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Erwachen
Ich werde durch das Kitzeln von Sonnenstrahlen auf meiner Nase geweckt. Ich bin noch halb in meinem himmlischen Traum gefangen. Angelika ist darin bei mir gewesen, hat mich mit ihren weichen, zarten Fingern liebkost. Doch es ist nur ein Traum gewesen,
das weiß ich. Sie ist nicht hier bei mir.
Verschlafen öffne ich die Augen und drehe den Kopf. Das Schlafzimmer liegt zu Teilen im Dunkeln, nur durch die Schlitze der Jalousie fällt Licht hinein. Neben mir liegt Lili
schlafend auf dem Bett, zusammengekauert und eng an mich geschmiegt. Eine Weile beobachte ich sie, sehe wie sich ihre kleine Brust im Takt ihrer Atmung hebt und senkt. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, rücke ich schließlich von ihr weg und setze mich auf. Ich bin noch immer nicht ganz wach, recke und strecke mich in dem Versuch, die
bleiernde Müdigkeit aus meinen steifen Gliedern zu verteiben.
Mein Magen bittet in diesem Augenblick knurrend um Aufmerksamkeit. Seit drei Tagen habe ich nun nichts mehr gessen und langsam beginne ich die Schwäche zu spüren, die sich in meinem Körper breit macht. Meine Knie sind zittrig, der Blick manchmal etwas
verschwommen. Lili geht es nicht viel besser, das spüre ich. Sie ist so zierlich und so viel schwächer als ich. Wenn sie nicht bald etwas zu essen bekommt, wird sie es womöglich nicht schaffen.
Ich erhebe mich vom Bett und gehe zur Schlafzimmertür. Diese steht weit offen und führt direkt in den schmalen Wohnungsflur. Von dort aus schlurfe ich langsam ins Badezimmer. Die Toilette riecht nach Kot und Urin. Ich versuche nicht zu atmen, während ich mein Geschäft verrichte um so schnell wie möglich in den Flur zurück zu kehren.
Nach kurzem Überlegen suche ich schließlich die Küche auf, in der Hoffnung, doch noch etwas Essbares zu finden. In der Spüle stapelt sich dreckiges Geschirr, obenauf eine Müslischale, in der noch ein Rest Milch steht. Ich rieche vorsichtig daran - verdorben. Wider besseren Wissens probiere ich trotzdem davon, nur um den faulen Geschmack meines leeren Magens im Mund zu überdecken. Ich bereue es nahezu im selben Moment.
Auf dem Küchentisch steht noch ein halb volles Glas abgestandenes Wasser. Ich nehme einen großen Schluck, diesmal hauptsächlich, um den Geschmack der verdorbenen Milch aus meinem Mund zu spülen, dann kehre ich der leeren Küche den Rücken zu und begebe mich in das Wohnzimmer. Der alte Teppich fühlt sich rau an unter meinen Füßen,
daher setze ich mich auf das kleine Sofa mit dem geblümten Stoffüberzug. Es ist weich und kuschelig und ich schlage die Beine unter meinen Körper um sie warm zu halten.
Im Schlafzimmer ist Lili aufgewacht. Sie ruft nach mir, in ihrer Stimme schwingen Angst und Verzweiflung mit. Auf meine Antwort hin kommt sie zu mir gerannt, lässt sich neben mir auf der Couch nieder und kuschelt sich an mich. Sie wirkt so schwach und zerbrechlich, ich traue mich kaum sie zu berühren, aus Angst sie könne unter mir zerbrechen. Daher halte ich ganz still und versuche, ihr durch meine bloße Anwesenheit Trost zu spenden.
Viele Gedanken fliegen mir in den folgenden Stunden durch den Kopf. Wo bleibt Angelika? Was hat sie aufgehalten? Noch nie hat sie Lili und mich so lange Zeit alleine gelassen. Weiß sie denn nicht, dass wir hier auf sie warten? Es sind die gleichen Gedanken, die ich auch gestern hatte, und am Tag davor. Doch Angelika ist noch immer nicht wieder hier und das sorgt mich.
