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Es ist vollbracht
Sommer. Ein feuchter Film auf der Haut, trotz der dicken Mauern des Gebäudes. Nur noch drei Stunden, dann sind Ferien. Große Ferien, besonders für mich. Ich räuspere mich, bevor ich das Lehrerzimmer betrete, doch es gibt keinen Grund, nervös zu sein. Sie springen nicht hinter dem Sofa hervor und rufen: „Überraschung!“ Die anderen Lehrer leben ein anderes Leben, in einem anderen Rhythmus. Da ist ihnen der Abschiedstag eines Kollegen nicht so wichtig.
Trotzdem habe ich für jetzt Kuchen und belegte Brötchen bestellt. In der zweiten und dritten Stunde haben einige Freistunden; da können sie noch einmal richtig zulangen. Auch ich greife zu: ein Lachs-Canapée, dazu einen Kaffee. Den Sekt lasse ich unberührt im Kühlfach.
Simon klopft mir freundschaftlich auf die Schulter. „Thomas, jetzt haben Sie es ja fast geschafft!“
„Ja, die letzten Stunden ...“ Ich lächele und hoffe, dass ihm meine Dankbarkeit nicht auffällt.
„Und? Große Pläne für die Zeit danach?“
„Endlich Zeit für den Garten. Meine Rosen, der Teich ... Da ist immer was zu tun.“ Ich strahle und glaube ihm den Neid.“
„Endlich Zeit, ja?“
„Na, so lange dauert es bei Ihnen doch auch nicht mehr!“
Nur eine Mikrobewegung lang Bestürzung, dann steht seine joviale Fassade wieder.
Ich habe nie zu den Lehrpersonen gehört, die ihre Tage in der Schule zählen. Andererseits freue ich mich auf meine freie Zeit. Ich werde mich bestimmt nicht langweilen, habe schon eine neue Astschere gekauft und Pläne für die Umgestaltung gemacht. Trotzdem, ein Teil meines Lebens geht zu Ende, unwiderruflich, ist vorbei. Und wie viel Zeit bleibt? Wie viele Möglichkeiten, mich zu entscheiden? Das hat Fanni immer gesagt. Jahrelang habe ich nicht an sie gedacht. Warum fällt sie mir jetzt ein, heute?
Es war auch im Sommer, vor zehn Jahren. Wir hatten wie immer vorgehabt, unseren Urlaub in Schaffhausen zu verbringen. Nur diesmal war sie dagegen.
„Es muss doch noch etwas anderes geben!“, hatte sie geklagt.
„Aber du liebst doch den Fall. Was hast du geschwärmt von der Wucht der Wassermassen, dieser Kraft ...“
„Das war vor zwanzig Jahren. Das brauche ich nicht jedes Jahr wieder.“
„Aber ... w-was willst du dann?“ Ein leichtes Stottern.
„Etwas anderes, neues. Kreativ sein. Überraschungen.“ Sie kam ganz nah, blickte mir direkt ins Gesicht. „Wo soll dein Leben noch hingehen?“
„Na, die Schule ... Wenn ich pensioniert bin ...“
„Hach!“ Sie hatte sich unwirsch umgedreht, und ich hatte Angst, sie enttäuscht zu haben. Dass ich eine Warnung überhört hatte, erkannte ich erst später.
Ich seufze. Jetzt ist sie bestimmt schon seit sieben Jahren mit ihrem neuen Mann verheiratet.
Meine Augen werden feucht. Das doch nicht jetzt! Wenn mich jemand anspricht? Ich flüchte in das Nebenzimmer, in dem Unterrichtsmaterialien gelagert sind. Muffige Luft empfängt mich, Staubteilchen tanzen im Sonnenschein. Verstohlen schleiche ich durch den Raum, beachte die Gegenstände kaum: das Sonnenmodell mit den Bahnen der Planeten, das Bord mit den Philosophiebüchern des Kollegen Arthur, das Aquarium ... Es ist dicht mit Algen bewachsen, und ich frage mich, wer sich in den Ferien darum kümmern wird.
„Nicht meine Aufgabe“, versuche ich mich selbst zu disziplinieren, bevor die Gedanken wieder rasen auf der Suche nach einer Lösung. Da sehe ich einen Fisch neben dem Behälter liegen, ganz platt, schon ausgetrocknet. „Wieder ein Springer“, murmele ich und rücke die Abdeckung zurück, die die Fische sicher im Glas halten soll. Den kann ich doch nicht so liegen lassen. Ich zupfe ein Papiertaschentuch aus meiner Hose und nehme damit das Tierchen auf, befördere es vor den Augen der anderen in den Abfalleimer des Lehrerzimmers.
„Ach so, ja, das Aquarium ...“, erinnert Simon die Kollegen.
„Alles geregelt, nehme ich mit!“ Benjamin ist einer der jungen Pädagogen.
