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Erinneralität
Als Heinrich elf Jahre alt war, hatte sein Vater die Mutter während eines Streites am Hals gepackt, und so lange zugedrückt, bis sie sich nicht mehr bewegte.
Anschließend hatte er Heinrich befohlen, ihm einen Kasten Bier aus dem Schuppen zu holen.
In den frühen Morgenstunden war Heinrich dann bewusst geworden, dass seine Mutter sich niemals mehr bewegen würde, und da hatte er geweint.
So erzählt er heute von damals, wenn man ihn danach fragt.
Der Bus kommt zu spät, überlegt er, und tritt unsicher von einem Bein aufs andere.
Warum kommt der Bus immer dann unpünktlich, wenn man es selbst auch eilig hat?
Er zündet sich eine Zigarette an, versucht, die wartenden Leute zu übersehen, damit sie ihn vielleicht auch übersehen. Manchmal gelingt ihm das sogar, sich vorzustellen, unsichtbar zu sein; oder besser noch: nicht zu existieren. Kann man sich vorstellen, einfach nicht da zu sein?
Aber der frühe Mittag bringt jetzt zu viele Menschen mit sich, was Heinrichs Bemühungen von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Er wird nervös, saugt gierig, bis der Filter heiß wird an den Lippen. An manchen Tagen, redet er sich ein, liegt eine bedrohliche Aura in der Luft. Dann ist das Unheil beinahe greifbar. Heinrich ist überzeugt davon, dass er dann besser zu Hause bleiben sollte.
Aber das geht nicht. Wenn er die Termine verpasst, bringt man ihn vielleicht wieder in die Klinik, und von der hat er genug.
Endlich kommt der Bus, fährt viel zu weit vor, so dass Heinrich ihm hinterhereilen muss. Die Hände hat er tief in den Taschen versenkt.
Wenn du jetzt fällst, wirst du dir die Nase brechen ... wenn du mir jetzt ins Wort fällst, werde ich dir die Nase brechen.
Hydraulisches Schnaufen. Der Bus neigt sich zur Seite, die Türen öffnen sich.
Erst die Leute aussteigen lassen. Du willst mit niemandem Ärger anfangen.
Viel zu wenige kommen heraus, und eindeutig zu viele steigen ein. Einen Sitzplatz kann er vergessen. Es wird zu einem Gedränge kommen.
Heinrich muss sich ganz klein machen, damit er von den anderen, normalen Fahrgästen nicht zerquetscht wird. Er drückt die Schultern zusammen, dass die Gelenke schmerzen. Er stellt sich vor, wie er sich selbst ineinander drückt, bis nichts, außer einem Strich bleibt.
Wo soll er sich festhalten? Überall sind Hände; greifen und klammern nach Stangen oder Schlaufen. Heinrich muss sich beeilen, sonst wird er beim Anfahren umkippen, mitten in all diese gierigen Hände, und sie werden nach ihm schlagen, solange, bis er ...
"Ey, pass auf, Alter."
Jetzt ist es passiert! Jetzt gibt es Ärger!
Erst Sekunden später begreift Heinrich, dass gar nicht er gemeint gewesen ist. Zwei Jugendliche streiten sich im Mittelraum des Busses, der in diesem Augenblick losfährt.
Heinrich fällt nach rechts, gegen die Schulter eines großen Mannes.
"Entschuldigen Sie bitte", sagt er viel zu laut.
"Kein Problem." - Der große Mann wendet seinen Blick wieder dem Fenster zu. Heinrich bricht der Schweiß aus.
Fünf Haltestellen. Wie soll er die nur aushalten. Zu allem Übel steht er auch noch in Türnähe; also potenziell im Weg. Man wird ihn bei jedem Halt als Hindernis betrachten.
Und plötzlich weiß er: Das, und nur das, ist die Hölle, und du bist mittendrin.
Und noch ein Gedanke schleicht sich mit erbitterter Trägheit durch seinen Geist: Das hast du so verdient.
Eine Viertelstunde später findet sich ein zitternder Mann vor dem alten Gebäude ein.
Die herbstliche Sonne taucht die Szenerie in goldenes Licht. Rote und gelbe Blätter werden behutsam vom Wind getragen.
Ob es Feen gibt, die ganz doll pusten müssen? Wenn der Wind nachlässt, sind sie dann erschöpft, oder gar gestorben? Er versucht, sich eine tote Fee vor Augen zu holen. Verfault und mit abgeknicktem Flügel.
