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Dieser Text ist Teil des Kurzgeschichtenzyklus >oneshortyear<. Man schreibt jedes Monat eine Kurzgeschichte zu einem vorgegebenen Thema. >Enjoy the silence< schrieb ich zum Thema: >3. Song auf deiner Lieblingssongliste<
Enjoy the silence
Es ist zu still. Nicht einmal die üblichen Geräusche der Autos vorne an der Ampel sind zu hören. Unheilschwanger hat ihre Schwester diese Art der Stille immer genannt, wenn sie sich einen Horrorfilm ansahen.
Aber dies ist kein Film. Dies ist das wahre Leben. Ihr Leben und das von Thorsten.
Paula reibt sich den Nacken. Sie vermisst ihr Bett zuhause. Die weiche Matratze, die Thorsten seit Monaten wechseln möchte. Die Bettwäsche, die anders als hier buntgemustert ist.
Und es riecht besser daheim. Hier stinkt es nach Desinfektionsmittel und etwas, das sie nicht wahrnehmen möchte. Sie kann und sollte keine Nacht mehr in einem Stuhl schlafen, der ausschließlich für einen kurzen Besuch gedacht ist.
»Du sagst also nichts mehr dazu?« In ihrer Beziehung hat Paula nie das letzte Wort. Von Anfang an sind Thorsten und sie wie Feuer und Wasser. Sie ein Feuerdrache und er ein Wassertiger, so hat es zumindest das chinesische Horoskop gedeutet. Zwei Individuen, die sich nicht vertragen. Zwei, die immer um den imaginären Thron streiten.
Paula gewinnt selten. Manchmal, wenn sie ein harmloses Spiel spielen wie »Mensch, ärgere dich nicht« oder »Scrabble«. Nie jedoch, wenn sie wetten.
Vor fünfzehn Tagen haben sie sich zum letzten Mal gestritten. Ein Teller ist wie ein unbekanntes Flugobjekt durch die Küche geflogen und an der Wand zerschellt. Das Schlimme danach waren nicht die Scherben oder der Fleck an der Wand, seine Worte haben viel mehr Schaden angerichtet. Wie ein Messer sind sie in ihren Körper eingedrungen und wieder hinaus und dann wieder hinein und wieder hinaus. Paula hat nicht gezählt, wie oft Thorsten verbal zugestochen hat. Sie wirft Sachen, er schreit. So ist es in den letzten Wochen immer gewesen. Ein Streit folgt dem anderen. Worte springen aus einem Mund. Teller mit Essenresten an die Wand in der Küche. Manchmal ist es auch ein Buch oder die Fernbedienung.
Ein Geräusch durchdringt die lähmende Stille. Ein Piepsen. Dann ein Alarm. Jemand stirbt.
Paula sieht sich um. Die Wände gleichen nicht denen bei ihr zuhause. Jemand hat sie in einem seltsamen hellen Grün gestrichen. Der Farbe der Hoffnung. Der Natur. Fruchtbarkeit. Erneuerung. Wachstum.
»Dieses Grün ist vollkommen fehl am Platz hier.« Paula sieht zu Thorsten. Sie wartet auf seine Antwort. Thorsten schweigt.
Paula gibt »Grün. Farbe. Bedeutung« in die Suchmaschine ein. »Wusstest du, dass es mehr als hundert Grüntöne gibt? Dieser hier ist mit Abstand der hässlichste von ihnen.«
Thorsten schweigt.
Sie scrollt weiter hinunter. »Oh, das haben wir es ja. Grün wie Monster und Gift. Ja, das trifft es eher, nicht wahr?« Paula wartet auf seine Antwort.
»Soll das nun immer so weiter gehen? Ich rede und du schweigst?« Paula springt auf, hebt ihre Hand und starrt auf ihr Handy. Noch nie hatte sie sich so unter Kontrolle. Tief einatmen, tief ausatmen. Sie verspürt keine Genugtuung, als es zum ersten Mal klappt. Paula blickt zu Thorsten. Er starrt sie an. Sie starrt zurück.
