - aber es ist nun mal der Lauf eines jeden Lebens, von der Wiege bis zur Bahre - und sicher steht hinter jedem "Schicksal" der persönliche Leidensweg. Vielleicht hatte ich gerne mehr über die Gefühle der beiden "Alten" gelesen - intensiver - weniger von ihrem Bruder und ihr ... so wie der Schluss. Der war richtig gut, der hat gerockt.

Oma hat auch einen beachlichen Fanclub, wer hätte das gedacht?«
beachtlichen ... und sagen Jugendliche noch Fanclub? Nicht Follower? So am Rande ...

Liebe Grüße - Detlev

 

Hallo Detlev,
vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ja, es stimmt, diese Geschichte hat, so weit es zu beurteilen ist, ein halbwegs positives Ende. Ich finde es selbst etwas zuckrig, doch ich wollte das auch so.
Interessant, dass du noch Mühe hattest mit den vielen Mitmischenden, in der ersten Fassung hatten sie alle Namen, dann war ich selbst aber so verwirrt, dass ich nur Klaus und Christinchen, später noch dem Vater einen Namen gegeben habe.
Ja, es stimmt auch, dass über die Eltern und die gesamte Familie mehr geschrieben werden könnte, doch das wären viele andere Geschichten, und ich mag einfach gerne Kurzgeschichten, die (relativ) kurz sind.
Fanclub versus Follower?? Bei mir gewinnt der Fanclub, bei Oma hoffentlich auch!
Danke und viele Grüße,
Jutta

 

@Jutta Ouwens

Hallo Jutta. Hier meine Gedanken zu deiner Geschichte.

Erster allgemeiner Eindruck:

Trotz keiner offensichtlichen "hooks", keiner sofort ersichtlichen Konflikte, die den Leser gespannt auf die weitere Geschichte machen könnten, schaffst du mit der Beschreibung der Familiendynamiken in den ersten Absätzen eine gute Basis.

Dein Ton erscheint trotz einiger allzu allgemeiner Beschreibungen delikat und taktvoll. Einige der angedeuteten zwischenmenschlichen Dynamiken (zum Beispiel der politische Konflikt zwischen Vater und Tochter) wirken vielleicht erstmal etwas platt, aber doch nachvollziehbar und lebensnah, und helfen dabei, das Familienporträt zu zeichnen. Die präsentierte Familienwelt kommt anfangs etwas austauschbar daher, auf nicht besonders signifikante Weise idyllisch, weshalb man zunächst darauf wartet, dass sich Interessanteres zu zeigen beginnt. Die bleibende Hervorhebung dieser Idylle führt aber dann doch irgendwann zu der Vorahnung, dass sie bald gestört werden könnte.


Ein paar spezifische Stellen, die ich kurz ansprechen möchte:

zeitlebens ein Jahr jünger als ich
Das "zeitlebens" finde ich hier etwas redundant (im Satz gegen Anfang ist das Wort zeitlebens passend).

Ich hielt die Luft an, wünschte mir Klaus an meine Seite, doch Papa hatte nicht ihn angerufen, sondern mich. Bevor ich Worte finden konnte, sagte Papa:«Ich habe Angst, Christinchen.« Seine Stimme versagte, Papa weinte.

Die Klarheit deiner Sprache kann hier gut die Emotion vermitteln - auch, dass seine Stimme versagt, aber Papa weint (und nicht andersherum), ist hier effektiv.

»Außerdem müffeln sie beide«, ergänzte meine Nichte nüchtern.
Ein solcher Satz schafft wieder Lebensnähe und trägt dazu bei, dass die Thematik facettenreich dargestellt wird. Dies spiegelt deinen allgemeinen, delikaten Umgang wieder, der den Lesenden ihre agency belässt, indem du eben nicht einfach die emotionalen Knöpfe drückst, sondern die Situation differenzierter vermittelst.

Fazit:

Obwohl nicht viel zu passieren scheint, habe ich die Geschichte gerne gelesen. Ob sie mir lange in Erinnerung bleiben wird, ist die andere Frage, dafür waren das Geschehen und auch die Details vielleicht doch nicht prägnant genug. Womöglich ist das einfach Geschmackssache. Dass es bei einem solchen Thema ein positives Ende gab, fand ich dennoch eine schöne Überraschung. Es wirkte weder naiv, noch konstruiert, sondern hat einen vielmehr wenig daran erinnert, dass man einfach die schönen, geteilten Momente im Leben schätzen sollte und der Rest eben auch dazu gehört.