Damals, bei der Geschichte mit Thomas Adam hatte er sich als patent erwiesen. Der ehemalige Musterschüler war als Fünfzehnjähriger notenmäßig in fast allen Fächern abgerutscht, und er fiel immer wieder durch provokantes Verhalten auch den Lehrkräften gegenüber auf. Als er dann mitten im Unterricht seinen MP3-Player auf laut stellte, sich eine Clownsmaske aufsetzte und den Text von „Dead Body Man „ mitgrölte, gab es eine Klassenkonferenz.
„Dead Bodies, dead bodies in the street,
55 to 65 bodies at least …
Dead bodies, dead bodies in the back of my van,
All the kiddies love the dead body man …”
Hatten wir einen zukünftigen Amokläufer unter uns?
Zu unserem Erstaunen erklärte sich der verstockte Junge bereit zu einem Spaziergang mit Benjamin, und beide verschwanden in seinem Ford Ka. Zwei Stunden später kamen sie zurück, und der Schüler wirkte wesentlich gelöster. Probleme gab es von da ab nicht mehr.
„Wie haben Sie das angestellt?“, fragte ich ein paar Tage später.
„Der Junge brauchte nur mal jemandem zum reden.“ Ben schüttelte den Kopf. „Er war seinem christlichen Kinderglauben entwachsen, und er wollte mit seinen Fragen nicht die Eltern traurig machen.“
„Der ungläubige Thomas?“ Ich grinste. „Kommt mir bekannt vor.“
„Ach so, ja, derselbe Name ...“ Ben lachte. „Eher gottverlassen.“
Ich starre die Uhr an der Wand an und versuche, die Zeiger mit der Kraft meiner Gedanken zu bewegen, wie ein Schüler. Na, zumindest klingelt die Glocke die dritte Stunde ein. Noch eine Freistunde für mich, bevor ich die Zeugnisse ausgeben kann.
Ich ordne die Unterlagen alphabetisch in einer Mappe, beginnend mit "Christian Adam". Der kleine Bruder, klar. Noch verfolgt er alles mit großen Augen, doch wie wird er mal rebellieren, wenn sein Verstand dem Glauben davonläuft? Welche Möglichkeit hat er, wenn sein Name schon die Religionszugehörigkeit verrät? Oder wird er sich einmal nur noch „Chris“ rufen lassen, mit dem keltischen Wort für Tannenreisig?
Ben und sein Kollege Richard sind mal wieder in einer hitzigen Diskussion verstrickt. Nebenbei stopfen sie sich Kuchen in den Mund.
„Was kann ein Organismus denn tun, um das Überleben seiner Nachkommen in einer sich verändernden Welt sicherzustellen?“ Richard schwenkt die Arme in einer großen Geste. „Ihnen einen Bauplan mitgeben! Also die DNS! Das ist doch plausibel!“
„Ja, das Bewährte bewahrend und offen genug für Veränderungen. Doch bevor du meinst, gesiegt zu haben, erkläre mir doch mal Folgendes: Wozu sollte er überleben wollen? Wozu soll nach diesem Modell das Leben gut sein?“
Richard kaut noch, vermischt seinen Nahrungsbrei mit etwas Kaffee. Sobald er die Anstandsgrenze erreicht hat, bei der die Worte trotz Kuchen im Mund verständlich zu hören sind, platzt er heraus: “Die völlig falsche Frage! Das ist ja wieder von einem Bewusstsein aus gedacht!“
Jetzt ist Ben noch mit Kauen beschäftigt, und Richard führt weiter aus: „Überleben wollen liegt in unseren Genen. Das hat uns am Leben gehalten wie Lust auf Essen und Trinken, Schlaf und Sex. Wenn wir das nicht hätten, gäbe es uns nicht.“
Während Ben noch nachdenklich kaut, fügt er hinzu: „ Oder besser: Die Wesen ohne das gibt es nicht mehr!“
„Kein Sinn? Kein Zweck?“ fragt Ben nach. „Alles nur Zufall?“
Die Schulglocke läutet die vierte Stunde ein, so dass ich seine Erwiderung nicht mehr verstehen kann.
Ich greife die Zeugnismappe und mache mich auf den Weg in die 5a. Ich werde nie wieder vor einer Klasse stehen, muss das Schicksal der Schüler und der kommenden Generationen den anderen überlassen. Was hätte ich damals in dem Alter von einem Lehrer erhofft? Hätte er mich mit Worten vorbereiten können auf die Ferien, als mein Bruder den Unfall hatte? War es nicht erst die kühle Nische mit dem aufgebahrten Leichnam, meine Hand an seiner Seite, die mich begreifen ließ?
Als ich vor der Tür stehe, räuspere ich mich. Wenn ich gleich wieder herauskomme, ist alles vollbracht. Nur noch diese Stunde jetzt, dann wird es vorüber sein.