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Es duftet nach Brot
„Eine Frau kam herein. Was soll ich ihnen darüber sagen? Ich kann nur sagen: sie kam herein.“
Anna Seghers, Transit
„Mach mal Räuberleiter.“ sage ich zu ihr. Sie legt ihre Handflächen ineinander, so wie wir es als Kinder früher immer gemacht haben. Aber damals war ich leichter. Als ich mit dem Fuß auf dieses künstliche Trittbrett trete, verzieht sie das Gesicht vor Schmerz. Ich zwänge mich durch die schmale Luke, lege mich draußen flach hin, reiche ihr meine Arme rein und ziehe sie bäuchlings nach draußen. Lachend liegen wir nebeneinander auf dem betonierten Platz.
Jemand hatte uns versehentlich im Keller in der Umkleide eingeschlossen. Ich vermute, es war der Nachtwächter, als er seinen Rundgang gemacht hat. Wir laufen außen an der hellerleuchteten Produktionshalle entlang bis zum Eingang. Aus den aufgeklappten Fenstern dringt der Geruch von frisch gebackenem Brot zu uns nach draußen.
Aber an allem ist mal wieder nur die wilde Sally schuld. Sogar, wenn sie durch die offene Tür in eine S-Bahn reinstürmte, erwischte sie mit Sicherheit ein Abteil, wo einer hingekotzt hatte, und ich hatte die ganze Fahrt immer den Geruch in der Nase.
Natürlich heißt sie ganz anders, englische Namen waren bei uns im Osten vor der Wende nicht üblich, aber gleich zu Anfang, als ich sie kennenlernte, dachte ich sofort: „Das ist sie." Für mich war sie Sally Bowles aus „Cabaret.“, obwohl sie ihr überhaupt nicht ähnlich sah.
Es soll ja Leute geben, die den Film nicht kennen. Der Film spielt im Berlin Anfang der Dreißigerjahre. Sally Bowles will Schauspielerin sein, singt in Nachtclubs und träumt von der Ufa.
Das war fünfzig Jahre, bevor wir beide uns in der Großbäckerei kennenlernten.
Sie, mit ihren verrückten Ideen, die immer die Rolltreppe in der U-Bahn verkehrt herum hochlief - obwohl ich nur drei oder vier Jahre älter bin, kam ich mir ihr gegenüber schon richtig alt und gesetzt vor - hatte mich überredet, während oben das Band stand, und die Schlosser am Reparieren waren, mit ihr gemeinsam nach unten in die Umkleidekabinen zu gehen.
Zum Glück steht das Band immer noch, als wir zurückkommen, und die Schlosser sind immer noch beim Reparieren. Ansonsten hätte das Ärger einbringen können. Sie hatten uns Beide sowieso schon auf dem Kiecker.
Wir waren in dieser Nachtschicht nur in den Umkleideraum gegangen, weil sie mit mir ihre Rolle üben wollte, die sie für ein Vorsprechen an der „Ernst Busch“ einstudiert hatte.
„Fame, der Weg zum Ruhm“, der damals gerade in die Kinos gekommen war, war ein Film, der jedem klarmachte, dass er unbedingt auf die Bühne muss. Auch Leute, die weder singen noch tanzen noch irgendetwas konnten, entdeckten plötzlich Ambitionen in sich. Bei diesem Film bildeten sich vor dem Kino Kosmos lange Schlangen, und er war wochenlang ausverkauft. Ein Junge hinter mir in der Schlange erzählte, dass er sich den Film schon zum achten Mal ansah. Wie kommt es bloß, dass die jungen Schauspieler aus dem Film keine Filmstars geworden sind, bei dem riesengroßen Erfolg, den der Film hatte?
Sally hatte viermal hintereinander „Fame - der Weg zum Ruhm“ im Kino gesehen, und war so begeistert, dass sie sich sofort bei der Schauspielschule bewarb.