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Ich bin wohl wieder eingeschlafen, denn das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein klopfender Laut in meinem Rücken, der mich weckt. Ich brauche einige Zeit, bis ich weiß wo ich bin, dann schnellt mein Kopf nach oben und ich suche nach der Ursache des Geräuschs. Es ist der Regen, der gegen die große Fensterscheibe schlägt. Draußen ist es dunkel geworden, graue Wolken bedecken den Himmel. Neben mir schaut Lili aus
müden Augen zu mir auf. Durch meine plötzliche Bewegung habe ich sie geweckt. Ich bedeute ihr, beruhigt weiter zu schlafen und schaue aus dem Fenster. Auf der Straße, fünf Stockwerke unter mir fährt gerade ein Auto durch eine Pfütze. Es ist offenbar sehr windig draußen, denn ich sehe, wie eine alte Frau große Mühe hat, ihren Schirm
aufzuspannen, außerdem spüre deutlich einen Luftzug zwischen Fenster und Rahmen. Typisches, graues Herbstwetter.
Da plötzlich höre ich ein Knacken an der Wohnungstür. Gespannt springe ich auf und renne in den Flur. Lili hat es auch gehört und läuft aufgeregt neben mir. Sollte Angelika endlich wieder nach Hause kommen? Ich höre wie ein Schlüssel in das Schloß gesteckt und herumgedreht wird. Noch nie hat ein Geräusch in meinen Ohren so wunderbar
geklungen, so viele herrliche Versprechen liegen in diesem einen Laut. Erwartungsvoll trete ich von einem Bein auf das andere, die Tür öffnet sich - zum ersten Mal seit drei Tagen - und ich erstarre förmlich bei dem Anblick, der sich mir bietet.
Es ist nicht Angelika, die in der Tür steht, sondern ein fremder, junger Mann. Er ist groß, hat dunkles, kurzes Haar und trägt einen edlen Anzug. Vage erinnert er mich an Angelikas Mann, der bis vor einiger Zeit mit uns zusammen gelebt hat. Er hat Sonntags auch immer einen Anzug getragen, aber sein Haar ist nicht schwarz, sondern weiß
gewesen.
<<Hier sind sie,>> sagt da der fremde Mann in der Tür - zu wem vermag ich nicht zu sagen. Es ist mir in diesem Augenblick auch ziemlich egal. Meine Gedanken rasen wie wild, meine Nackenhaare sellen sich auf. Wer ist der fremde Mann? Was will er hier? Was soll ich tun? Mein Instinkt gibt mir den entscheidenen Hinweis - ich ergreife die Flucht und stürme ins Wohnzimmer zurück, dicht gefolgt von Lili, die ähnliche Gedanken zu haben scheint.
Im Wohnzimmer angekommen, zwänge ich mich eilig in den freien Platz zwischen Couch und Fenster. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie sich Lili hinter einem langen Vorhang versteckt. Ihre Augen sind weit aufgerissen und sie zittert fürchterlich. Ich will zu ihr herübergehen, sie trösten, sie beschützen, doch in diesem Augenblick höre ich, wie jemand das Wohnzimmer betritt. Starr vor Angst verharre ich an meinem Platz.
<<Sind Sie sicher, dass Sie die beiden nicht bei sich aufnehmen wollen?>> höre ich eine Frauenstimme fragen. Vorsichtig blicke ich aus meinem Versteck hervor, um zu sehen, wem diese Stimme wohl gehören mag. Das einzige was ich sehe, ist ein Paar brauner Schuhe.
<<Absolut,>> antwortet die Stimme, die zu dem fremden Mann gehört. <<Ich bin berufstätig und ständig geschäftlich unterwegs. Ich kann mich wirklich nicht um sie kümmern. Auch wenn meine Mutter es anders gewollt hat, es geht wirklich nicht.>>
Ich höre seine Worte, doch ihr Sinn will sich mir nicht erschließen. Wovon reden die beiden? Was wollen sie hier? Wo ist Angelika?
