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Endstation
Endstation (überarbeitet)
Endstation
Ich erwache aus unruhigem Schlaf.
Mit den Schmerzen kommt wieder die Wut. Es ist dunkel - mitten in der Nacht. Ich bewege mich; es tut weh. Ich schwinge meine Beine aus dem Bett - beiße die Zähne zusammen. Ich will nicht weinen - nicht mehr.
Ich stehe auf. Im Bad flackert die Birne. Ich blicke in den Spiegel, sehe die Spuren.
Seine Spuren.
Meine Wange leuchtet rot und brennt. Ich erkenne Finger, die sich dort abzeichnen.
Sein Andenken widert mich an. Blaue Flecke auf meinem Oberkörper. Ich taste nach ihnen und es tut weh; meine Schulter schmerzt. Meinen Rücken kann ich nicht sehen, aber ich spüre ihn.
Das kalte Wasser tut gut und lindert für einen Moment das Brennen in meinem Gesicht. Ein Geräusch? Ich lausche. Nein, ich habe mich getäuscht. Er schläft. Er. Soll ich ihn noch Vater nennen?
Im Flur streife ich den Mantel meiner Mutter, der dort an der Garderobe hängt.
Sie ist fort - seinetwegen. Gerne wäre ich mit ihr gegangen. Sie hat es nicht gewollt.
Die Fliesen in der Küche sind kalt und schmutzig. An meinen Füßen ist es klebrig.
Ich mache kein Licht, finde mich auch im Dunkeln zurecht. In der Schublade liegt das große Messer. Sein Metall glänzt und fühlt sich kühl an. Ich wiege es hin und her. Der Gedanke am Abend, als er fertig mit mir war, festigt sich zu einem Vorhaben. Ich stecke es hinten in meine Hose.
In seinem Zimmer riecht es nach Alkohol. Ich höre ihn leise schnarchen. Er bemerkt mich nicht, liegt auf dem Rücken und schläft in seinem betäubenden Rausch. Ich beobachte ihn dabei - lange. Er kommt mir fremd vor. Ich erforsche meine Gefühle, kann aber nichts entdecken. Die Liebe, die ich elf Jahre lang empfand, ist seit zwei Jahren dem Hass gewichen. Menschen verändern sich. Ich mich auch. Soll ich es tun? Ich spüre die Tränen in meinen Augen. Ich will nicht weinen - nicht mehr. Die Schmerzen, auch die meiner Seele, zwingen mich. Ich schlage ihm ins Gesicht. Er öffnet die Augen, aber ich will nicht, dass er mich ansieht - nie mehr. Selbst seine Blicke schmerzen. Das Kissen erstickt nicht nur die Schreie. Er fuchtelt mit den Armen, schlägt um sich. Ich will nicht, dass er mich schlägt - nie mehr.
Ich drücke das Kissen fester, und ziehe das Messer - stoße zu. Immer wieder dringt es bis zum Heft ein. Seine Bewegungen werden langsamer, erschlaffen. Ich stoße weiter zu. Er ist still, rührt sich nicht mehr. Ich stoße weiter zu. Das klitschige Messer entgleitet mir, bleibt in ihm stecken. Also gebe ich erschöpft auf. Schwitzend und schwer atmend stehe ich da - warte auf die Erleichterung. Ich spüre nichts. Ist es so? Was habe ich erwartet? Bin ich jetzt frei? Um wie viel bin ich besser als er? Wieder im Bad, wasche ich mich - vermeide den Blick in den Spiegel. Ich habe Angst, fürchte mich davor, mir in die Augen zu sehen. Ich ziehe mich an und verlasse die Wohnung. Grauer, kalter Beton im Treppenhaus. Grauer, kalter Beton auch draußen.
Ich gehe durch die Straßen; ich bin allein. Allein war ich auch vorher, nur diesmal bin ich es nicht nur innerlich. Meine Schritte lenken mich; nicht ich lenke meine Schritte. Wohin gehe ich? Die Nacht ist kalt, wie das Leben. Auch ich bin kalt - denke ich. Aber wie viel Schuld trage ich? Und ab wann habe ich mich schuldig gemacht? Hat nicht jedes Lebewesen ein Recht auf Leben ohne Schmerz? Habe ich mich nicht nur verteidigt?
Der Bahnhof wirkt bedrückend. Wo fahre ich hin? Was führt mich hier her? Lohnt ein neuer Anfang, und zu welchem Preis? Auf dem Bahnsteig weht ein kalter Wind. Ich spüre die Blicke der Fremden - fühle mich nackt. Sehen sie in mein Inneres? Ich denke an die Freunde in der Schule, auf dem Bolzplatz. Nie ahnten sie etwas. Glückliche Kinder - glückliche Kindheit. Mit elf Jahren wurde ich erwachsen - viel zu schnell. Die Schmerzen formten mich. Aber wer bin ich? Habe ich mir nicht gerade selbst den größten Schaden zugefügt? Gut, er kann mich nicht mehr schlagen. Aber warum habe ich immer noch Angst? Ich trete an den Rand und blicke den Gleisen nach, die sich in der Dunkelheit verlieren. Was ist in diesem Dunkel - was kommt danach? Was bringt ein neuer Ort, wenn ich doch immer noch der Selbe bin? Ist mein Leben jetzt plötzlich besser? In zehn Jahren habe ich keine Narben mehr. Nur die auf meiner Seele, die ich mir heute selbst beigebracht habe, bleibt für immer. Kann ich wirklich mit ihr leben? Ich höre den Zug. Wie ist sterben? Ist es nicht besser, ich wäre auch tot? Niemand könnte dann mehr über mich richten, ich wäre wirklich frei und müsste mich nicht verkriechen. Tut es weh? Die Art bestimmt den Schmerz - kann mich nicht mehr schrecken. Nie mehr Schmerzen - nie mehr!
Ich lass mich fallen...............
ENDE