Ich sitze auf der Holzbank im Umkleideraum vor den Spinden aus grauem Blech, und lese aus dem Reclamheft laut vor: „Er sagt, sie trinken den ganzen Tag und auf seine Kosten.“
Sally, die mir gegenübersitzt: „Gegen so billige Verleumdungen verteidige ich mich nicht. Warum sehen sie mich so an?“
Ich: „Es ist dunkel hier.“
Sally: „Die Dunkelheit tut meinen Augen wohl.“
Ich: „Ich habe sie nie bei Licht gesehen. … Ich habe gewusst, dass sie nicht mehr 16 sind, aber ich war dumm genug zu glauben, dass sie aufrichtig sind.
Sally: „Wer sagt, dass ich es nicht bin?“
Solche Probleme wie Blanche in „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Wiliams hatte Sally nicht. Sie war erst neunzehn und außerdem bildschön. Ihre Schauspielerei konnte ich nicht beurteilen, aber vielleicht konnte sie mit ihrer Schönheit punkten.
Wir Beide hatten uns angefreundet, als sie uns Beide zum Broteabnehmen in der Bäckerei einteilten. Wir standen im Lager, am Ende des Bandes, das aus dem Ofen rauskam, nahmen mit Handschuhen die heißen Brote und legten sie auf Wagen.
Eine halbe Stunde musste man knüppeln, dann hatte man eine halbe Stunde frei und der Andere übernahm.
Eigentlich galt das als Strafarbeit, aber ich musste mich zusammenreißen, um mir meine Freude nicht anmerken zulassen, als der Brigadier mich von meinem Arbeitsplatz in unser Abteilung wegholte und in die Bäckerei schickte. Wenn er gemerkt hätte, welchen Gefallen er mir damit tat, hätte er es sich vielleicht wieder anders überlegt.
Endlich entrann ich meinen Arbeitskollegen, wo ich in der Hierarchie die unterste Stellung einnahm und kräftig gemobbt wurde.
Nach einer Weile trudelte auch Sally ein, die neu bei uns war, und wir wechselten uns bei der Arbeit ab. „Wo läufst du immer in der Pause hin?“ fragte sie mich. Ich gehe in den Umkleideraum und lese.“ antwortete ich.
Ich hatte nämlich mitbekommen, dass es nicht gut ankam, wenn man im Pausenraum oder in der Kantine las. Deshalb zog ich mich dazu immer in die Umkleide zurück. „Welches Buch liest du denn?“ Ich gab es ihr, überzeugt, dass es sie nicht interessieren würde.
Ich hatte es am Zeitungskiosk auf dem S-Bahnsteig gekauft, obwohl ich die Schriftstellerin kannte und nichts von ihr hielt. Wir mussten andauernd was von ihr in der Schule lesen, und ihre Sachen hatten mich immer angeödet, obwohl ich zu meiner Schande gestehen muss, dass ich meinen Abschlussaufsatz über ein Buch von ihr geschrieben habe.
Es gab auch ein freies Thema, aber wir alle wussten, wenn man das Thema nahm, wo es um Pflichtlektüre ging, war man auf der sicheren Seite.
So log ich das Blaue vom Himmel runter, denn ich war der Meinung, um eine Eins in Deutsch zu bekommen, reichte es nicht aus, dass meine Hand immer sofort nach oben ging, wenn unser Deutschlehrer fragte, wer Theaterkarten haben will.
Das Verkaufen der Karten lag an unserer Schule in seiner Hand, und er merkte sich genau, wer regelmäßig ins Theater fuhr. So fuhr ich dann drei Jahre lang einmal im Monat mit den Anderen aus dem Lehrlingswohnheim unserer Berufsschule, wo ich eine landwirtschaftliche Ausbildung mit Abitur absolvierte, in die nächste Stadt und langweilte mich bei den Aufführungen immer grässlich und kämpfte nach der großen Pause mit dem Schlaf. So groß war das Kollektiv dort nicht, und so kannte man nach einer Weile schon alle Schauspieler.
Ich kann mich noch an Einen erinnern, der in sämtlichen Aufführungen mitspielte. „Er muss ein Workaholic sein, und das absolute Gedächtnis besitzen.“ dachte ich bei mir.
