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Engelschrei
"... und ihre Klamotten erst - die kauft wohl regelmäßig an der Müllkippe ein!"
Tanja bog sich vor Lachen und hielt sich an Nathalie fest, um sich zu stützen. Ich grinste und wollte gerade etwas entgegnen, als ich Petra um die Ecke treten sah.
"Pass auf, da ist sie!", zischte ich stattdessen scharf und betete inständig, dass Tanjas Worte nicht zu laut gewesen waren. Petra schien jedoch nichts mitbekommen zu haben; sie warf uns nur einen flüchtigen Blick zu als sie an uns vorbeiging, ihre Bücher fest in der Hand. Ich wartete, bis sie außer Hörweite war und flüsterte Tanja dann zu:
"Na, da hast du uns aber beinahe in 'was reingeritten! Pass lieber auf was du alles so sagst!"
Tanja zuckte die Schultern und warf ihre schwarzen Locken in den Nacken.
"Und wenn schon - seit wann machst du dir überhaupt Gedanken um Petras Seelenheil?" Touché, dachte ich mir und biss mir auf die Lippen. Erst gestern hatte ich nicht gerade schlecht mitgelästert, als es um die neue Mitschülerin ging. Und eigentlich wusste ich genau, wie unfair wir uns verhielten. Aber forderte Petra all das nicht auch irgendwie heraus?
"Sie ist eben komisch", meinte ich fast entschuldigend. "Keiner kommt so richtig an sie heran. Und es ist ja nicht so, dass wir sie ignorieren würden - habe ich sie nicht vor zwei Wochen gefragt, ob sie mit mir nach der Schule nach Hause kommen will?"
"Ist schon gut", sagte Tanja und schlug mir leicht auf die Schulter, "vor uns brauchst du dich bestimmt nicht zu rechtfertigen, oder Nat?" Nathalie schüttelte energisch den Kopf. Ich fühlte mich gleich etwas wohler in meiner Haut.
"Frau Huber sagte, wir sollen sie nicht isolieren", seufzte ich dann. "Sie sei ein bisschen still und schüchtern, aber das wäre völlig normal wenn man auf eine neue Schule käme. Und wir sollen freundlich zu ihr sein."
"Ach komm", entgegnete Tanja unwirsch, "die Huber muss sich auch nur vier Stunden die Woche mit ihr herumschlagen, die sitzt nicht den halben Tag mit ihr in einem Raum! Und Frau Huber kann mir sagen was sie will, diese Petra tut in meinen Augen so, als sei sie etwas Besseres." Tanja schnaufte empört und verschränkte die Arme. Ich nickte geistesabwesend.
"Petra ist schon ein wenig komisch. Ich will's ihr eigentlich nicht schwermachen hier - aber ein bisschen könnte sie sich ja auch selber bemühen."
"Die bemüht sich nicht, glaub mir", fiel mir Nathalie ins Wort. "Und die Huber soll mal ja nicht so tun als sei Petra ein Baby - Himmel, das Mädchen ist vierzehn Jahre alt, genau wie wir! Die braucht keine Gouvernante um sich herum, die muss nur mal von ihrem hohen Ross herunterkommen!"
"Ganz meine Meinung", murmelte Tanja. In diesem Moment klingelte die Pausenglocke und wir gingen zurück in unser Klassenzimmer. Etwas unsicher setzte ich mich auf meinen Platz schräg hinter Petra. Hatte sie auch wirklich nichts von unserem Gespräch mitangehört? Sie erweckte nicht den Eindruck. Ohne eine Miene zu verziehen packte das dünne Mädchen seine Hefte aus und wechselte eine Patrone in ihrem Füller. Pedantisch legte sie ihre Utensilien nebeneinander auf den Tisch und faltete artig die Hände, als Herr Brinkmann eintrat um den Unterricht zu beginnen.
Obwohl mich Schillers Gedichte normalerweise interessierten, nahm ich diese Stunde nur wenig von dem durchgenommenen Stoff wahr. Fast die ganze Zeit über starrte ich auf Petras kerzengeraden Rücken und den langen braunen Zopf, der säuberlich geflochten darüberfloss. Warum trägt sie so eine altmodische Frisur, schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf. Schöne Haare hat sie ja eigentlich. Aber so streng nach hinten geflochten kommt das doch gar nicht zur Geltung. So guckt sie doch kein Junge an. Oder will sie das womöglich gar nicht?
Verwirrt lehnte ich mich zurück. Was dachte ich denn über so etwas überhaupt nach? Was kümmmerte es mich, ob Petra etwas aus sich machte oder nicht?
"Nun, Phillippa?"
Erschrocken zuckte ich zusammen. Herr Brinkmann stand urplötzlich wie ein dunkler Geist vor mir und blickte mir geradwegs ins Gesicht.
"Ich, ich ...", stotterte ich verlegen. Ich hatte weder die Frage noch das Thema mitbekommen.
"Na, wie nennt man das denn wohl, hm? Diesen schönen Fachausdruck haben wir erst letzte Stunde aufgeschrieben. Fräulein Phillippa?"
