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Ende
Ich schaue aus dem Fenster. Der Schnee fällt. Was soll er auch sonst tun? Wie damals, so schneit es auch heute. Ich war damals hier gewesen, um meinem Roman ein Ende zu geben. Ich wollte weg aus Deutschland, weit weg, und der Nordosten der USA schien mir schon weit genug. Ein kleines Bergdorf mit einem abgelegenen Hotel in den … Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie das Gebirge im Nordosten der USA heißt. Ich habe es vergessen. Dieses Hotel also, oder besser gesagt, dieses Gasthaus, war die Endstation meiner Flucht. Ich fand die Ruhe alle losen Fäden aufzunehmen und zu einem befriedigenden Ende zu verknüpfen.
Der Roman war ein Erfolg.
Mein Blick gleitet wieder zum Fenster und ich schaue dem Treiben des Schnees zu. Keine Schneeflocke gleicht einer anderen. Das habe ich mal gehört. Wie wohl auch kein Gehirn einem anderen gleicht. Kann ich mir vorstellen, mit seinen Nervenzellen und ihren Bahnen. Aber solche Theorien können nur falsifiziert werden, nicht verifiziert. Ein Dilemma. Appalachen, so heißt das Gebirge im Osten der USA. Ich weiß es doch noch.
Das Bild über dem Bett hing schief. Ich habe es wieder gerade gerückt. Es ist immer noch das gleiche Bild wie bei meinem ersten Besuch hier. Damals habe ich hier geschrieben und heute will ich es auch. Das Bild zeigt eine Flusslandschaft. Es ist gut, dass ich das gleiche Zimmer wie damals habe, und das Bild muss gerade hängen. Es muss einfach. Denn damals habe ich hier geschrieben und heute will ich es wieder tun. Ich sitze wieder an diesem Schreibtisch und will einen Brief schreiben. Meinen Abschiedsbrief.
Ich war in der Zwischenzeit noch oft hier gewesen. In dieser Gegend habe ich Claire kennen gelernt. Die Liebe meines Lebens. Wie schwülstig das klingt. Ich habe jeden meiner Romane hier beendet. Aberglaube, ich weiß. Oder christlich verklärt: ein gutes Omen.
Es schneit immer noch. Aber wir werden nicht einschneien. Das hat mir zumindest der Besitzer des Gasthauses versichert. Ich liebe diese Landschaft hier, diese Natur. Besonders im Herbst, der im Amerikanischen 'fall' heißt, das nahende Ende schon beinhaltend.
Was sitze ich hier..? Ach ja, einen Brief will ich schreiben. Das Papier liegt schon vor mir, der Stift auch. An wen? Claire? Nein. Sie ist schon tot. Das weiß ich mit Sicherheit!
Ich hatte das Gefühl, etwas würde mit dem Kleiderschrank nicht stimmen. Ich habe die Sachen ausgeräumt, sie auf dem Bett verteilt und sortiert, den Schrank ausgewaschen und die Sachen wieder eingeräumt. Jedes Stück an seinen Platz. Jetzt stimmt es wieder.
Claire hatte es hier gefallen. Zwar lebte kaum 50 Meilen von hier ihre Familie, aber sie unterstützte meinen Spleen. Aberglaube, Omen, Spleen. Drei Blickwinkel derselben Sache. Claire hatte immer mit dem Hund gespielt. Der ist jetzt wohl auch schon tot.
Der Brief, an wen soll ich ihn wohl schreiben?
"To whom it may concern."
Das wollte ich schon immer mal schreiben. Das klingt doch viel besser als "Wen es angeht." oder "Wen es betrifft." Als Deutscher und als Schriftsteller muss einem das Englische doch wie ein Wunder erscheinen. Diese Melange aus romanischen und germanischen Elementen, mit einem Schuss Keltischem. Wie hier alles klingt. Selbst die banalsten Sachen. Wie muss man sich im Deutschen abmühen, um Schönklang zu erzeugen. Das haben wir davon, dass wir die Römer nicht in unser Land gelassen haben. Dass wir sie gezwungen haben, einen Wall zu bauen. Und diesen Wall tragen wir immer noch in unserm Herzen. Gut, in der englischen Sprache hatten wohl die Franzosen den größeren Einfluss, aber die Römer haben den Boden bereitet. Auf beiden Seiten des Kanals.
Der Brief. To whom it may concern? Oh, da gibt es einige. Verleger, Freunde, die Öffentlichkeit. Familie habe ich keine mehr. Vater, Mutter, Frau: tot.
"Wenn ihr das lest, werde ich nicht mehr sein."
Nicht mehr lebendig sein.
Im Badezimmer hatte noch das Licht gebrannt. Ich hatte wohl vergessen es auszumachen. Ich habe die Chance genutzt und alles sauber bemacht. Alles ist jetzt wieder an seinem Platz, sauber und rein. Jetzt stimmt wieder alles. Das Licht ist aus.
Vergessen. Ich vergesse so viel und erinnere mich an so viel. Nur leider, falsche Zeiträume.
Ich werde mich umbringen. Dieser Gedanke hält mich am Leben, so paradox das klingen mag. Ich hatte mir geschworen, sollte ich jemals diese Krankheit haben, an der meine Mutter zu Grunde ging, werde ich mich vorher umbringen. Ich will dieses Siechtum nicht. Und dieser Gedanke hilft mir, im Fokus zu bleiben.
"Verzeiht mir, aber so ist es für euch und für mich besser."
Es ist eine demütigende Krankheit für alle Beteiligten. Egal, welchen Verlauf sie nimmt. Nicht mehr zu wissen, wann man scheißen muss und wie man scheißen muss. Der eigenen Mutter den Hintern abwischen zu müssen ist eine Erfahrung, die ich keinem wünsche.
"Es ist alles geregelt."
Das ist richtig. Mein Testament habe ich verfasst. Meine Todesart habe ich gewählt. Die richtige Todesart zu finden war schwierig. Doch ich habe sie gefunden.
"Ich gehe jetzt…"
Nur noch unterschreiben. Draußen ist es schon dunkel. Der Schnee fällt etwas dichter. Wie damals. Wie damals, beim ersten Mal. Das ist schön.
Ich schleiche aus dem Gasthaus.
Die Kälte umfängt mich wie einen Freund.
Ich werde nichts spüren.
Hoffe ich.
Der Gastwirt hatte damals doch bemerkt, dass sein Gast sein Haus nur leicht bekleidet verlassen hatte. Er hatte daraufhin die Polizei alarmiert und gemeinsam hatten sie den Mann von seinem Vorhaben abbringen können. Zurück in Deutschland hatte seine Tochter Claire, die als Betreuerin bestellt war, die Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung veranlasst.
Die Pfleger der Spezialklinik für Alterskrankheiten kennen den Patienten auf Zimmer 21 und seine regelmäßigen Fluchtversuche. Hier wird er bleiben, in dieser Klinik und in diesem Gasthaus, bis an sein Ende.