Und jetzt zog es Sally also auch zum Theater.
Nie habe ich eine Aufführung gesehen, die mir gefiel, aber ich hielt durch wegen meiner Deutschzensur.
Das machte sich auch bei meiner mündlichen Prüfung bezahlt, wo ich mit Antigone, ein Stück von Goethe, geprüft wurde, die ich gründlich gehasst habe, aber trotzdem eine Eins erhielt. Aber scheinbar war es mir nicht gelungen, den Anderen aus der Prüfungskommision erfolgreich weis zu machen, dass ich mit Antigone etwas anfangen konnte. Sie berieten sich, und mein Deutschlehrer sprach ein Machtwort zu meinen Gunsten, obwohl er mir natürlich auch nicht glaubte, dass Antigone mir was war.
Ich frage mich manchmal, ob ein Schriftsteller nicht verbieten sollte, dass seine Sachen in der Schule gelesen werden. Selbst ich, die eine Leseratte war, hasste das Meiste der Schullektüre. Dort gab es nichts, was mit meinem Leben etwas zu tun hatte. In der Dorfbibliothek forschte ich immer nach Büchern von Autoren, deren Namen englisch bzw. amerikanisch klangen. Dort fand ich eher was, womit ich was anfangen konnte. Aber sowas lasen wir in der Schule nicht.
Auch Lateinamerikaner waren nicht zu verachten, dort gab es sehr eindeutige Liebesszenen. Das war das Thema, das uns damals am meisten interessierte.
Meine Aufklärung, meine Mutter hielt sich völlig raus aus diesem Thema, habe ich dem brasilianischen Autor Jorge Amado zu verdanken. Durch seinen Roman "Dona Flor und ihre beiden Ehemänner" wurde ich in die Welt der körperlichen Liebe eingeführt. Der erste Ehemann von ihr ist ein Luftikus, der jede Nacht im Cachacarausch zu Sambarythmen tanzt und fällt plötzlich tot beim Tanzen um. Der zweite Mann ist ihr ein bisschen zu langweilig. Sie fleht die Götter an, ihr ihren ersten Mann zurückzuschicken. Ihr Wunsch wird erhört, und sein Geist besucht sie jede Nacht.
Die Verfasserin des Buches*, das Sally und ich in den Pausen in der Brotfabrik lasen, war eine Staatsschriftstellerin und hielt andauernd mit tragischer Stimme Reden im Fernsehen auf Parteitagen. Mit ihrem schneeweißen Haarknoten machte sie auf Arbeiterin, aber war eine Intellektuelle aus bürgerlichem Hause. Aber ehe ich gar nichts zu lesen hatte, denn am Zeitungskiosk auf dem Bahnsteig, wo ich immer auf die S-Bahn wartete, gab es an diesem Tag nichts anderes an Büchern zu kaufen, versuchte ich es einmal mit diesem Werk von ihr. Ich staunte Bauklötzer, und änderte völlig meine Meinung über sie.
Einmal lernte ich jemand kennen, der aus ihrer Heimatstadt, einer Stadt im Süden Westdeutschlands, war, eine Gegend, in der die Leute merkwürdigerweise zu Apfelwein Most sagen und auch reichlich davon tranken, wie ich erstaunt aus einem Buch der Schriftstellerin, das wir in der Schule lesen mussten, erfuhr. Ich fragte ihn nach ihr. „Bei uns mögen die Leute sie nicht so besonders.“
Er erzählte, dass seine Familie einen Weinberg besitzt, „Natürlich nur so nebenbei.“ Er, ein anziehender Typ, war übrigens ein Mann, der für die Liebe lebte. Er betete seine Freundin an, was ja nicht so oft vorkommt. „Wenn sie ihn verlässt“, dachte ich über den Landsmann der Schriftstellerin, „müssen seine Kumpels einen Kranz kaufen.