"Ich ... ich weiß nicht ...", flüsterte ich kleinlaut und spürte sofort, wie mein Gesicht sich mit Röte überzog.
"Das ist schade." Herr Brinkmann klang ehrlich enttäuscht. Kein Wunder, schließlich war ich ja sonst eine der aufmerksamsten Schülerinnen. "Vielleicht hast du dann die Güte dir jetzt diesen Ausdruck zu notieren - in Schillers Gedicht geht es um die Hybris."
Hybris. Fast hätte ich aufgelacht. Hybris, der frevelhafte Übermut. War das ein Wink des Schicksals? Weil ich mich selbst zu hochmütig gegenüber Petra verhielt? Ärgerlich auf mich selbst versuchte ich dem Unterricht zu folgen.
***
Nach der Stunde hatte ich einen Entschluss gefasst. Ohne lange zu zögern ging ich auf Petra zu, die gerade ihre Bücher in die Tasche packte.
"Hey Petra, hast du heute vielleicht Lust mit mir nach Hause zu kommen?" Wieder fühlte ich die Hitze in meinen Wangen als Petra mich aus großen Augen ansah, aber ich hielt ihrem Blick stand.
"Das ist sehr nett von dir", brachte sie schließlich hervor, "aber ich kann heute nicht. Ich muss zu meinem Freund." Petra nickte mir noch einmal zu und huschte im nächsten Augenblick auch schon davon. Ich blieb wie vom Donner gerührt zurück. Zu ihrem Freund? Noch ehe ich mich richtig besinnen konnte, stand auch schon Tanja neben mir.
"Mensch Philly, was is'n mit dir los, hä? Was hast du da eben die Neue angequatscht? War irgendwas?"
"Sie hat einen Freund", sagte ich verblüfft. Tanja zog die Augenbraue hoch.
"Was faselst du da, was ist los? Wer hat einen Freund?"
"Petra", erwiderte ich und schüttelte immer noch erstaunt den Kopf. "Na, Petra halt. Ich fragte sie ob sie sich heute mit mir treffen will und sie sagte nein, sie müsse zu ihrem Freund." Ich drehte mich zu Tanja um. "Was sagt man dazu?"
"Kann ich dir genau sagen", knurrte Tanja finster, "die Kleine lügt."
"Hm." Ich blieb unsicher. "Meinst du, sie hat mich angelogen? Warum sollte sie?"
"Na, glaubst du ihr die Story etwa? Dass sie jetzt zu ihrem Freund muss?" Fast befürchtete ich, dass Tanja mitten im Klassenzimmer vor Verachtung ausspucken würde, so wütend schaute sie aus.
"Wer weiß? Stille Wasser können tief sein", gab ich zu Bedenken. Tanja aber schüttelte so wild den Kopf, dass die Locken förmlich umherflogen.
"Philly, sei nicht so blöd, diese Tussi hat keinen Macker. Ich schwörs dir, das ist 'ne ganz linke Tour, die sie da versucht. Wahrscheinlich hat sie Angst, dass du sie nur verarschen willst oder so, glaubt nicht, dass du dich mit ihr treffen wolltest. Und um nicht dumm dazustehen erfindet sie einen Typen. Irgendwie clever für so eine Dorfpomeranze, meinste nicht auch?"
Ich zog die Achseln hoch.
"Und was machen wir jetzt? Soll ich sie ein andermal fragen?"
"Nix da. Willst du wissen ob sie einen Freund hat, oder nicht?"
"Doch, interessieren tut's mich schon", gestand ich.
"Siehst du, mich auch." Tanja schulterte ihre Tasche und zog am Riemen. "Dann lass uns mal hinterher."
"Hinterher?" Ich begriff überhaupt nichts.
"Na, der kleinen Tussi hinterher, mal sehen, wo sie sich mit ihrem angeblichen Typen trifft!" Tanja seufzte über meine Begriffsstutzigkeit. "Los, mach schon, sonst ist sie schon über alle Berge!"
***
"Was für eine blöde Idee!", schimpfte ich schlechtgelaunt, als Tanja und ich uns auf den Fahrrädern abstrampelten. "So auffällig, wie wir uns benehmen, sieht sie uns bestimmt noch!"
"Wenn du nicht so laut durch die ganze Gegend brüllst bekommt sie überhaupt nichts mit", gab Tanja gereizt zurück. Bereits seit einer Viertelstunde verfolgten wir Petra in gebührendem Abstand und ich rätselte, wohin uns dieser Trip wohl bringen würde.
"Kennst du diese Gegend?", rief ich Tanja halblaut zu und diese verneinte. Ich kannte den Stadtteil zwar, verirrte mich jedoch nur selten hierhin. Die meisten Häuser wurden von alten Leuten bewohnt, es gab nur wenige Geschäfte - kein Grund also für mich, öfter hierherzukommen. Aber Petras Freund musste wohl hier wohnen - wenn es ihn denn gab.