<<Nun gut,>> sagt die Frauenstimme. <<Dann wollen wir mal schauen, wie wir an die beiden heran kommen.>>
Die braunen Schuhe bewegen sich aus meinem Sichtfeld heraus und wandern langsam Richtung Wohnzimmerfenster. Zu spät erkenne ich, was vor sich geht. Ich rufe Lili noch eine Warnung zu, doch dann ist es schon zu spät. Von meinem Platz hinter der Couch sehe ich, wie sie gepackt wird und lange, mit Handschuhen bedeckte Hände ihr einen
dunklen Sack überstülpen. Ich höre sie schreien, sehe wie sie sich wehrt, doch sie hat keine Chance. Sie ist viel zu schwach. Bevor ich reagieren kann ist der Sack zugezogen und die Frau mit den braunen Schuhen aus dem Wohnzimmer verschwunden.
Ich überlege fieberhaft. Was soll ich tun? Hinterher rennen, und hoffen, dass ich Lili retten kann? Warten und hoffen, dass sie mich in meinem Versteck nicht finden? Fliehen? Aber wohin? In der Tür seht noch immer der fremde Mann und die Fenster sind alle geschlossen.
Noch bevor ich mich entscheiden kann, sehe ich die braunen Schuhe zurück ins Zimmer kommen. Angespannt verharre ich hinter der Couch. Hoffentlich finden sie mich nicht. Wenn ich keinen Laut von mir gebe, werden sie sicher wieder gehen. Aber was geschieht dann mit Lili? Ich habe furchtbare Angst, sorge mich um Lili. Ich kann mich nicht bewegen, nur beobachten. Während ich steif auf dem Boden kauere, sehe
ich, wie die braunen Schuhe immer näher auf mich zu kommen. Ich will aufspringen, kann mich aber nicht rühren, will weglaufen, doch meine Beine gehorchen mir nicht.
Die braunen Schuhe haben mich fast erreicht, Jetzt muss ich laufen, das ist meine letzte Chance. Doch zu spät. Die behandschuten Finger haben mich erreicht, packen mich grob und ziehen mich vom Boden hoch. Ich schreie vor Überraschung und Angst laut auf, kann mich plötzlich wieder bewegen und schlage, kratze und beiße nach allem, was um mich herum ist. Aus weiter Ferne höre ich, wie Lili mir antwortet, mir ihre Verzweiflung und Angst entgegenschreit.
Alles Kämpfen bringt nichts. Auf einmal wird es dunkel um mich herum und ich verliere die Orientierung, weiß nicht mehr wo ich bin oder was um mich herum geschieht. Meine Gedanken rasen, ich überlege was ich tun, wie ich der Frau in den braunen Schuhen entkommen kann. Doch schon wenig später höre ich auf, mich zu wehren, erschlaffe in dem schwarzen Sack, in den man mich gesteckt hat und dann weiß ich nichts
mehr.
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Zum zweiten Mal in kurzer Zeit erwache ich durch das Kitzeln von Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Im Gegensatz zum letzten Mal bin ich jetzt jedoch schlagartig wach. Ich springe auf und schaue mich hektisch um. Ich bin in einem engen Raum mit grauen, kalten Wänden. Auf einer Seite ist ein kleines Fenster, durch das ein wenig Sonnenlicht hereinfällt, auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich eine schmale Holztür. In einer Ecke des Raumes entdecke ich Lili, zusammengekauert und schlafend, aber am Leben. Mein Herz macht einen Sprung vor Freude und Erleichterung, sie zu sehen.
Genau in diesem Moment öffnet sich die Tür zu unserem Gefängnis und ich sehe eine Frau auf mich zu kommen. Es ist die gleiche Frau, die uns zuvor aus unserem Zuhause entführt hat. Meinem ersten Instinkt folgend stelle ich mich schützend vor Lili. Wer weiß, was die Frau diesmal von uns will. Doch sie kniet nur vorsichtig in der Mitte der
kleinen Zelle nieder und stellt eine Schüssel Wasser auf den Steinboden. Das letzte, was ich sehe, bevor sie sich umdreht und den Raum wieder verlässt, ist ein Namensschlid auf ihrer rechten Brust, auf dem in dicken, schwarzen Buchstaben Tierpflegerin Sandra steht.