Warum verknallt sich nicht mal Einer so in mich?“ fragte ich mich. „Aber dann habe ich ihn auf dem Gewissen, und das muss nicht sein.“
Wider Erwarten zog das Buch mich in seinen Bann, und ich konnte gar nicht erwarten, das meine halbe Stunde Brotabnehmen, eine körperlich schwere Arbeit, die uns aber damals nichts ausmachte, vorbei war, und ich endlich erfuhr, wie es weitergeht.
Die Schriftstellerin hatte bessere Zeiten gesehen. Irgendwann, lange bevor sie eine weißhaarige, weise Frau geworden war, die immer auf Schriftstellerkongressen schlaue Reden hielt, musste sie im Berlin der Zwanziger und Dreißigerjahre, in der Zeit bevor die Nazis an die Macht kamen, mal im Romanischen Café an der Gedächtniskirche, über das ich schon so viel gelesen habe, und das ich auch gerne kennengelernt hätte, oder in ähnlichen Künstlertreffs aus- und eingegangen sein und mit ihren Freunden gefeiert haben, und eine völlig Andere gewesen sein.
Heute denke ich manchmal, dass sie, die verheiratet war und Kinder hatte, vielleicht irgendwie rüber bringen wollte, dass Frauen ihr auch was sein könnten, jedenfalls könnte man auf diesen Gedanken kommen, wenn man liest, wie sie über die schöne Marie schreibt.
Wieder Erwarten wurde Sally auch von dem Buch angefixt, und wir wechselten uns mit Lesen ab, je nachdem wer gerade Pause hatte. Wir waren beide einer Meinung darüber, dass die Schriftstellerin den traurigen Mann, dessen Manuskripte der Ich-Erzähler im Koffer mit sich rumtrug, geliebt haben musste, auch wenn sie es nicht zugab.
Durch Zufall fand ich heraus, wer er ist. Es handelt sich um einen jüdischen Schriftsteller**, der sich 1940 in Paris, dorthin war auch die Schriftstellerin geflüchtet, mit Gift das Leben nahm. Aber auch seine Bücher, die er vorher in Berlin geschrieben hat, sind sehr düster, auch seine Autobiografie.
Vielleicht ahnte er ja schon etwas. Er hatte es nie leichtgehabt, und jetzt, wo er nicht mehr jung war, wollten ihn seine eigenen Landsleute auch noch unbedingt umbringen, und verfolgten ihn sogar bis nach Paris, ohne dass er wusste, was sie gegen ihn hatten.
Ich fand Sallys Bildungshunger, mit dem sie sich auf Bücher stürzte, denn bisher hatte sie wenig gelesen, total rührend. Sie lernte sogar nebenbei noch ungarisch, weil sie sich irgendwann mal in einen Ungarn verliebt hatte.
Ich verstand, dass Sally hier weg wollte. Die hübsche, offene, intelligente Sally wurde hier genauso gehasst wie ich, die es wirklich nicht leicht hatte. Manche bezeichneten sie als verrückt, ich aber fand, dass sie die einzige Normale in unserer Abteilung war.
Ihre Lage erleichterte es auch nicht wirklich, dass sie sich mit mir solidarisierte. Ich stellte wohl das ideale Opfer dar. Eine wohlmeinende Kollegin sagte einmal zu mir: „Du wirkst auf Andere verträumt.“
Als ich mich einmal in der Nachtschicht zu den Anderen in der Kantine an den Tisch setzen wollte, sagte „meine Feindin“, eine Kollegin, die, aus mir unerfindlichen Gründen, tiefe Abneigung gegen mich gefasst hatte: „Hier ist alles schon besetzt.“ was natürlich nicht stimmte. Die Anderen sagten nichts dazu.
Achselzuckend nahm ich meinen Teller und setzte mich einen Tisch weiter. Ich legte gar keinen Wert darauf, mit den Anderen zusammen zu sitzen, und mir ihr langweiliges Gequatsche anzuhören, aber es war so üblich, dass in der Kantine die einzelnen Abteilungen zusammen saßen. Die Schlosser kuckten schon rüber. Sie mussten nicht mitkriegen, dass ich gemobbt wurde. Besonders vor einem schwarzlockigen Schlosser wollte ich gut dastehen.
