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Es regnet immer noch
Es war Nacht geworden. Es regnete. Ihr Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, jetzt wieder zurück nach Hause zu müssen. Es war ein so schöner Abend gewesen. Er durfte nicht einfach so enden.
Sie waren nur wenige Schritte vom Eingang entfernt. In der Wohnstube brannte Licht. Dort saß die Mutter über einer Näharbeit. Die Mutter mit ihren traurigen Augen und ihrer leisen, kaum hörbaren Stimme. Der Vater las die Zeitung vermutlich schon zum zwanzigsten Mal. Er trug noch immer seine Uniform, obwohl der Krieg schon lange vorbei war. Ihre ahnungslosen Eltern, die wahrscheinlich bereits ungeduldig auf die Uhr blickten.
Sie sah ihrer Begleiterin in die Augen. Diese Augen - wunderschön, rehbraun. Große, freundliche, rehbraune Augen. Eine kleine, zierliche Nase. Volle, rote Lippen mit unbeschreiblicher Anziehungskraft. Sie hatte noch nie so empfunden. Sie brannte, begehrte, während die Schuld sie zur gleichen Zeit innerlich zerfraß. Sie war ein anständiges Mädchen. Der Gedanke an die Eltern erstickte sie. Sie erstickte den Gedanken. Volle, rote Lippen erstickten den Gedanken.
Sie versank, ertrank im süßen Kuss der Freundin. Sie spürte den Regen auf ihrer brennenden Haut, ließ ihn wehrlos jeden Zweifel von ihrer Seele spülen. Sie fühlte sich frei, genoss diese nie gekannte Freiheit. Für einen Augenblick nur war es, als hätten die Ketten, welche ihr die Nabelschnur ersetzten, niemals existiert. Sie trank, trank bis zur Erschöpfung, kostete alles aus - bis eine dunkle Ahnung sie in die Wirklichkeit zurückholte.
Sie öffnete langsam die Augen, spürte den Regen, sah das vom Schein des Kamins erleuchtete Fenster. Die gebrochene Mutter, der hölzerne Vater. Sie fühlte ihre Blicke, die sich ihr wie ein Messer in den Rücken bohrten. Sie hatten alles gesehen.