Ich wünsche dir einen schönen Abend.

Liebe Grüße,
Paul

 

Hallo Paul!
Danke für deinen ausführlichen Kommentar, habe mich darüber gefreut. Es stimmt, dass meine Texte selten furios beginnen, jemand schrieb hier mal, sie seien bieder. Stimmt auch, ich habe eine Vorliebe für Dinge des Alltags, mag die Beschreibung menschlicher Gefühle und gesellschaftlichen Lebens. Wir lesen hier so viele Texte, da ist es wahrscheinlich, dass man etliche wieder vergisst. Du hast meinen gelesen und er hat dir gefallen, das reicht doch und es freut mich!
Vielen Dank und liebe Grüße,
Jutta

 

Puh, schwieriges Thema und noch schwieriger, wie ich finde – der Umgang mit Betroffenen, was Du einfühlsam darstellst,

liebe Jutta,

und ich hoffe, mich niemals auf dem Weg nach Alzheim zu finden (sofern man’s denn noch selber kann), wiewohl ich Mayen – wie überhaupt die Eifel ganz manierlich finde, was mich natürlich nicht von der Flusenlese abhalten kann.

»Es reicht nicht, mit dem zusammengerollten 'Spiegel' unterm Arm rumzulaufenKOMMA Christinchen, du solltest auch mal darin lesen!«

Mein Bruder Klaus, zeitlebens ein Jahr jünger als ich, war das Gegenteil eines Hitzkopfes.
Bedarf es des Adverbs oder hätte die Altersdifferenz je sich ändern können?

Mit Anfang Dreißig hatte er ein eigenes Archtekturbüro und plante mit Erfolg öffentliche Gebäude.
„dreißig“, weil ein verkürztes dreißig Jahre; beim Büro kommstu selber drauf

Mama fragte im Gegenzug nach seinen Erlebnissen in der Schule[...]und hörte sich selbst langatmige Konferenzschilderungen mit Interesse an.

Oweh
Oma hat auch einen beachlichen Fanclub, wer hätte das gedacht?«

Unsere Kinder fuhren Mama abwechselnd zur Physiotherapie, meine Schwägerin und ich halfen bei der Körperpflege, kochten im Wechsel, und verwahrten eingefrorenes Essen in der Tiefkühltruhe.
Komma weg!, das und beschließt eine Aufzählung, dto. hier
Wir nickten, tauschten vielsagende Blicke, streichelten ihre Wange, gaben ihr kleine Küsschen, und schwiegen.

Tatsächlich machten unsere Eltern jeden Tag ein paar Schritte an der Luft, wie Papa sagte, dabei hielt er Mamas Arm fest und trippelte neben ihr her,[...]während sie den Stock ab und zu in den Boden rammte, ….

Klaus, seine Frau, unsere Kinder und Enkel betreuten und bekochten unsere Eltern, doch als ich wieder zuhause war, signalisierten alle Kinder, dass es für sie nicht so weitergehen könne.
Warum indirekte Rede symbolisieren, wenn das Modalverb können eh nur zwo-wertig ist. Entweder man kann es oder eben nicht (sprich da mal jeden Handwerksmeister bzgl. des Lehrlings an, selbst wenn der was auch immer ansatzweise fast/halb schafft

Mein Bruder setzte durch, dass eine kleineKOMMA ebenerdige Dusche zusätzlich zur Wanne eingebaut wurde, Papa leistete keinen Widerstand mehr.
Beide Attribute/Adjektive sind gleichberechtigt, klein verstärkt keineswegs ebenerdig

Ich sehe ihre faltigen Brüste, die feine Zeichnung ihres Schlüsselbeins und betrachte ihr se[...]liges Lächeln, während Papa auf dem Toilettendeckel sitzt und …

Gern gelesen vom

Friedel

 

Hallo Jutta,

da haben wir ja etwas gemeinsam. Ich bin praktisch in der Schule aufgewachsen, da meine Mutter Lehrerin war. Die Schule, eine polytechnische Oberschule bis zur zehnten Klasse, lag unserm Haus gegenüber. Mein Vater war übrigens auch Lehrer, aber der hat sich nie blicken lassen.