Plötzlich stand Sally auf und setzte sich mit an meinen Tisch. Das war zwar eine generöse Geste von ihr, aber mir irgendwie peinlich. „Mach dir nichts draus, die sind alle doof hier.“ tröstete sie mich.
Aber eigentlich hatte Sally nicht recht. Es waren nicht alle so. Sie trauten sich bloß nicht, was zu sagen, weil sie Angst hatten, dass es dann gegen sie ging. "Du musst hier weg.", riet mir öfter jemand. Aber ich wohnte im Wohnheim.
Ab da saßen wir immer zusammen, wir beiden Geächteten.
Denn auch Sally hatte ihrerseits „einen Feind“. Er war Meister in der Teigzubereitung, wo sie arbeitete. Er hasste sie, und machte ihr das Leben zur Hölle.
Einmal, nach einer besonders beschissenen Nachtschicht, in er sie wieder heftig schikaniert hatte, fiel sie mir in der U-Bahn weinend um den Hals. Plötzlich wurde mir klar, dass ich sie liebte.
Ich hatte irgendwo mal gelesen, dass jeder Mensch von seiner Veranlagung her bisexuell ist. Das hatte ich damals nicht geglaubt, merkte jetzt aber, dass da was dran war. Seitdem hatte ich nie wieder so eine Empfindung.
Jahre später ist mir mal aufgegangen, dass es nicht die ältere Frau am schwersten hat, sondern dass es das junge Mädchen ist, dass am meisten von der Gesellschaft in die Zange genommen wird.
Eine andere Freundin aus dem Arbeiterwohnheim, sie war auch neunzehn wie Sally, mit der ich in einem Zimmer wohnte, kam eines Tage verfrüht aus der Nachtschicht, mit einem ausgekugelten Arm. Ihr Brigadier, der sie schon monatelang drangsalierte, hatte sie nach einem Wortwechsel gegen eine Palette Drahtkörbe geschubst, und sie war hingefallen.
Sie konnte den Arbeitsplatz wechseln, aber der Meister blieb und ihre Kollegen sagten auch nichts dazu. Betriebsräte und Gewerkschaftsbewegung, sowas gab es nicht im Osten.
Im Gegensatz zu mir, besaß Sally einen Facharbeiter. Warum man für unsere Arbeit einen Facharbeiter brauchte, war mir schleierhaft. Dafür waren weder Kenntnisse noch Fähigkeiten nötig.
Die jungen Arbeiter, mit denen ich mich öfter unterhielt, hatten sage und schreibe nur vierzehn Tage in einer Backstube zugebracht, ansonsten wurden sie als Lehrlinge gleich in der Fabrik eingesetzt. Manchmal flochten sie aus Zwiebackteig einen Zopf, wie sie es gelernt hatten, und schickten ihn durch den Ofen.
Das war aber auch das Einzige, was sie konnten, einen Kuchen zu backen, hätte sie schon überfordert. Aber immerhin bekam Sally, als „Gelernte“ deutlich mehr Geld als ich, ungefähr die Hälfte mehr.
Sally, die, wie ich, im Arbeiterwohnheim wohnte, kannte aus ihrer Heimatstadt eine Freundin, die hier in Berlin eine Wohnung besetzt hatte. Sie war zu ihrem Freund gezogen war, und Sally konnte die Wohnung übernehmen. Das war natürlich illegal. Sie schlug mir vor, mit ihr zusammen dort einzuziehen, aber nach einer Weile erwähnte sie das nicht mehr. Ich war ihr auch nicht böse deswegen. Wahrscheinlich war das mal wieder so ein spontaner Einfall von ihr gewesen.
Sie kündigte bei uns und fand einen anderen Job. Mit der Schauspielschule war es ja leider nichts geworden, aber sie lernte eine Schauspielerin kennen, und nahm bei ihr Unterricht.