Ich wusste nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Log Petra? Das wäre allerdings ein starkes Stück. Als Notlüge konnte man diese mögliche Schwindelei ja nicht gut bezeichnen, sie hatte eigentlich keinen Grund mir etwas von einem nicht-existenten Freund zu erzählen. Ich hatte ja selbst keinen, warum sollte sie also so etwas mir gegenüber behaupten?
Andererseits wehrte sich alles in mir gegen die Vorstellung, dass die kleine, äußerlich biedere, unscheinbare und offenbar ziemlich schüchterne Petra einen festen Verehrer haben sollte, mit dem sie sich nach dem Unterricht traf. Und wenn er sie liebte, warum holte er sie nicht von der Schule ab? Gerade weil sie doch neu war - da würde es ihr doch nur guttun, sein vertrautes Gesicht anschließend immer zu sehen, oder? Für mich ergab das alles keinen Sinn. Die Neugierde hatte auch mich gepackt.
"Sie ist etwas langsamer geworden", keuchte Tanja vor mir und ich spähte an ihrem breiten Rücken vorbei. Tatsächlich, Petra trat nicht mehr so fest in die Pedale wie zu Beginn, soweit ich das erkennen konnte.
"Ich glaube, sie hält!" rief ich etwas zu laut und schlug mir schnell die Hand vor den Mund.
Petra ließ ihr Fahrrad ausrollen, bremste und stieg vor einem kleinen Laden ab. Tanja und ich stoppten unsere Fahrt vor einem großen Auto, das uns Deckung bot.
"Meinst du, sie bleibt in dem Laden?"
"Glaube ich nicht", meinte ich, "denn sieh mal: Sie schließt ihr Fahrrad gar nicht ab. Also kommt sie sicher gleich wieder heraus."
"Was ist das überhaupt für ein Geschäft?"
Ich strengte meine Augen an, konnte aber kaum etwas erkennen aus der Entfernung. "Ein Blumenladen!", rief ich dann aus und fügte gleich noch hinzu: "Ob sie ihm eine Rose kauft?" Bei der Vorstellung musste ich unwillkürlich kichern.
"Wer weiß?", entgegnete Tanja ironisch. Ich spürte an ihrem Ton, dass sie nach wie vor davon überzeugt war, dass Petra uns belog. Insgeheim tat mir diese Vorstellung mittlerweile weh.
"Sie ist wieder da!" Tanjas Stimme riss mich aus meinen Überlegungen. "Sie hat wirklich Blumen gekauft! Und irgendwas hängt da noch dran, glaube ein Stofftier."
Fast hätte ich lachen müssen; Tanjas Enttäuschung war nicht zu übersehen.
"Naja, das heißt noch nichts", tröstete sich diese gleich darauf selbst, "sie kann die Blumen auch für ihre Oma gekauft haben. Oder ihre Mutter hat Geburtstag. Oder irgend so etwas."
"Wahrscheinlich sammelt ihre Oma kleine Teddies", konnte ich mir nicht zu sagen verkneifen und erntete einen wütenden Blick von Tanja, als wir die Verfolgung wieder aufnahmen.
Petra behielt von Anfang an ein gemäßigtes Tempo bei und ich ahnte, dass sie, und damit auch wir, bald angekommen sein würden. Ab und zu warf das Mädchen einen Blick über die Schulter zurück, aber sie schien uns nicht zu erkennen.
"Wetten, dass sie gleich vor einem Haus hält und dann ihre Mutter die Tür aufmacht? Wetten?" Ich antwortete Tanja nichts, denn ich hatte keine Ahnung was ich glauben sollte.
"Sie biegt rechts ab!" Ich nickte, obwohl meine Freundin das nicht sehen konnte.
"Hey, sie steigt ab!" Tanja klang ganz heiser vor Aufregung. "Und sie nimmt die Blumen vom Gepäckträger."
"Sie schließt das Rad ab", fuhr ich atemlos fort. "Und wo geht sie jetzt hin?"
"Na, zu ihrem Freund, wohin sonst?" Tanjas Stimme schwankte.
"Abwarten", murmelte ich. Wir postierten uns hinter einem dichten Busch an einer Straßenecke und beobachteten scharf jede von Petras Bewegungen. Das Mädchen schlug einen schmalen Weg ein, den bunten Strauß fest in der Hand. Irgendwie kam mir die Gegend auf einmal seltsam bekannt vor ...
"Ich glaube, ich war hier schonmal", grübelte ich halblaut vor mich hin und sah mich um. Überall Bäume, ein großer Parkplatz, eine breite Straße, eine schmale daneben, die Petra eben betreten hatte, und eine Mauer rechts davon - wohin führte der Weg?
"Los, wir müssen ihr nach - was guckst du denn so komisch?"
Ich starrte unverwandt auf Petra, die sich immer weiter von uns entfernte.
"Los doch", drängte Tanja, "wir verlieren sie sonst noch."
"Nein", brachte ich matt heraus, "lass sie."
"Hä?" Tanja stand der Mund offen vor Staunen. "Was denn jetzt wieder los, warum?"
"Lass sie einfach", sagte ich kaum hörbar. Ich spürte, wie die Tränen in mir hochstiegen, als ich Petra nachsah, wie sie die Friedhofsmauer entlanging.