In dem Haus, in dem wir gewohnt haben, wohnten fast nur Lehrerfamilien, so dass ich auch mit den Lehrerkindern befreundet war. Meine beste Freundin war die Tochter des Schuldirektors. Wenn der Kindergarten mal zu hatte, spielten wir unter dem Schreibtisch der Sekretärin ihres Vaters, oder wir saßen in der letzten Bankreihe bei meiner Mutter im Unterricht.


Von so einer Feier, wie Du sie beschreibst, hat meine Mutter mir oft erzählt, wenn sie irgendwo eingeladen war. Sogar spätabends war ich oft in der Schule, wenn meine Mutter dort im Lehrerzimmer irgendwelchen Papierkram erledigen musste. Währenddessen stromerte ich durch die menschenleere, dunkle Schule.

Mir ist der Geruch des Lehrerzimmers unvergesslich geblieben. Damals gab es noch keine Rauchverbot, so dass es dort abartig nach Tabak stank. Überall, in die Polstergarnituren, in den Teppich, in die Tapeten, war dieser Geruch eingezogen, so dass es einem den Atem benahm.

Ich musste meine Mutter auch oft zu Elternbesuchen begleiten, die auf den Dörfern im Umkreis stattfanden, da sie nicht allein zu Fuß die dunklen Landstraßen langlaufen wollte. Kein Auto. Dabei bekam ich Sachen zu hören, für die ich vom Alter her noch gar nicht geeignet war, da die Frauen die Gelegenheit oft benutzten, um sich über ihr schweres Leben bei meiner Mutter das Herz auszuschütten.

Als Schülerin in der Unterstufe ging es ja noch, aber als wir in der fünften Klasse in das Hauptgebäude wechselten, bekam ich Probleme dadurch, dass meine Mutter Lehrerin war. Alle Schüler auf dem Schulhof wußten, wer ich war. Ich wurde auf dem Flur geschubst, gehänselt und auf dem Hof mit Schneebällen und Steinen beworfen. Alle Kinder der Lehrer hatten es nicht einfach. Die anderen Kinder versuchten wohl ihren Frust an uns auszulassen, wenn sie bei unseren Eltern ein Diktat oder eine Mathearbeit verhauen hatten. Merkwürdigerweise sind die aus unserem Dorf, die so Hippiemäßig unterwegs waren, alle Lehrerkinder. Da sucht man wohl ein Ventil für jahrelange Demütigungen.

Einmal bei einer Fete hier kam das Gespräch auf unsere Eltern. Da stellte sich heraus, dass wir alle von Lehrern abstammten. Bloß die Eine war eine Pastorentochter. Da bin ich mit Lehrerkindern aufgewachsen und später, als Erwachsene, unbewußt wieder in dieselbe Gesellschaft geraten. Vielleicht ahnt man da unbewußt Gemeinsamkeiten.

Wie gerne hätte ich es gehabt, dass mein Vater, wenn vorhanden, Traktorist gewesen wäre und meine Mutter Reinemachefrau, wie die Väter und Mütter der Anderen. Dann wäre ich jetzt mit dem Nachbarsjungen verheiratet und hätte mir bei Schwiegereltern was ausgebaut.

Noch was Lustiges über Demenz, ist natürlich kein Thema zu Scherzen. Als die Frau von dem Patienten meines Freundes, der Hauskrankenpfleger ist, ihren Mann fragte: „Wer ist das?“ und dabei auf meinen Freund zeigt, antwortete er wie aus der Pistole geschossen:„Vater von dir.“ Da hatte er einen 82 jährigen Sohn bekommen.

 

Hallo Friedel,
wie immer danke für die Flusenlese. Ja, hoffen wir mal, dass wir mental fitt bleiben, vielleicht auch durch intensive WK-Arbeit!
Eine warme Stube und eine kuschelige Vorweihnachtszeit wünscht dir,
Jutta

Hallo Frieda Kreuz!
das ist ja schön, dass meine Geschichte soviel an Erinnerungen bei dir freigesetzt hat. Ich freue mich, dass dir der Text gefallen hat. Aber ob der Traktorfahrer dein Traummann geworden wäre, ist ja ebenso fiktiv, dazu noch spekulativ, wie meine Geschichte!
Vielen Dank und vorweihnachtliche Grüße,
Jutta

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom