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Entrümplung
Es war ein unechtes Gefühl. So als spielte ich es nur. Ich beobachtete in der Schule, wie Brüder zueinander waren. Benjamin und Gustav Gladbeck, zwei Brüder. Benjamin natürlich der jüngere. Zwei Jahre auseinander, Benjamin eher robust und rotgesichtig, Gustav hager und schlaksig, ein wenig linkisch, der war in meinem Alter.
Sie mochten sich, glaube ich, gar nicht. Respekt spielt in dem Alter sowieso keine Rolle, aber doch wenn man sie gefragt hätte, ich vermute: Beide hätten bezeugt, einander zu lieben. Eine Art angeborene, irgendwo im Geist versteckte Liebe, verborgen in einer Blackbox wie die Anlage des Säuglings zu sprechen. Ein Kind kann jede beliebige Sprache lernen, mit der es aufwächst. Es hat die Anlagen für alle, das Justieren ist das Problem.
Gustav und Benjamin, ich hätte sie fragen sollen, wie sie es machen. Was das für eine Liebe war. So eine Art Rudelinstinkt, dass sich beide auf dem Schulhof spinnefeind sein konnten, aber dann, wenn einer von beiden bedroht wurde, der andere ihm doch zu Hilfe kam. Ich verstehe das nicht. Ich hätte sie fragen sollen.
„Du hast nie von ihm erzählt“, stellt Sabine nüchtern fest. Ich hätte ihr den Brief nicht gezeigt, sie öffnet einfach meine Post. Ich hab ihr das nie erlaubt, es hat sich so eingeschlichen. Man ist zu bequem, ihr das Brotmesser aus der Hand zu nehmen, mit dem sie ihre eigenen Briefe öffnet, und dann fragt sie, so als wäre nichts dabei: „Hier ist auch ein Brief von der Sparkasse an dich, soll ich ihn aufmachen?“, und man sagt: „Ja, warum nicht.“ Ist mit den Augen vielleicht noch bei der Tageszeitung, weil man liest, dass Gustav Gladbeck heiratet. Und auf einmal öffnet Sabine jeden Brief.
„Da gibt es nichts zu erzählen“, sage ich. „Ich kannte ihn kaum.“
„Du gehst aber schnell ins Präteritum“, sagt Sabine.
Und man schaut sie an und denkt: „Mein Bruder ist tot, red nicht vom Präteritum“ und es erschreckt mich, dass sie mich nicht in den Arm nimmt. Dass sie weiß, es ist nicht notwendig. So, dein Bruder ist tot, kann ich dir was vom Bäcker mitbringen?
„Wir müssen runter nach Detmold. Wo zum Teufel liegt Detmold?“
„Unten. Hast du doch gerade beschlossen“, sage ich. Bei Sabine liegt alles immer unten.
„Machen wir das gleich morgen, dann hast du es hinter dir.“
„Wir machen gar nichts“, sage ich und reiße ihr den Brief aus der Hand, weil mir der Informationsvorsprung auf die Nerven geht. Ich überlege, mir eine Wimper rauszurupfen, am besten so, dass sie es nicht sieht, aber das ist nicht nötig.
„Bitte“, sagt sie. „Wenn du wieder deine Phase hast ...“ Sabine verlässt den Raum, ich stehe da mit dem Schreiben. Bedauern, tot, Detmold.
Ich konnte nicht einmal mit einem lebenden Bruder umgehen. Was fange ich mit einem toten an?
Mein Bruder war älter als ich, viel älter. Sieben Jahre, das ist eine Ewigkeit. Wir waren nie auf derselben Schule. Das Gymnasium ist in einem anderen Gebäude als die Mittelpunktschule, die Mittelpunktschule in einem anderen als die Grundschule. Wenn ich von irgendetwas auf dem Schulhof bedroht wurde, war ich mein eigenes Rudel.
Wir haben auch zu Hause nie gesprochen, mit ihm wurde über mich gesprochen, ja: „Kümmere dich um deinen kleinen Bruder“, hieß es, und „Nimm doch mal deinen kleinen Bruder mit.“
Ich hätte mich auch gehasst.
Es fühlt sich schon unecht an, wenn ich daran denke. Unechte Menschen in unechten Orten, die unechte Dinge tun. Klar, ich hatte einen Bruder. Ja, ich hatte eine Kindheit, aber das gehört nicht hier her.
Ich habe Sabine nichts von ihm erzählt, weil es nichts zu erzählen gab. Ich war neun, als er weg ist. Acht, als er das erste Mal ein Mädchen mit an den Frühstückstisch brachte. Sechs, als er einen Malwettbewerb gewann. Fünf, als ein Artikel in der Zeitung über ihn war, Wunderkind. Was weiß ich, was er mit dreizehn gemacht hat. Zwei Katzen aus einem brennenden Haus gerettet. Eine neue Farbe erfunden. An die Decke seines Zimmers ein verdammtes Fresko gekleistert.
Mit elf hatte ich die Ohren voll von ihm. Von seinem Namen, von dem Porträt meiner Mutter, auf das ich jedes Mal beim Essen glotzen musste. Es sah ihr nicht einmal ähnlich. Blau und gelb, wild gemischt, ein paar Augenbrauen konnte man vielleicht erkennen, aber darauf angesprochen nur hohle Luft: „Das Wesen erkannt, die Essenz.“ Ich war elf und hab gemerkt, dass das Bullshit war.
Mit fünfzehn schaute ich irgendwann in die Buchstabensuppe und auf das Porträt meiner Mutter und mir fiel auf, dass wir seit drei Wochen nicht mehr über ihn gesprochen haben.
„Was grinst du denn so?“, hat mich mein Vater damals gefragt.
„Nichts“, hab ich gesagt.
„Du machst doch da keine schweinischen Wörter mit der Buchstabensuppe, oder?“
Ich hab hoch geschaut und ihm zugezwinkert und er hat zurückgezwinkert. Wahrscheinlich war ich ihm nicht so unheimlich wie sein ältester Sohn. Vor drei Wochen hatte er aufgehört, in unserem Haus zu existieren.
Von der Kunsthochschule sei er ohne Abschluss abgegangen, hörte man. Eine Vernissage verklage ihn, erzählte man sich. Er hätte sich mit einer Zigeunerin eingelassen, sei vom christlichen Glauben abgefallen, lebe unter eine Brücke, sei nach Kanada ausgewandert, arbeite für Ärzte ohne Grenzen, sei mit einer Lustseuche infiziert, gehe nicht mehr ans Telefon, studiere bei einem großen Meister, habe sich umgebracht. Munkelte man.
„Warum grinst du so?“, fragt mich Sabine. Sie ist vom Bäcker zurück.
Ich schaue auf und sage: „Things to do in Detmold, when you’re dead.“
„Ich find das nicht komisch”, sagt sie. „Meinst du das ernst, du willst das alleine machen?“
So als wäre das ein Rückschritt in unserer Beziehung, als wolle ich sie nicht dabei haben, damit ich die Verlobung noch eine Stück nach hinten schieben kann.
„Ja, das meine ich ernst“, sage ich.
„Soll ich dir den Zug buchen?“
Ich nicke.
„Für wann?“
„In zwei Wochen.“
„Das ist ein Samstag dann.“
„Das ist mir egal“, sage ich.
Zwei Wochen sind eine gute Zeit, dann ist er unter der Erde.
Der Brief kam vor zwei Wochen. Mein Bruder ist tot.
Sabine hat meinen Koffer gepackt, ich weiß gar nicht, was drin ist. Hemden, nehme ich an. Zwei Wochen sind viel zu kurz, ich hätte Urlaub von der Nachricht gebraucht.
„Drück dich ja nicht“, hat Sabine schon einen Tag nach dem Brief gesagt, aber nicht mehr angeboten mitzufahren.
Detmold liege in Ostwestfalen-Lippe, erklärte sie mir. Habe ungefähr 74.000 Einwohner und sei bekannt für die historische Altstadt und den Lippischen Pickert, was wohl so eine Art Reibekuchen ist.
Oh, und es liege im Westen. Ich müsse in Hannover umsteigen, in Löhne und in Herford. Wie lange es denn dauere, fragte mich Sabine, wegen der Rückfahrt.
„Darum kümmere ich mich“, habe ich gesagt.
Ich weiß gar nicht, was ich hier soll. Ich hatte achtundzwanzig Minuten Aufenthalt in Herford. Was hab ich erwartet? Dass mich am Gleis jemand mit einem Reibekuchen empfängt?
Die Bahnfahrt ist gegenstandlos, so als reise man in einem mobilen Vakuum, im Inneren eines Reinraums. Niemand ist je in meiner Kabine, auf dem Gang huschen Schemen vorbei. Ich stelle mich schlafend, wenn ich jemanden sehe. Das Bordmagazin berichtet von einem asiatischen Konzertvirtuosen. Mir wird schwindlig, wenn ich während der Fahrt lese.
Das Konzept, einen Bruder zu haben, hätte mir sogar gefallen können. Vielleicht ist der Gedanke schon eine ausreichende Form der Trauer.
Keiner wird mir für diese Fahrt danken. Es ist niemand zum Danken mehr übrig.
Ich steige in Detmold aus und denke: „Hier, war erst der Reibekuchen. Herford ist vielleicht bekannt für Linsensuppe. Herforder Linsensuppe, die hat schon Napoleon hier in Herford gelöffelt und gesagt: „Quel magnifique, c’est le soupé du linsen!“ Mein Bruder hat bestimmt französisch gesprochen, die Sprache der Kunst und Italienisch auch. Latein für den Kopf, Englisch fürs Geschäft, Italienisch für die Liebe und Französisch für die Kunst.
Karl der Große hat das gesagt: „Ich spreche Spanisch zu Gott, Italienisch zu den Frauen, Französisch zu den Männern und Deutsch zu meinem Pferd.“
Der Taxifahrer kommt irgendwoher aus dem Ostblock. Er ist Tscheche, Slowake, Bulgare, ich weiß es nicht.
Als er mich rauslässt, denke ich, er kommt mit. Dass er fragt, ob er mitkommen kann. Dass er irgendetwas sagt. Nein. Transaktion abgeschlossen, ich stehe vor dem Haus, in dem mein toter Bruder gewohnt hat.
Sabine hat mit dem Vermieter gesprochen. Der Schlüssel kam erst vor drei Tagen. Er muss in einer geheimen Tasche des Koffers sein, irgendeine abstruse Seitenöffnung, Sabine hat so etwas gesagt.
„Er müsste doch ein Atelier gehabt haben, wenn er Maler war“, hab ich mehr zu mir als zu ihr gesagt.
„Er hat gemalt?“, hat sie gefragt, mit diesem obszönen Blick, den alle Frauen haben, wenn sie über Maler sprechen. So als wäre das, ich weiß es nicht. Irgendetwas ganz Besonderes. Etwas Kosmisches.
Ich habe den Raum verlassen.
Ich schließe die Tür zu seiner Wohnung auf.
Ich habe Leichengeruch erwartet. Manchmal, wenn ich an meinen Bruder gedacht habe, hatte ich den Gestank verbrannten Fleisches in der Nase. Tote Menschen riechen wie eine Grillfeier. Ich hab mal gelesen, Geruchseinbildungen seien ein erstes Anzeichen eines Hirntumors. Ich dachte, es rieche so, als öffne man den Mülleimer, in den man ein paar Tage zuvor eine überreife Banane geworfen hat. Nur fleischiger und herzhafter.
Aber es riecht … muffig. Nach abgestandenem Tabakdunst, nicht nach Terpentin, sondern nach Nikotin. Hier muss er gelebt haben. Auf der braunen Couch hat er gesessen, natürlich kein Fernseher da, nicht mal Bücher, eine karge Wohnung, eine Wohnung ohne Eigenschaften.
Sofa, Tisch, Magazine. Vielleicht wurde eingebrochen? Das ist doch eine Fernsehzeitung. Ich schaue auf das Deckblatt, sie ist drei Jahre alt.
„Das ist okay“, sage ich zu der Frau auf dem Titelblatt. „Du willst nicht, dass dich jemand kennenlernt. Denk ja nicht, dass mich das nun reizt.“
Ich schiebe die braunen Vorhänge zur Seite. Er ist im Schlafzimmer gestorben, eine Nachbarin hat ihn gefunden, wenigstens nicht durch den Verwesungsgestank. Er war mit dem Reinigen des Treppenhauses dran.
Das hätte mir gefallen, ihn mit gelben Handschuhen über die Fliesen rutschen zu sehen, aber wahrscheinlich hat er es elegant gemacht, im Stehen und den Mob wie einen Pinsel geschwungen. Hätte den Boden in Sektoren eingeteilt und das Putzzeug verteilt wie Farbe.