Zweimal hatte ich versucht, sie an ihrer neuen Arbeitsstelle zu besuchen, aber sie war gerade nicht da. Dabei fiel mir auf, dass Sally polarisierte. Die eine Besatzung am Empfang des Hotels, wo sie jetzt arbeitete, hasste sie und setzte einen eisigen Gesichtsausdruck auf, als ich ihren Namen nannte, die andere Schicht dagegen liebte sie. Der Mann und die Frau bekamen leuchtende Augen, als ich nach Sally fragte.
Irgendwie hatte Sally sich wohl übernommen. Sie hatte keinen Mietvertrag und die Polizei hatte nach ihr gefragt. Der Mann, mit dem sie eine Beziehung hatte, war verheiratet und hatte ein Kind. Ich hatte sie immer für eine starke Frau gehalten. Da hatte ich sie wohl überschätzt.
„Da ist ein Zettel für dich.“ sagten die Anderen aus dem Arbeiterwohnheim zu mir. „Komme bitte schnell vorbei. Sally“ stand auf dem Papier.
Ich ging zu ihrer Arbeitsstelle und erschrak mich. Was war geschehen. Sally sah wachsbleich aus, hatte blaue Lippen und verklebte Haare. Sie erzählte mir, dass sie vergewaltigt worden war. Jemand war in ihre Wohnung eingedrungen, die wohl nicht ausreichend gesichert war. Danach hatte sie einen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten unternommen. Sie kam gerade aus dem Krankenhaus, wo man ihr den Magen auspumpte. „Kannst du mir die Haare kämen?“ Ich kämmte ihre Haare durch und flocht ihr einen Zopf. Merkwürdigerweise war sie noch nie so schön gewesen. Das war unser letztes Gespräch.
Manchmal joggte ich nach der Spätschicht noch an dem dunklen Koloss der Volksbühne entlang und am Kino Babylon, das schon hundert Jahre alt ist, und in dessen Schaukästen, hinter Glas, Fotos von den Filmen hängen, die gerade hier gespielt werden. Herbstblätter umflattern beim Laufen meine Füße. In dem Viertel, nahe bei unserem Arbeiterwohnheim, haben vor 33 die Ostjuden gewohnt. Ich liebte diese Ecke, wo ich um diese späte Stunde, nach Mitternacht, meist niemandem mehr begegne.
Mir geht durch den Kopf, dass Sally, wenn sie auf den Brettern steht, die die Welt bedeuten, bestimmt interessantere Leute trifft, und dann kennt sie mich nicht mehr.
Das mit der Bühnenkarriere wurde zwar nichts, aber das mit dem Nichtmehrkennen kam schneller, als ich dachte. Ich sah sie noch einige Male, aber sie erwiderte meinen Gruß nicht mehr, genauso wie ich befürchtet hatte. Unsere Wege hatten sich getrennt. Bei einem Konzert stand sie mit den Musikern zusammen. Sie war wohl jetzt ein Groupie geworden.
Ich nahm es ihr nicht übel. Wir beide haben uns wohl wechselseitig im Stich gelassen. Vielleicht hätte ich mich damals mehr um sie kümmern müssen, aber ich war selber tief in Schwierigkeiten verstrickt, und sie hatte mich auch hängen lassen bei der Wohnung.
Unsere gemeinsame Zeit in der Brotfabrik liegt schon eine ganze Weile zurück. Aber vor kurzem habe ich mal ihre Tochter in einem Spielfilm gesehen. Ihr ist das gelungen, wovon ihre Mutter immer geträumt hat. Sie sieht Sally sehr ähnlich, aber sie reicht nicht annähernd an sie heran, was Schönheit anbelangt. Der Vater von ihrer Tochter ist ein bekannter Schauspieler, mit dem sie mal eine Weile zusammen war.
PS: Auch die Sally aus dem Roman von Christopher Isherwood, nach dem der Film gedreht wurde, war ziemlich treulos, und ließ ihren schwulen Kumpel einfach im Stich, und löste sich in Luft auf. Es soll sich übrigens um eine wahre Begebenheit handeln.
* Anna Seghers „Transit“
** Ernst Weiß