Heinrich verliert sich fast in diesem Anblick, betritt dann jedoch die Eingangshalle.
Kalt. Hier ist es kalt. Die Sonne ist verschwunden.
Der Fahrstuhl knarrt und quietscht; eine Frau schließt einen Regenschirm, der wie Delphinhaut glänzt und dann verschrumpelt.
"Herr Marlus wäre jetzt da", spricht die Dame ins Gegensprechgerät.
Wie seltsam, dass er jetzt da wäre. Vielleicht ist Heinrich ja gar nicht da, hat sich endlich aufgelöst. Bloß eine Möglichkeit, seine Anwesenheit hier. Das wäre schön.
Wieder schießen Fragen durch sein Hirn, die ihm gar nicht gut tun. Zwanghafte Vorgänge, da kann man nichts machen. So oder so ähnlich hat der Herr Doktor es einmal formuliert. Ganz los werde man Neurosen nie.
"Nehmen Sie bitte noch einen Augenblick Platz." - Wie sie das sagt, ohne Augenkontakt. Ist er unhöflich zu ihr gewesen?
Auf dem Weg ins Wartezimmer rekapituliert Heinrich das Geschehene zum ersten Mal.
Er ist aus dem Fahrstuhl gekommen, hat sich um ein Lächeln bemüht, sich mit vollem Namen angemeldet, obwohl die Dame ihn kennt. Zu welchem Zeitpunkt ist er dabei unfreundlich geworden ... war das Lächeln seinerseits überhaupt sichtbar, oder hat er es bloß erfunden?
Auf dem Weg vom Wartezimmer in den Behandlungsraum rekapituliert er das Geschehene zum dreißigsten Mal.
Es ist ein gedanklicher Flash gewesen, und unverhofft explodierten tausend Scheiben in Millionen Splitter. Die Hände brutzelten heiß auf den Wangen, im schnellen Rhythmus, während ein Sexfilm im Videorekorder abgespielt wurde.
Mutter ist tot, Mutter ist tot.
Die Mama ist tot!
"Schönen guten Tag, Herr Marlus." - Bis auf das letzte Wort klingt alles wie eine Bandansage aus dem Mund des Arztes. Mit Namen tut er sich immer schwer.
"Wie geht es Ihnen? Mit der Medikation noch alles in Ordnung?"
Heinrich dirigiert sich zappelnd auf den Ledersessel.
"Gut", antwortet er. - "Nur die Kopfschmerzen, die sind ..."
"... unerlässlich", beendet der Arzt den Satz.
Heinrich nickt.
"Ja, weil ich bestraft werde."
Ein schweres Brillengestell wird nach oben gerückt, landet auf einem Nasenhöcker. Linke Augenbraue zieht sich hoch, die rechte driftet ins gedankliche Nirvana. Die Lippen finden keine konkrete Stellung und verharren irgendwo zwischen Nachdenklichkeit und Stumpfsinn.
Ein Kugelschreiber wird aus der Brusttasche gezückt. Notizen entstehen, werden wieder verworfen und in abgeänderter Weise neu formuliert.
Klackende Miene, knarrende Stühle. Eine Uhr tickt. Heinrich geht es schlecht.
Seine Augen suchen die Ferne jenseits des schmalen Fensters. Die Sonne ist weg. Ein Regenschauer.
"So kommen wir nicht weiter, aber das wissen Sie bereits."
"Ich habe wieder geträumt, wie mein Vater sie erwürgt."
Der Arzt schüttelt den Kopf.
"Herr Marlus, das ist nie passiert. Ihre Mutter starb an akutem Lungenversagen."
Heinrich wehrt ab.
"Nein, ich ... ich meine, mein Vater ... er hat ... und wenn ich sie erwürgt habe? Ich werde diese Angst nicht ..."
Schweigen.
Halt dein Maul, du Bastard!
Halt doch selbst dein Maul, du Fotze!
Alles zerbricht.
Seine Angst ist plötzlich verflogen, als Heinrich sich bewusst macht, dass er den Weg zurück zu Fuß antreten kann. Nun muss er ja keinen Termin mehr einhalten.
Ein hagerer Typ mit weiter Hose und dreckigem Pullover stellt sich in einer Seitenstraße vor ihn, und zieht ein Messer aus der Tasche.
"Hast du Geld dabei?"
Das ist es endlich, denkt Heinrich, und überlegt, wie er reagieren soll.