Die Nachbarin hat ihn gefunden, sie hat einen Schlüssel zu seiner Wohnung.
„Sie sagt, manchmal sei er wochenlang nicht zu Hause gewesen und sie hat dann bei ihm gelüftet.“ Sabines Stimme in meinem Kopf wieder. Sabine hat mit der Nachbarin gesprochen. Eine junge Frau, sagte sie. Sie habe aufgelöst geklungen. Sagt es wie einen Vorwurf an mich. Mit wem hat Sabine denn alles telefoniert? Vermieter, Nachbarin, Gerichtsmediziner, die örtlichen Maler wird sie ebenfalls abtelefoniert haben, wenn es so was in der Heimat des berühmten Reibekuchens geben sollte.
Ich könnte rüber gehen zu der jungen Nachbarin. Könnte sie fragen, ob ich das Porträt sehen kann, das er von ihr gemalt hat. Er hat bestimmt eins gemalt. Verzückt war sie, als er es gemalt hat. Verzückt: Ein junges Gefühl, wenn es altert, nennt man es „Sie ist aufgelöst.“
Hat wahrscheinlich gedacht, sie geht in die Kunstgeschichte ein. Ich würde es gern sehen und ich sehe es auch vor mir. Rot und gelb, wild gemischt, irgendwelche Augenbrauen. „Hach, die Essenz.“
Als meine Mutter tot war, hab ich mir das Porträt noch mal angesehen und gedacht: „Komm, dann sprich doch zu mir, wenn du es bist. Wenn du die Essenz meiner Mutter in dir hast, dann sprich doch mit mir.“ Aber das Porträt war stumm. Waren nur ein paar Farben und Augenbrauen. Wenn da die Essenz von irgendwas drin gewesen wäre - das ist ja ein heidnischer Glaube, so als könne man dem Menschen die Seele nehmen, wenn man ihn fotografiert -, dann wäre meine Mutter jahrelang rumgerannt, als hätte ihr etwas gefehlt.
Während ich in der Wohnung stehe, überlege ich, was ich Sabine erzähle. Ich hätte sein Tagebuch gefunden, werde ich sagen.
„Er hat schon lange mit dem Malen aufgehört, er hat einfach erkannt, dass er nicht gut genug war. Er war nichts Besonderes.“ Ich werde vortäuschen, ein Grinsen zu unterdrücken. „Er dachte, er könnte tief in sich selbst sehen, aber da war es dunkel und kalt. Ein Irrgarten war drin und er hatte Angst, hinabzusteigen. Er hätte sich verlaufen, ohne jemandem, der ihm die Laterne hält.“
Sabine wird nichts sagen.
„Er hat als Taxifahrer gearbeitet, ich denke mal, er hat sich umgebracht. Tabletten. Mit der Nachbarin lief wohl wirklich was. Da hattest du Recht. Ach komm, du hast es doch angedeutet, tu nicht so.“
Sabine wird nach unten schauen auf ihre Fußspitzen und so tun, als hätte ich nichts Böses über meinen toten Bruder gesagt.
„Mehr gibt es über ihn nicht zu erzählen“, werde ich sagen und den Raum verlassen.
Ich schaue aus dem Fenster, die braunen Vorhänge links und rechts von mir. Sabine hat noch einen Termin gemacht. Mit einem Entrümpler, Wohnungsauflösung und Söhne. In ein paar Stunden wird er kommen. Ich werde mich mit ihm treffen und ihm sagen: Alles weg. Bis dahin werde ich in einem Café warten und vielleicht Reibekuchen essen.
Bevor ich gehen kann, drehe ich mich um, gehe an dem Sofa vorbei ins Schlafzimmer. Dort sind sieben Gemälde. Zwei an der linken Wand, zwei über dem Bett, drei an der Wand davor. Ich schließe die Augen, ich sehe nur ein paar Farben. Ich weiß nicht, ob sie gut sind oder schlecht. Ich habe kein Auge dafür.
„Was ist mit den Bildern?“, wird ein Anruf des Entrümplers kommen.
Und Sabine wird drangehen und – Nein.
„Im Schlafzimmer hängen noch ein paar Kritzeleien“, werde ich dem Entrümpler gleich sagen, während ich etwas Reibekuchen esse. „Verbrennen Sie die doch einfach.“