Paula versucht die Müdigkeit aus ihrem Körper zu schütteln. Langsam geht sie die paar Schritte vom Bett, in dem Thorsten geschlafen hat, zur Tür. Ihre Finger umfassen das kühle Metall der Klinke. »Ich hole mir einen Kaffee. Soll ich dir einen mitbringen?«
Thorsten schweigt.
Der Aufzug nach unten ist leer. Paula drückt auf die zwei. Der Aufzug fährt zehn Stockwerke hinunter. Die Türen weichen von ihr zurück, als wäre sie ansteckend.
In der Cafeteria findet sie drei Personen vor. Eine alte Frau geht nervös auf und ab. Ein Paar sitzt an einem der sieben Tische. Sie weint. Er streicht ihr über den Rücken. Vor ihnen stehen vier hässliche Pappbecher.
Paula wirft eine Münze in den Automaten. Der Kaffeeautomat brummt gefährlich und spukt dann wie ein Sterbender den Kaffee in einen unschuldig wirkenden gräulich-weißen Pappbecher.
Paula setzt sich an den Tisch, der gleich neben der Kaffeemaschine aufgebaut wurde. Hinter ihr gäbe es einen Automaten mit Dingen, die man als essbar deklariert hat. Nichts als Zucker und Konservierungsmittel. Nichts als Gift.
Thorsten und sie haben darauf geachtet, gesund zu leben. Laufen an der frischen Luft. Wenig Fleisch. Viel Obst und Gemüse. Yoga, jeden zweiten Tag und viel Sex.
Der Kaffee ist zu heiß, um ihn sofort zu trinken. Paula erhebt sich. Türen schließen sich, Türen weichen zurück.
Im Zimmer starrt Thorsten Paula immer noch an.
»Wie kann man den Kaffee nur so heiß machen, dass man ihn erst in einer Stunde trinken kann?«
Er schweigt.
»Okay, du hast recht. Eine Stunde ist übertrieben. Aber jetzt nach …«, sie blickt auf die Uhr, »acht Minuten ist er immer noch zu heiß. Wie schaffst du es eigentlich so lange zu schweigen?«
Enjoy the Silence, denkt sie. Immer schon hat sie dieses Lied gemocht. In allen möglichen Varianten. In der Serie »Vampire Diaries« tanzt Damon Salvatore mit Vicky Donovan zu dem Lied und dann tötet er sie, damit sie so zum Vampir werden kann. Paula schrickt zusammen. Wie oft hat sie ihren Freund schon in Gedanken getötet?
»Ich kann dein Schweigen nicht ertragen. Weißt du, ich fand es herausfordernd, mich mit dir zu messen. Dies hier ist der schlimmste Streit, den wir je hatten. Dein Schweigen ist … es tut so viel mehr weh. Nun sag schon was. Bitte.«
Paulas Arme greifen nach ihrem Freund. Sie rüttelt seinen schlaffen Körper. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. Er ist schuld daran, dass sie sich so gefetzt hatten. Sie hat ihn gewarnt. Geh zum Arzt, hat sie gesagt und er nie zugehört.
»Du hast recht. Es ist dein Leben. Aber sterben ist doch auch keine Option, oder?«
Paula starrt auf Thorsten. Seine Augen starren nicht wirklich sie an, sie werden sie wieder jemanden richtig ansehen. Keine Worte werden mehr zwischen ihnen fallen. Wachkoma ohne Rückkehr haben die Ärzte ihr vor einer Woche gesagt und ihrem Freund ein bis fünf Wochen gegeben.
»Tu mir einen Gefallen. Tu es gleich. Stirb! Jetzt! Sofort!« Diesmal hält sie sich nicht mehr zurück. Das Telefon prallt von der Wand ab und bleibt geschunden am Boden liegen.
Paula genießt einen Moment die Stille, und dann schreit sie.